StartseiteBuchkritiken und Tipps»Deutschstunde« im Kino: Barockes Drama für den Deutschunterricht

»Deutschstunde« im Kino: Barockes Drama für den Deutschunterricht

Ulrich Noethen (links) und Tobias Moretti in der Neuverfilmung des Bestsellers »Deutschstunde« von Siegfried Lenz (Foto: Wild Bunch/Georges Pauly)
Ulrich Noethen (links) und Tobias Moretti in der Neuverfilmung des Bestsellers »Deutschstunde« von Siegfried Lenz (Foto: Wild Bunch/Georges Pauly)

1968 war »Deutschstunde« von Siegfried Lenz ein Bestseller. Über 50 Jahre später ist das Werk ein Klassiker, der ab dem 3. Oktober 2019 mit Ulrich Noethen und Tobias Moretti neu verfilmt ins Kino kommt. Und wieder einmal muss man sich fragen: Warum eine Neuverfilmung?

Viele haben den Roman »Deutschstunde« gelesen, weil das 500-Seiten-Werk bei Eltern oder Großeltern im Bücherregal stand. Einige haben den Roman von Siegfried Lenz sogar im Schulunterricht behandelt.

Die Freuden der Pflicht

Die Rahmenhandlung des Romans ist unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche auf einer Insel in der Elbe angesiedelt. »Die Freuden der Pflicht« lautet das Aufsatzthema, das der Lehrer an die Tafel schreibt. Der Schüler Siggi Jepsen gibt am Ende der Stunde ein leeres Heft ab. Allerdings nicht, weil ihm zum Thema nichts eingefallen wäre, sondern eher zu viel. Er wird in seinem Zimmer eingesperrt und soll das Thema nochmals angehen. Und Siggi schreibt und schreibt und schreibt und bittet sogar darum, noch länger im Zimmer bleiben zu dürfen. Er schreibt die Geschichte seiner Kindheit in den Kriegstagen auf, als sein Vater Jens Ole Jepsen Polizist im einsamsten und nördlichsten Polizeiposten Deutschlands war. Sein Vater muss einem ortsansässigen Maler und Freund die Nachricht überbringen, dass »in Berlin« ein Malverbot gegen ihn ausgesprochen wurde. Und Siggis Vater muss die Einhaltung überwachen. Jens Ole Jepsen will seinen Sohn für diesen Auftrag mit einspannen, doch der schlägt sich auf die Seite des Malers.

Schreibt die Geschichte seiner Kindheit auf: Tom Gronau in der Rolle des jugendlichen Siggi Jepsen (Foto: Wild Bunch/Georges Pauly)
Schreibt die Geschichte seiner Kindheit auf: Tom Gronau in der Rolle des jugendlichen Siggi Jepsen (Foto: Wild Bunch/Georges Pauly)

Siegfried Lenz zeigt an der Figur des Jens Ole Jepsen, dass es nicht nur die großen Verbrecher waren, die das Nazi-Regime gestützt haben, sondern vor allem diejenigen, die nur ihre Pflicht erfüllt haben, ohne dies zu hinterfragen.

Deutschstunde und Emil Nolde

Die Figur des Malers hat Lenz an Emil Nolde angelehnt. Dies betrifft die Ähnlichkeit einiger geschilderter Gemälde, der Maler trägt zudem den Namen Max Ludwig Nansen. Nolde wiederum hieß mit Geburtsnamen Hansen. Tatsächlich wurden die Bilder des Expressionisten Nolde von den Nazis als »entartet« bezeichnet und durften nicht mehr verkauft werden. Doch anders als Nansen im Roman war Nolde alles andere als ein Gegner der Nazis. Nolde sympathisierte mit den Faschisten, war Parteimitglied und galt als Antisemit.

Dem Roman »Deutschstunde« wurde daher erst unlängst vorgeworfen, er habe zur Verklärung der Person Noldes beigetragen. Beim Schreiben des Romans soll Lenz die vollständige Biografie und Haltung Noldes nicht bekannt gewesen sein.

Tobias Moretti als Maler Max Ludwig Nansen (mit Sonja Richter/Foto: Wild Bunch/Georges Pauly)
Tobias Moretti als Maler Max Ludwig Nansen (mit Sonja Richter/Foto: Wild Bunch/Georges Pauly)

Dennoch ist klar: In »Deutschstunde« geht es nicht um das Leben Emil Noldes, es ist kein Schlüsselroman, und ein Roman ist eine Fiktion, Romanfiguren sind nicht mit realen Personen zu verwechseln, zumal die Lebensumstände der Romanfigur Nansen ganz andere sind als die des Malers Emil Nolde.

Dennoch distanzieren sich das Filmteam und der Regisseur Christian Schwochow (Bad Banks, Paula) mit der Neuverfilmung der Deutschstunde deutlich von Nolde. »Es geht für mich in der Deutschstunde nicht um Nolde«, sagt Schwochow. »Mich hat die universelle Geschichte interessiert und der große archaische Konflikt zwischen diesen beiden Freunden und dem Jungen in der Mitte.« So war zum Beispiel klar, dass die im Film gezeigten Gemälde nicht an die Bilder Noldes erinnern sollten.

Barock und Romantik statt Expressionismus

Mit Ulrich Noethen als pflichtbesessener Polizist und Tobias Moretti als Maler in den Hauptrollen hat Christian Schwochow (*1978) den Roman nach einem Drehbuch seiner Mutter Heide Schwochow (*1953) verfilmt. Levi Eisenblätter ist in der Rolle des jungen Siggi Jepsen zu sehen.

Viel Watt, wenig Mensch: Ulrich Noethen und Levi Eisenblätter (Foto: Wild Bunch/Georges Pauly)
Viel Watt, wenig Mensch: Ulrich Noethen und Levi Eisenblätter (Foto: Wild Bunch/Georges Pauly)

Tatsächlich ist es nicht der expressionistische Stil, der einem bei der Deutschstunde im Kino in den Sinn kommt, sondern eher Barock oder Romantik. Da werden weite Watt- und Dünenlandschaften gezeigt, in denen sich die Menschen als kleine Punkte verlieren. Da wurde die Geschichte des Romans mit toten Tieren versetzt, die im Film platziert sind wie in einem Stillleben: Tote Möwen, tote Mäuse, tote Fische und andere Totenschädel und Knochen trägt Siggi zusammen. Kargheit bestimmt den Film auch in den Dialogen. Die Lichtgestaltung ist melodramatisch zu nennen.

Viele tote Tiere im Film: Levi Eisenblätter als junger Siggi Jepsen (Foto: Wild Bunch/Georges Pauly)
Viele tote Tiere im Film: Levi Eisenblätter als junger Siggi Jepsen (Foto: Wild Bunch/Georges Pauly)

Ein Film muss das Buch komprimieren und so wurde bei den Nebenfiguren ausgedünnt, jedoch wurde auch den verbleibenden Figuren und Schauspielern kaum Handlungsspielraum gegeben. Noethen und Moretti stehen im Zentrum, doch selbst sie haben kaum Persönlichkeit und werden auf ihre Haltung reduziert. Die Statisten – egal ob bei Geburtstagsfeier oder Leichenschmaus – wirken künstlich und eingefroren, wenn sich die beiden Hauptdarsteller andialogisieren und in den zwei Stunden keinerlei Veränderung durchlaufen. So sehr Filmoptik, Set und Ausstattung landschaftlich dickes und perfektes Nordkolorit aufgetragen haben, so wenig findet es sich im Zungenschlag. Hier herrscht ein ähnliches Regionalverständnis wie in einem Tatort. Auch die Frauenfiguren (Johanna Wokalek als Ditte Nansen und Sonja Richter als Gudrun Jepsen) sind nur Beiwerk an der Seite ihrer Männer. Ist Gudrun Jepsen im Roman eine Sympathisantin der Nazis, bleibt sie im Film eine neutrale Gestalt, die gelegentlich einmal eine kleine Geste des Widerspruchs in Richtung ihres Mannes machen darf, und Ditte Nansen wirft sich in den Dreck für ihren Mann. Da hätte man sich bei einer Verfilmung im Jahre 2019 stärkere Frauenfiguren gewünscht. Und auch Jungschauspieler Levi Eisenblätter zeichnet sich überwiegend dadurch aus, dass er unheimlich intensiv schauen kann.

Frauen sind eher leidende Randfiguren: Johanna Wokalek als Ditte Nansen (Foto: Wild Bunch/Georges Pauly)
Frauen sind eher leidende Randfiguren: Johanna Wokalek als Ditte Nansen (Foto: Wild Bunch/Georges Pauly)

»Brauchbare Menschen müssen sich fügen.«

Kinoplakat »Deutschstunde« (Foto: Wild Bunch)
Kinoplakat »Deutschstunde« (Foto: Wild Bunch)

»Brauchbare Menschen müssen sich fügen. Aus dir machen wir was Brauchbares, wirst sehn«, sagt Jens Ole Jepsen im Buch und im Film zu seinem Sohn. Doch während Siegfried Lenz üppig erzählt, wird im Film alles auf Schwere, Bedeutung und landschaftliche Allegorie reduziert. Die Deutschstunde des Jahres 2019 ist eine ernste Angelegenheit. Vergleicht man sie mit der zweiteiligen TV-Verfilmung, die bereits 1971 erfolgte, drei Jahre nach Erscheinen des Romans, so wirkt diese im Vergleich fast leicht und von dieser Welt, während die aktuelle unwirklich überschnitzt ist. Zum Glück verzichtet die 2019er-Version – bis auf wenige Ausnahmen – auf die übliche Nazi-Folklore. Die flügellose Mühle im Roman wird im Film zu einem Anwesen, das einst von Juden bewohnt war. Offenbar will man deutlich machen, dass es um diese Nazis geht, die Schlimmeres gemacht haben, als Malverbote zu verhängen. Zum Glück bleibt diese Andeutung subtil und auf hebräische Schriftstücke beschränkt, sonst wäre die überdeutliche Geschichtspädagogik nicht auszuhalten gewesen.

Ein solider Film, ein perfekter Film, ein dramaturgisch einfacher Film, der leider leblos bleibt. Ein Film für die Deutschstunde, ein erzählerisch entbeinter Kern, wenn man das Buch nicht lesen mag.

Wolfgang Tischer

»Deutschstunde«. Deutschland 2019. Regie: Christian Schwochow. Drehbuch: Heide Schwochow nach dem Roman von Siegfried Lenz. Mit Levi Eisenblätter, Ulrich Noethen, Tobias Moretti, Maria Dragus, Johanna Wokalek, Sonja Richter u. a. Laufzeit: 125 Min. FSK12. Verleih Wild Bunch. Kinostart: 3. Oktober 2019

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1 Kommentar

  1. Wer den Film “Deutschstunde” leblos nennt, hat selbst wenig Einfühlungsvermögen. Wir waren zu viert im Kino gefesselt von der dichten und eindringlichen Erzählweise und der darstellerischen Leistung!

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