Alle Jahre wieder: Barbara Fellgiebels Impressionen der größten Buchmesse der Welt – respektlos, subjektiv, frech, erfrischend, und noch so einiges (Alle schlechten Fotos, wenn nicht anders angegeben: Barbara Fellgiebel).
Montag, 14. Oktober 2019
Meine Buchmesse fängt wie immer an mit der Verleihung des dbp, des Deutschen Buchpreises.
Er wird zum 15. Mal verliehen, und im Vorfeld ist in diesem Jahr einiges Unerfreuliche geschehen, was zu Spekulationen über den Wert und die Berechtigung dieses Preises geführt hat. Meine Meinung: Jeder Buchpreis hat seine Berechtigung, zumal wenn er so dotiert ist, dass er dem Gewinner ein Jahr Schreibruhe ermöglicht und er/sie auf mehr oder weniger degradierende Brot-Erwerb-Jobs verzichten kann.
Der Kaisersaal ist zwar historisch und ehrerbietend, dass die Beleuchtung und Mikrofonvernetzung sowie nicht zugängliches WLAN dieser Tatsache angepasst sind, halte ich für unangebracht. Der neben mir sitzende Vertreter des Humboldtforums ist extra aus Berlin angereist, um zu lernen, wie eine Preisverleihung abläuft, zumal dort ab nächstem Jahr die Sachbuchpreisverleihung stattfinden soll. Er lernt eher, welche Fehler er vermeiden sollte.
Saša Stanišić, der 41-jährige gebürtige Bosnier, gewinnt nicht überraschend mit seinem Roman »Herkunft«. Im hinteren Teil des Buches befindet sich ein Text-Adventure, sodass der Leser verschiedene Alternativen zum Weiterlesen hat. Stanišić hält eine mutige, kontroverse Dankesrede, in der er seiner Bestürzung über die Nobelpreisverleihung an Peter Handke Ausdruck gibt.
Heinrich Riethmüller, der Vorsteher des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, gibt mir bereitwillig Antwort auf die Frage, wie er zum Nobelpreisträger 2019 steht:
»Großartig, dass es mal wieder ein deutschsprachiger Schriftsteller ist. Als Buchhändler finde ich es toll, denn sein literarisches Werk gehört zweifellos zu den ganz großen. Menschlich halte ich weniger von ihm, zumal ich ihn vor 30 Jahren mal live bei uns in Tübingen erleben durfte; aber es ist gut, wenn die Literatur und nicht der Mensch ausgezeichnet wird.«
Dienstag, 15. Oktober 2019
Pressekonferenz in strahlender Sonne mit der spontan teilnehmenden polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. Jürgen Boos, Direktor der Frankfurter Buchmesse, hält eine Rede, deren Schwerpunkt auf Klimawandel und digitaler Vielfalt liegt. Kein Wort von beschnittener Freiheit des Wortes. Er schließt mit dem Zitat Lampedusas aus »Der Leopard«: Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist.
Auch Heinrich Riethmüller hat den Klimawandel als erstes Thema, geht aber über zu unakzeptablen Gefährdungen der Demokratie und ruft auf, am Donnerstag um 13.30 Uhr an der Regenschirmmanifestation MAHNWACHE FREE THE WORDS (Solidarität mit Hongkong) auf der Agora teilzunehmen.
Francis Gurry, Generaldirektor der WIPO, ist eigentlich Gastsprecher dieser Pressekonferenz, gerät angesichts der unerwarteten Teilnahme der Nobelpreisträgerin aber etwas in den Hintergrund. Fazit seiner Rede: Die Idee der multinationalen Kooperation ist gefährdet.
Endlich ist Olga Tokarczuk an der Reihe. Ihre polnisch-deutsche Übersetzerin sitzt an ihrer Seite und übersetzt cool und ruhig die lebendige, ganz andere Redeweise der Literatin. Hoffentlich übersetzt sie alles, meint meine Nachbarin zweifelnd. Tokarczuk erzählt, dass sie sich auf der Autobahn zwischen Berlin und Bielefeld befand, als sie der Anruf aus Stockholm auf einem namenlosen Parkplatz erreichte. »Dieser namenlose Zwischenraum, wo ich vom Nobelpreis erfahren habe, ist eine gute Metapher für unsere Zeit.« Jürgen Boos fragt sie nach ihrer Rolle in der polnischen Literatur. Tokarczuk: »Ich gehöre zu einer tief verwurzelten, mulitkulturellen Tradition Polens.«
Und ihr Rollenmodell? Bruno Schulz, in Galizien geboren, hat die schönste Sprache.
Jürgen Boos: »In der derzeitigen Nobelpreisdiskussion ist Peter Handke der Bad Boy und Sie The Good Girl. Stimmen Sie dem zu?«
Tokarczuk: »Da ich gewohnt bin, The Bad Girl zu sein, kann ich die neue Rolle sehr genießen.«
Weiter zum versprochenen Journalistenrundgang im Pavillon des Gastlandes Norwegen. Die Erwartungen sind hoch, denn Vorgängerländer wie Island, China und Georgien haben die Latte angehoben.
Um so größer ist die Enttäuschung: Ein erklärender Rundgang findet nicht statt, weil der Projektleiter meint, wir seien zu viele Journalisten. Etwas kargeres, leereres, simpleres, ärmlicheres hat sich noch kein Vorgängerland geleistet. 23 Tische bilden eine norwegische Landschaft, und jeder Tisch drückt ein literarisches Thema aus. So lautet die Projektbeschreibung der Architektin, die sich gegen 50 andere Vorschläge durchgesetzt hat. Ich frage mich, wie die anderen Vorschläge aussahen. Nach Messeende werden die Tische gönnerhaft an 23 Buchhandlungen in Deutschland verschenkt. Sollten Sie also irgendwo einen nichtssagenden Glastisch mit eigenartiger Metallröhrenkonstruktion entdecken: Das ist ein norwegischer Tisch aus dem Buchmessenpavillon. Dank cleverer Spiegelwände an den beiden Schmalseiten, glaubt man zunächst, in einen Riesensaal zu treten – aber die Illusion ist schnell entlarvt: Die eine Längsseite ist völlig kahl, die andere mit vier schwarz-weißen Großphotos des samischen Walds bestückt.
Hinter dieser Wand befindet sich Ludwig Wittgensteins Boot – bzw. Wrack – eine Anhäufung knapp zusammenhaltender Planken, in dem der österreichische Philosoph vor etwa 100 Jahren in Eidsvatnet gerudert ist. Das Motto des Buchmessenauftritts lautet »Der Traum in uns«. Dort ist er verblieben.
Meine Enttäuschung ist so groß, dass ich ihr ungefiltert Luft mache. Es trifft Kathrin Grün, die großartige Pressechefin der Buchmesse, die vor Schreck ganz betreten ist. Ich bitte sie an dieser Stelle um Entschuldigung. Welch vertane Chance, Tausende von Besuchern für ein Land zu begeistern, das gute Bücher zu bieten hat, aber auch eine einmalige, unverdorbene, reiche Natur, die so erlebenswert ist.
Am Abend findet die offizielle Eröffnung statt. Eine kleine Entschädigung für die Enttäuschung am Morgen, denn alle gehaltenen Reden sind gut. Erst hinterher wird mir klar, welch bewundernswerten Spagat der Frankfurter Bürgermeister vollbracht hat: Herr Feldmann schildert die Frankfurter Internationalität und beschreibt die Schulen mit 50 bis 80% Ausländeranteil als etwas Positives und Erstrebenswertes. Darauf muss man erst mal kommen!
Herausragend die Ansprache der norwegischen Autorin Erika Fatland. Von ihr will man, nein: will ich mehr hören und lesen.
Mittwoch, 16. Oktober 2019
In diesem Jahr verwöhnt uns das Wetter leider nicht wie im vergangenen. Kein Tag ohne mehr oder weniger starke Regengüsse. Man ist froh, in einer trockenen Halle zu sein.
Viele Neuerungen gibt es: Wer aus alter Gewohnheit zum Blauen Sofa oder der 3sat-Bühne gehen will, findet ersteres in einer Ecke der Halle 3.1. Die 3sat-Bühne gibt es nicht mehr. In Halle 1 unter dem Gastlandpavillon hat sich wenig verändert, abgesehen von den dorthin umgesiedelten Literaturagenten.
Die ARD-Bühne ist unverändert, und wir beginnen dort mit Volker Weidermann, der mit »Das Duell« Marcel Reich-Ranicki und Günter Grass porträtiert hat. Dazu hat man Verena Friederike Hasel eingeladen, die das Bildungswesen Neuseelands mit »Der tanzende Direktor – Lernen in der besten Schule der Welt« als vorbildlich und nachahmenswert schildert. Aber was die beiden Schriftsteller miteinander verbindet, erschließt sich weder mir noch den beiden Betroffenen.
Druckfrisch – Denis Schecks Warnungen und Empfehlungen mit Ausgangspunkt der SPIEGEL-Bestsellerlisten: Einige der Empfehlungen finden Sie am Ende dieses Artikels auf der Liste der Bücher, auf deren Lektüre ich mich freue. Er legt allen gestressten Viel- oder Gar-nicht-Lesern Gedichte ans Herz und empfiehlt die »Bestandsaufnahme der Lyrik« aufs Wärmste. Sein Lieblingsgedicht des Tages:
»Vater – am Ende war er derart kahl geworden, dass man seine Gedanken sah.«
Dieses Jahr bietet die gute Gelegenheit, Alexander von Humboldt zu entdecken. Der geniale Weltreisende hat die erstaunlichsten Entdeckungen gemacht, unentwegt geschrieben, vermessen, katalogisiert, und es ist eine Freude, wie viel anlässlich seines 250. Geburtstages herausgegeben wird. Allen voran Oliver Lubrichs seit Jahrzehnten gesammelte sämtliche Schriften Humboldts, die bei dtv erschienen sind. Oder das graphische Gesamtwerk.
Hanns Magnus Enzensberger wird 90 – ein Anlass, diesen weisen Schriftsteller zu lesen. Er war im Abitur mein Wahlschriftsteller (weil sein Werk so übersichtlich war). Das hat sich gewaltig verändert.
Beim ersten Druckfrisch-Auftritt verzichtet Denis Scheck auf sein unerträgliches Bonmot »Vertrauen Sie mir, denn ich weiss, was ich tue«. Dafür hat er ein neues Lieblingswort: Wunderbar.
Sandra Kegel interviewt David Wagner »Der vergessliche Riese« – nicht jeder Autor ist gesprächstauglich.
Auf dem in Halle 3.1 umgezogenen Blauen Sofa ereifert sich Steffen Kopetzky mit aufgeregt fuchtelnden Armen. Sein Buch heißt »Propaganda« – warum sieht man unweigerlich Goebbels vor sich?
Seine Gesprächspartnerin Marie Sagenschneider wird dadurch noch ruhiger, noch gelassener, noch souveräner.
Julia Ebner hat mit »Radikalisierungsmaschinen« das Buch der Stunde geschrieben. Die junge Wissenschaftlerin erstellt eine detaillierte, kenntnisreiche Analyse darüber, wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren. Auf YouTube sind einige ihrer Vorträge zu hören.
Erika Fatland, die Norwegerin, die schon bei der Eröffnung einen so tiefen Eindruck auf uns machte, spricht in fließendem Deutsch (eine der acht Sprachen, die sie beherrscht) über ihre Reiselust und ihr Buch
»Die Grenze – Eine Reise um Russland«. Sie hat die 14 an Russland grenzenden Staaten besucht und erstaunliche Erfahrungen gemacht.
Dagmar Leupold wird von Cecile Schortmann zu ihrem Buch Lavinia interviewt. Sie erzählt ein Frauenleben – nah an der eigenen Biographie mit den Fakten, aber im Ton einer antiken Figur. Eine interessante Kombination.
Saša Stanišić – stolzer Gewinner des diesjährigen Deutschen Buchpreises für seinen ungewöhnlichen Roman »Herkunft« – begeistert mit seiner sprudelnden Erzählart. Er ist ein klarer ALFA-Effekt*. Einer der wenigen. Der 41-jährige Bosnier kam mit 14 Jahren nach Deutschland und gehört in die Riege der AusnahmeautorInnen, wie Terezia Mora und Nino Haratischwili, die Deutsch erst im Teenageralter erlernt und eine frappierende Sprachgewalt und -beherrschung entwickelt haben.
* ALFA-Effekte entstehen, wenn ein mir unbekannte/r Autor/in einen solchen Eindruck hinterlässt, dass ich das präsentierte Buch einfach lesen (oder hören) muss.
Ein weiterer ALFA-Effekt ist Deniz Yücel. Der passionierte deutsch-türkische Journalist und »Posterboy der Pressefreiheit« erzählt ergreifend von seinem Jahr in türkischer Haft, beschreibt, wie er begann, sein Buch »Agentterrorist« zu schreiben, obwohl er weder Papier noch Schreibwerkzeug hatte: Mit dem Zinken einer abgebrochenen Plastikgabel und roter, klebriger Sauce, die ihm täglich serviert wurde. Der Titel ist ein von Erdogan für ihn geprägter Ausdruck. Einer der Interviewpartner bezeichnet Yücels Frau Dilek Mayatürk als »Brandbeschleuniger für die Liebe«, worauf Yücel meint, »an der Formulierung würde ich noch arbeiten«. Er sagt Sätze wie: Freiheit beginnt, wenn sie einem genommen wird. Er wird nicht müde, bei allen Auftritten für die beispiellose Solidarität und das Engagement seiner Leser zu danken. Die »Free Deniz Kampagne« hat erfolgreichere Arbeit geleistet als die schwedischen Kollegen im Fall Davit Isaak. Der Schwedisch-Eritreer sitzt seit 18 Jahren ohne Gerichtsurteil in eritreischer Gefangenschaft. Daran muss ich denken, wenn Deniz laut posaunt: »Es war mir nicht wichtig, ob ich 1 Monat oder 1 Jahr gefangen gehalten werde, Hauptsache, ich wurde nicht vergessen.« Aber 18 Jahre???
Im Frankfurt-Pavillon auf der Agora findet derweil die Pressekonferenz des Gastlandes 2020 statt: Kanada macht neugierig auf seine Autoren, allen voran die nobelpreisverdächtige Margaret Atwood.
Ich laufe Wolfgang Tischer in die Arme, was er prompt mit einem Selfie festhält.
Später gehe ich zu seinem Podcast-Workshop, dessen Popularität er völlig unterschätzt hat. Über 30 überwiegend junge Menschen drängeln sich um ihn und versuchen, seine ohne Mikrofon schwer hörbare Stimme zu verstehen. Für nächstes Jahr bitte bessere Technik einplanen!
Eugen Ruge hat mit »Metropol« ein interessantes Buch über die Behandlung von Ausländern im Russland der frühen Dreißigerjahre geschrieben.
Doris Dörrie will mit »Leben. Schreiben. Atmen.« beweisen, dass sie in 10 Minuten jeden Menschen zum Schreiben bringen kann. Sie schildert überzeugend, wie das Erinnern kommt bei unreflektiertem Schreiben ohne Selbstkritik, Korrektur und analytischem Nachdenken. Wenn man schreibt, besitzt man die Erinnerungen und sie besitzen einen nicht. Das Gespräch am Stand der FAZ kann im Bücher-Podcast der FAZ nachgehört werden.
Donnerstag, 17. Oktober 2019
Live-Übertragung von »Lesart« – dem täglichen Kulturprogramm des Deutschlandfunks um 10.05 Uhr.
Zwischen den verschiedenen Gästen sorgt das Trio Lumimare dafür, dass die vom Zuhören verstopften Gehirnwindungen wieder aufnahmefähig werden.
Jan Weiler hat mit »Kühn hat Hunger« einen neuen bestsellerverdächtigen Roman rausgebracht. »Erfolg« ist männlich – sonst würde es »Siefolg« heißen, meint er spitzbübisch. Meine Kollegin stört sein saloppes Outfit, mit dem er sofort in den Stadtwald joggen könnte. Ist doch Radio, versuche ich ihre Aufregung zu entschärfen, es sieht ihn doch nur der heutige Teil der insgesamt 300.000 Messebesucher.
Matthias Friedrich Mücke hat mit »Niemandsland« in Form einer Graphic Novel ein wichtiges DDR-Buch gezeichnet und geschrieben. Es wirkt farbig, obwohl es schwarz-weiss ist, und es zeigt, dass die Jugend in der DDR nicht grau in grau war, sondern viel Spaß hatte.
Carsten Wist und Felix Palent betreiben in Potsdam den Literaturladen. Sie nennen als wichtige Wendeliteratur Klaus Schlesingers »Fliegender Wechsel« , Peter Kurzeck sowie »Der Gefühlsstau« von Hans-Joachim Maaz.
Jackie Thomae hat es mit ihrem Roman »Brüder« auf die Shortlist des dbp19 geschafft. Ihr Motto ist: Keine Vermutungsbestätigung betreiben.
Der Versuch, Jo Nesbø live zu sehen, scheitert am Wahnsinnsandrang seiner Fangemeinde.
Michael Busch, Leiter des Buchhandelriesen Thalia, der stolze 20 % des gesamten deutschen Buchhandels ausmacht, am ZEIT-Stand. Was soll das? Hat die ZEIT es nötig, eine reine Marketingveranstaltung zu lancieren, wo bereits das Angebot interessanter AutorInnen am Stand sowieso schon geschrumpft ist? Welch Armutszeugnis!
Auf der ARD-Bühne interviewt Bärbel Schäfer unter dem vielversprechenden Titel »STREITERINNEN! – Land in Sicht? females for future!« Luisa Neubauer (die deutsche Greta Thunberg) und Pia Klemp, Kapitänin der Sea-Watch. Leider nicht so spektakulär, wie es hätte sein können. Hätte ein männlicher Moderator mehr aus den beiden rausgeholt? Schon im vergangenen Jahr stellten wir fest, dass die Mixed-Sex-Gespräche meist geglückter sind.
So auch das folgende Gespräch zwischen Bärbel Schäfer und Raoul Schrott. Der wortgewaltige Österreicher hat mit »Eine Geschichte des Windes oder Von dem deutschen Kanonier, der erstmals die Welt umrundete und dann ein zweites und ein drittes Mal« die wahre Geschichte eines deutschen Kanoniers erzählt, der mit Magellan die Welt umsegelte.
Heinrich Steinfest, österreichischer Krimiautor und Liebling von Denis Scheck, hat eine »Gebrauchsanweisung fürs Scheitern« geschrieben.
Im ARD-Kino läuft ein Dokumentarfilm über Norwegen, der uns die im Norwegen-Pavillon total ausgeblendete Natur nahe bringt und eine angenehme Entschädigung ist.
Ach, es gibt noch so viel zu sehen und erleben, aber leider stellt sich auch bei mir eine gewisse Ermüdung und Reizüberflutung ein. Schluss für heute.
Freitag, 18. Oktober 2019
Wir beginnen mit »Faszination Kriminalroman« – einem Event, das überwiegend von sehr jungen Frauen besucht wird. Warum? Um Ursula Poznanski zu erleben. Die österreichische Autorin hat »Erebos« geschrieben, Bücher, die von einem Computerspiel gleichen Namens handeln, das in das reale Leben seiner Protagonisten eingreift. Ein Riesenerfolg seit 10 Jahren.
Daniel Holbe war Sozialarbeiter, seine Schreibkarriere mickerte vor sich hin, als er 2011 gefragt wurde, ob er die Bücher von Andreas Franz weiterschreiben könne. Er konnte und wurde erfolgreich.
Beeindruckend, aber irgendwie krank, wenn erfolgreiche Buchserien von anderen Autoren nach dem Tod des eigentlichen Autors weitergeschrieben werden. So erlebt im Fall Stieg Larsson, dessen Mega-Erfolgsserie »Millenium« von David Lagercrantz fortgesetzt wurde.
Weiter zu Erik Forsnes Hansen: Der Ehemann von Erika Fatland ist ebenso sprachgewaltig wie seine Frau. Er spricht über sein Buch »Ein Hummerleben« und würdigt die Übersetzer, ohne deren großartige Arbeit es keine internationale Literatur gäbe.
Karl-Heinz Ott überrascht als Musikwissenschaftler. Mit »Rausch und Stille« hat er ein faszinierendes Buch über Beethovens Sinfonien geschrieben. Er nennt Beethoven den Hegel der Musik. Eine Fundgrube für Beethovenfans und solche, die es werden wollen.
Ulrich Tukur entpuppt sich immer mehr als Tausendsassa aller Kunstrichtungen: Der begnadete Schauspieler und gute Musiker hat mit »Der Ursprung der Welt« seinen ersten Roman vorgelegt: Es geht um eine dystopische Beschreibung der Welt des Jahres 2033. Ob er uns demnächst als Maler oder Bildhauer überrascht?
Jede Menge Soziologen tummeln sich auf der Buchmesse. Hier ist wieder einer: Harald Welzer hebt sich positiv von vielen seiner Kollegen ab: Pragmatisch, klar, deutlich, ein Traum, findet meine Kollegin. In seinem Buch »Alles könnte anders sein« meint er, unsere Welt sei eine Utopie. Noch nie war sie so friedlich. So reich. So vieles ist gut. Extrem sicher. Extrem gut. Und er findet, wir träumen zu wenig, weil wir zuviel haben. Er fordert mittels konkreter, umsetzbarer Utopien die Internalisierung von Kosten und eine Gemeinwohlökonomie.
Thomas Gottschalk wird nächstes Jahr 70 und überrascht nicht nur Literaturkritiker mit »Herbstbunt« – dem zweiten Teil seiner Biografie.
Ildikó von Kürthy hingegen hat die 50 erreicht und meint mit ihrem Buch »Es wird Zeit«, dass nichts verloren gehen kann.
Weitere nicht so wirklich überzeugende Präsentationen erspare ich Ihnen. Es waren in diesem Jahr gefühlt besonders viele. Oder habe ich einfach zu viele erlebt?
Samstag, 19. Oktober 2019
Heute ist der erste der beiden Cosplay-Tage, d. h. zu Hunderten strömen fantasievoll verkleidete junge Menschen aufs Gelände. Dazu müssen sie erst durch die Sicherheitskontrolle, wo frenetisch nach Waffen suchende Gelegenheitsarbeiter ihren Dienst verrichten. Enttäuscht durchwühlt ein solcher unter aufgeregtem »Chaves, Messer?!«-Gebrabbel meine Tasche.
Auf dem Weg ins Pressezentrum passiere ich die ARD-Bühne, auf der Ulrich Wickert über sein neues Buch »Identifiziert euch!« spricht. Natürlich bleibe ich stehen und erfahre, dass »Heimat ist, wo man zuhause ist, man sich sicher und willkommen fühlt.« So hat Herr Wickert viele Heimaten, u. a. in New York, Paris, Heidelberg. Mit Wurzeln und der Herkunft der Familie habe Heimat für ihn nichts zu tun.
Diesmal habe ich während der Buchmesse wenig geschrieben, sodass ich den wolkenverhangenen Samstag großteils in der ruhigen Abgeschiedenheit des Pressezentrums verbringe – während nur 50 Meter weiter das Cosplay-Gewimmel der die Messe vereinnahmenden Jugendlichen tost. Interessant, wie die Buchmessenleitung versucht, dem jungen Publikum gerecht zu werden:
Wo früher unverrückbar das Blaue Sofa stand, befindet sich jetzt ein grosser »Kids-Bereich«.
CREATE YOUR REVOLUTION ist Aufruf und übergreifendes Thema der diesjährigen Buchmesse.
Sonntag, 20. Oktober 2019
Der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in der Paulskirche wohne ich diesmal nicht bei. Teils ist mir keiner der aus Sicherheitsgründen von 900 auf 700 geschrumpften Plätze zugeteilt worden, teils interessiert mich Sebastiao Salgado, der diesjährige Preisträger, etwas weniger. Trotzdem sehe ich mir die Liveübertragung im ZDF an – und bin begeistert von diesem bescheidenen Mann, der nicht nur ein großartiger Fotograf ist, sondern ein Regenwaldretter. Auf dem wohl riesigen Gelände seiner Familie in Brasilien hat er vor 20 Jahren 2,5 Millionen Bäume pflanzen lassen und darf nun erleben, wie Flora und Fauna üppig blühen und gedeihen. Ein nachahmenswertes und Hoffnung machendes Beispiel.
Eine dank des gestiegenem Verkaufsergebnis des Buchhandels ziemlich selbstbewusste Buchmesse, der vor lauter Political Correctness die überschäumende, manchmal rauschhafte Atmosphäre vergangener Jahre abhanden gekommen ist. Schade, sehr schade.
Zuhause erwartet mich ein Überraschungsbuchpaket:
Der Luchterhand Verlag hat mir drei Bücher geschickt, die ich alle in der Hand hatte und dachte: Hm – klingt viel versprechend. Würde ich gern lesen:
- Kronprinzessin Mette-Marit: Heimatland … und andere Geschichten aus Norwegen
- Karl Ove Knausgård: So viel Sehnsucht auf so kleiner Fläche – Edvard Munch und seine Bilder
- Peter Henning: Die Tüchtigen
Weitere Bücher und Hörbücher auf die ich mich freue:
- bestandsaufnahme lyrics
- Nora Gomringer Peng Peng Parker – vertonte Dorothy Parker Gedichte
- Frank Schätzings CD Taxi Galaxi
- Saša Stanišić: Herkunft
- Jackie Thomae: Brüder
- Ulrich Tukur: Der Ursprung der Welt
- Oliver Lubrich: Alexander von Humboldt – studienausgabe
- Matthias Friedrich Muecke: Niemandsland
- Doris Dörrie: Leben, schreiben, atmen. Eine Einladung zum Schreiben
- Christian Schneider: Sahra Wagenknecht – die Biografie
- Dagmar Leupold: Lavinia
- Eugen Ruge: Metropol
- Jan Weiler: Kühn hat Hunger
- Karl-Heinz Ott: Rausch und Stille
- Harald Welzer: Alles könnte anders sein
Barbara Fellgiebel
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