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Das Mööp – Ein fantastischer Seuchenbericht – Teil 5

Das Mööp (Zeichung: Holger Much)
Das Mööp (Zeichung: Holger Much)

Corona-Epidemie. Lockdown. Ein Autor sitzt daheim und schreibt an einem Horrorroman. Dann erhält er überraschenden Besuch. Oder wohnte dieses Wesen schon immer hier? Es ist das Mööp. Das literaturcafe.de präsentiert einen fantastischer Seuchenbericht in Fortsetzungen von David Gray. Teil 5.

Fortsetzung von Teil 4

Zeit: 28.03.2020
Ort: Homeoffice des Autors in sächsischer Metropolennähe

Drei Uhr morgens. Ich lese Zeitung.

Das ist das Problem mit dem Lockdown. Eine Menge Leute macht er nur rammdösig – Mich macht dieses Eingesperrtsein dauerschläfrig, sodass ich gestern schon vor zehn wie ein Stein ins Bett falle, dafür dann heute Morgen gegen 3 Uhr aufwache und putzmunter bin.

Klar, es gibt schlimmere Schicksale! Hemingway hat ja auch immer früh morgens geschrieben. Aber der Mann hat sich auch ein paar Mal zu oft mit Typen geprügelt, die jünger und besser waren als er. Das macht einfach was mit dem Hirn. Und ich finde, das merkt man Hemingways Spätwerk an.

In der Zeitung steht, dass Künstler in NYC den Lockdown brechen und in die Stadt hinausgehen, um dort Geräusche einzufangen. Also Vögelzwitschern auf dem Times Square statt Taxis, Banker, Straßenmusiker und Nutten? Wahrscheinlich kriegen die irgendwann dafür mal einen Kunstpreis. Rein historisch betrachtet ist Romantik nach Epidemien ja immer schwer in Mode.

Sebastian Balthasar Mööp atmet leise rasselnd in seiner Nestecke. Hm, so easy kann das für ihn auch nicht sein mit diesem Riesen-Rüssel. Gleich darauf bin ich sauer auf mich selbst. Ich werde offenbar allmählich weich und entwickle Verständnis für ihn. Gefährlich! Das muss so etwas wie ein umgekehrtes Stockholm-Syndrom sein.

Seit ein paar Tagen ist Facebook mit Fotos von Alkoholvorräten und den angeblich besten Cocktailrezepten geflutet. Mir ist klar, dass so ein Lockdown – psychologisch betrachtet – in mindestens drei Phasen verlaufen muss. Wie Trauer. Die erste ist Dumpfheit, die zweite Verleugnung, die dritte widerwillige Akzeptanz. Ich frage mich, welche Phase die Alkvorratfotos darstellen? Ist das schon der erste Schritt aus der Dumpfheit hinaus in die Verleugnungsphase?

Herr von B, der Kryptozoologe und weltbeste Fabelwesenexperte findet immer noch keine Spur von Mööp in seinem Archiv. Aktuell tendiert er dazu, ihn als ein einmaliges Phänomen zu betrachten, das sich keiner der bisher bekannten Spezies zuordnen lasse. Obwohl er die Möglichkeit auch nicht ausschließen wolle, dass es sich bei ihm um einen unterentwickelten Vertreter aus der Familie der Poltergeister handelt.

Wirklich nützlich sind seine Recherchen bisher also nicht. Denn dass Mööp mit dem Casper, dem freundlichen Hausgeist aus den Trickfilmen, verwandt sein sollte, halte ich für unmöglich.

Ich beschließe zu frühstücken, koche mir also Kaffee und drehe mir eine Kippe. Mein Verlag meldet sich so gar nicht, und das Büro meines Agenten hat sich offenbar in den Homeoffice-Modus begeben. Was bedeutet, da reagiert keiner auf meine Mails. Klar, die haben derzeit anderes zu tun als nachzuhaken, wo mein nächster Vorschuss bleibt. Dabei bin ich auf den ziemlich dringend angewiesen, so leerreich, wie es auf meinem Konto aussieht.

Es gibt aber auch Gutes zu berichten: Der Lifecoach, dem ich neulich einige Punks mit Farbbeuteln auf den Hals gehetzt habe, postet inzwischen altindische Weisheiten und scheint immer tiefer in die Esoterikschiene abzugleiten.

Ich betrachte das als Erfolg! Soll er seine Shows doch auf Zahnarzt-Ehefrauen mit Esoterikmeise ausrichten. Die neigen zwar zu Dramen, sind aber sicher auch eine Zielgruppe, der man neben Omas Lebensweisheiten auch noch ein paar polierte Kieselsteine und in Kinderarbeit hergestellte Dreamcatcher unterjubeln kann. In der Krise ist das ein tragfähigeres Geschäftsmodell als das »Play hard. Work hard«–Image, das der Typ zuvor vertreten hatte.

Wahrscheinlich habe ich dem Arschloch mit meiner Aktion sogar noch einen Gefallen erwiesen und ihn in eine noch lukrativere Richtung gedrängt. Mist!

Karma: Wir müssen wirklich mal reden. So geht das nicht weiter!

Ich spüre ein merkwürdiges Kribbeln im Nacken. Habe ich mir schon Ende März die ersten Stubenfliegen eingefangen? Ich wische über meinen Nacken.

Das Kribbeln bleibt.

Ich schaue mich um … und sehe: Mööp! Er hat sich nahezu geräuschlos aus seiner Nestecke hinter meinem Drucker erhoben und scheint jetzt schlafwandelnd durch meine Dachwohnung zu streifen. Oder ist er etwa auf Beutesuche? Verschafft mir meine Schlaflosigkeit endlich die Gelegenheit herauszufinden, wovon er sich ernährt?

Balthasar Sebastian Mööp tappelt auf seinen zehenlosen Plattfüßen an meinem Bücherregal für Enzyklopädien vorüber, weicht dabei gezielt meinem alten Sessel aus und scheint sich auf den Weg zum Badezimmer zu begeben. Interessant!

Einen halben Meter vor der Badtür bleibt er plötzlich stehen. Wendet er sich jetzt nach rechts, liegen da die Küche und der Kühlschrank, der, wie ich hervorheben will, aktuell recht dürftig gefüllt ist. Wendet er sich jedoch nach links, dann bewegt er sich auf meinen Schlafbereich und das große Bücherregal zu.

In diesem Moment nähme ich jede Wette an, dass er den Kühlschrank plündern wird … aber Sebastian Balthasar Mööp vollführt eine tapsige Wende und trippelt auf das große Bücherregal zu, das gerade außerhalb meines Sichtfeldes liegt!

Was tun? Mich erheben? Dabei womöglich Geräusche produzieren und Mööp aufschrecken? Oder weiter hier regungslos verharren und darauf hoffen, dass mein Zwangsuntermieter nicht gerade auf dem Weg zu meinem Bett ist, um dort hineinzupinkeln oder dessen kurze Stummelbeine anzunagen?

Leise, leise, vorsichtig, vorsichtig erhebe ich mich und schleiche ihm nach. Und sehe verblüfft, wie er aus dem Stand heraus ins zweite Regalfach meines Bücherschranks springt. Dort senkt er den Kopf.

Hm, was sollte DAS denn? Nein! Er verbeugt sich ja gar nicht, sondern legt den Rüssel auf das staubige Regalbrett und – beginnt leise rasselnd – zu saugen! Jetzt richtet er sich wieder auf, legt den Rüssel auf die Bücher und saugt auch dort.

Äußerst merkwürdig!

Jetzt springt Mööp ins nächsthöhere Fach und wiederholt seine Übung dort. Dieses Fach ist sogar noch staubiger als das darunter … Die fast unhörbaren Schmatzgeräusche, die seine routinierten Rüsselbewegungen begleiten, lassen keinerlei Zweifel daran: Er ernährt sich von Bücherstaub!

Mööp springt weiter ins nächste Fach.

Ich kann förmlich Herr von Bs sonore, etwas ziselierte Stimme in mir hören, wie er Shakespeares Hamlet-Spruch zitiert von wegen, es existieren nun Mal mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheiten es uns träumen lassen.

Sebastian Balthasar Mööp springt frisch, fröhlich, frei weiter von Regalfach zu Regalfach und saugt schmatzend den Staub ab. Er scheint die Fächer so clean zu hinterlassen, dass man dort wahrscheinlich hätte Herzoperationen durchführen können.

Karma: Wir müssen jetzt wirklich unbedingt mal reden. Was zum Nepomuk sollte das!? Bücherregale müssen staubig sein! Das ist ein Naturgesetz. So unumgänglich wie die Schwerkraft.

Mööp hält plötzlich in seiner Tätigkeit inne, wendet sich um und schaut mich lange durchdringend an. Und ich fühle mich ertappt! »Schon gut, Rüssel! Falls das, was Sie da tun, doch irgendwas Sexuelles sein sollte, entschuldige ich mich bei Ihnen!«

Mööp hebt den rechten seiner Plattfüße und stampft damit zweimal auf das Regalfach. Das wirkt für seine Verhältnisse ungewöhnlich aggressiv. »Die Polizeibehörden von Tunis setzen Polizeiroboter ein, um den Lockdown zu sichern! Das Gerät ist angeblich eine Eigenentwicklung, verfügt über mehrere Kameras, Infrarot, Sirenen und Lautsprecher. Der Roboter ist befugt, Passanten nach ihrer ID und ihren Passierscheinen zu befragen!«

Weder hat er mich mit Schleimbatzen beworfen noch seine Stinkdrüse am Hintern benutzt, um mich in die Flucht zu schlagen. Ich betrachte das als ermutigendes Zeichen.

»So, so, Rüssel, die Tunesier haben jetzt auch Roboter! Brave New World, was?« Dabei hebe ich meine Hände etwas an und ziehe mich zum Schreibtisch zurück, wo mein Kaffee und meine Zigarette auf mich warten.

Es dauert etwa zehn Minuten, bis ich Mööp über den glatten Boden tippeln höre. Ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, verzieht er sich in seine Nestecke hinter dem Drucker und raschelt dort noch einige Male zwischen den Skriptseiten und Wollmäusen herum.

Ich bin jetzt endlich soweit zu akzeptieren, was ich gesehen hatte: Mööp ernährt sich von Bücherstaub, und er tut dies nachts und nahezu geräuschlos. Ich tippe eine Nachricht an Herrn von B, in der ich ihm meine Beobachtungen schildere und um schnellstmögliche Antwort bitte.

Es dauert exakt zwei Zigarettenlängen, bis ein Leuchten des Screens anzeigt, dass er geantwortet hat. Leidet wohl auch an Pandemie-bedingter Schlaflosigkeit, der Herr Kollege!

Entgegen meiner Vermutung, dass es sich bei Mööp um das Ergebnis eines furchtbar schiefgelaufenen geheimen Regierungsforschungsprojekts handeln müsse, schreibt mir Herr von B, dass Balthasar Sebastian Mööp eine Sub-Spezies der Art Mousai, singular Mousa, verkörpert, im Volksmund auch kurz Muse genannt.

Es sind gerade seltsame Zeiten. So etwas hinterlässt selbst bei den Besten von uns Spuren. Alles vollkommen normal in dieser Situation. Bei Herrn von B hatte die pandemiebedingte Zwangsvereinsamung eben Frühdemenz ausgelöst. Eigentlich no biggie, die Guten gehen eben stets jünger zugrunde als die Idioten. Auch ein Naturgesetz.

Ich meine: Musen! Das sind schließlich Wesen von ätherischer Grazie und unfassbarer Schönheit, deren Mission darin besteht, Künstlern und sämtlichen übrigen Verrückten relativ uneigennützig Kreativschübe zu verpassen (Obwohl es beim antiken griechischen Original angeblich nur weibliche Musen gegeben habe, gehe ich davon aus, dass dies ein Überlieferungsfehler sei. Weshalb es zumindest theoretisch möglich ist, dass Musen nicht nur in Gestalt von attraktiven Frauen auftreten könnten).

Drei im Chatfenster lustig auf und ab hüpfende Punkte zeigen mir an, dass Herr von B gerade eine weitere Nachricht verfasst. Ich bin mir sicher, dass nach dem Schock seiner vorangegangenen Nachricht nichts, was er da noch schreibt, mich dazu bringen könnte, ihn erneut als im vollwertigen Besitz seiner vormals so beeindruckenden geistigen Kräfte anzusehen. Doch Herr von B überrascht mich. Er schreibt nämlich, dass es sich bei Mööp um einen selbst unter den so seltenen Musen als äußerst rar geltenden Vertreter der sogenannten »Berüsselten Nölmusen« handle. Die keinesfalls mit den Brüsseler Heulsusen zu verwechseln seien. Denn das sei ein Schokoladengeschäft in Brüssel.

Zum Ende schreibt er noch, jetzt, da er exakter wisse, wonach er suchen müsse, könne er schneller arbeiten, ich solle mich deswegen schon einmal auf konkrete Hinweise zur artgerechten Haltung von Mööp gefasst machen.

Fehlt nur noch, dass dieser frühdemente Dunkelhippie mir mitteilt, dass er mich in gewisser Weise um Mööps Besuch beneide … nur um gleich darauf genau dies in meinem Chatfenster lesen zu müssen.

Fuck! Was nun? Falls ich meine Bücher wirklich hätte staubfrei halten wollen – was ich ja gar nicht wollte! – hätte ich mir auch eine Putzfrau kommen lassen können. Bei den Dumpingpreisen, für die sie zu haben sind, hätte ich die wahrscheinlich sogar videocasten können.

Einen Moment verliere ich mich in der doch recht angenehmen Vorstellung, wie eine kluge Margareta aus Wrocław oder eine sexy Ilena aus Timișoara sich per Videoschalte in meine Dachwohnung begeben, um sich dort sehr putzwillig auf meinem Screen umherzuräkeln.

Mein Tagtraum stirbt einen garstigen Tod, als mir klar wird, dass ich mir bei meinem Einkommen die beiden nicht einmal in Schwarzarbeit hätte leisten können und sowohl die kluge Margareta wie auch die sexy Ilena erwartet hätten, dass sie nach Tarif bezahlt würden.

Mööp raschelt in seiner Nestecke. Er hebt den Rüssel und schwingt ihn ein wenig hin und her. Was mich seltsamerweise an eine Art Antenne denken lässt, die er in den Äther reckt, um dort aus irgendeiner mysteriösen Zwischenwelt die nutzlosesten Neuigkeiten der nächsten zwei Stunden herauszusaugen.

»Na, Rüssel? Am Staub verschluckt oder wie?« Er lässt den Rüssel sinken und schaut mich an. »Teil der Verfügung des sächsischen Staatsministerium zum Verhalten der Bevölkerung während der Corona-Krise war das Verbot der Nutzung von Reinigungskräften in der nicht systemrelevanten Privatwirtschaft. Dies schließt private Wohngebäude mit ein!«

Ich drehe mir noch eine Kippe. Dass dieser lebende Staubsauger nun offenbar auch noch fähig ist, meine Gedanken zu lesen, ist ein herber Schlag. »Rumänien und Polen haben die Grenzen ja wohl sowieso geschlossen!«

Mööp dreht sich in seinem Nest auf die Seite und beginnt gleich darauf wieder leise rasselnd zu schnarchen. Ich schenke mir Kaffee ein und versuche hart, mich mit der Realität zu versöhnen. Da lebe ich also mit einer Muse zusammen, die sich von Bücherstaub ernährt, meine Gedanken lesen kann, auf einer Nestpolsterung aus Wollmäusen besteht und regelmäßig meine Schreibflashs durch die Bekanntgabe völlig überflüssiger Funfacts unterbricht!

Karma? Hörst du mich?! Wir müssen reden! Und zwar dringend! Und länger!

Draußen geht die Sonne auf. Die Vögel beginnen zu zwitschern.

Ich schreibe eine Nachricht an Kollege M. »Wusstest du, dass Musen Rüssel haben und sich von Bücherstaub ernähren?«

Es dauert zwei, drei Zigarettenlängen, bis er antwortet: »Alter? Bleib beim Alkohol. Gras bekommt dir nicht!«

Corona? Danke für nichts!

Fortsetzung folgt …

David Gray

Über den Autor

David Gray (Foto: (c) 2013 Licht und Linse Fotografie, Le)
David Gray (Foto: Licht und Linse Fotografie, Le)

David Gray ist das Pseudonym des deutschen Journalisten und Filmkritikers Ulf Torreck.
Geboren 1970 in Leipzig, weist sein Lebenslauf längere Aufenthalte in Südostasien, Irland und Großbritannien auf.
Er hat zahlreiche Romane und Kurzgeschichten in Verlagen und bei amazon.de veröffentlicht.

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