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Besuch von Dickens: »Demon Copperhead« von Barbara Kingsolver

Der Roman Demon Copperhead von Barbara Kingsolver

Es ist mutig, Dickens Klassiker »David Copperfield« adaptiert auf die heutige Zeit nachzuerzählen. Barbara Kingsolver hat es getan und mit »Demon Copperhead« ein neues, zeitgenössisches Epos geschaffen. Juliane Hartmann beide Werke gelesen und verglichen.

Himmlischer Besuch von Charles Dickens

»Ich hatte ›himmlischen Besuch‹ von Charles Dickens«, sagt Barbara Kingsolver über die Entstehung ihres Romans »Demon Copperhead«. Von Charles Dickens persönlich inspiriert? Welcher Autor kann das schon von sich behaupten?

Indem Barbara Kingsolver »David Copperfield« auf die heutige Zeit anpasst und neu erzählt, tritt die die US-Amerikanische Autorin in große Fußstapfen, und sie hat mit »Demon Copperhead« tatsächlich einen neuen, eigenständigen Klassiker geschaffen, der bereits mit dem Pulitzer-Preis und dem Women’s Prize for Fiction ausgezeichnet ist.

»Demon Copperhead« von Barbara Kingsolver erschien auf Deutsch im Februar 2024 bei dtv. Dirk van Gunsteren hat das Werk ins Deutsche übertragen.

Damon Fields alias Demon Copperhead, wegen seiner roten Haare so genannt, wird in einem Wohnwagen-Trailer in Lee County geboren, einer der ärmsten Provinzen der USA. Sein Vater stirbt vor seiner Geburt. Der Stiefvater ist gewalttätig. Seine Mutter, jung und drogenabhängig – stirbt ebenfalls früh. Demon durchwandert in seiner Jugend mehrere Pflegefamilien (sofern man diese überhaupt so nennen mag). Er erlebt Gewalt, Elend, Kinderarbeit, Drogen, Armut, Hunger. Der Protagonist begegnet den wenigen Höhen und vielen Tiefen seines jungen Lebens mit Widerstandsfähigkeit.

Copperfield und Copperhead

Zwischen »David Copperfield« (erstmals 1850 erschienen) und »Demon Copperhead« finden sich einige Parallelen. Als erstes der Umfang: »Demon Copperhead« ist über 800 Seiten dick. »David Copperfield« umfasst je nach Ausgabe mindestens 800 Seiten, es können aber auch mehr als 1.000 sein. Episch umfangreiche Werke.

»Demon Copperhead« von Barbara Kingsolver und die Vorlage »David Copperfield« von Charles Dickens

Sowohl David als auch Demon sind Waisenkinder, die unter harten Bedingungen aufwachsen. Beides sind Entwicklungs- oder Bildungsromane.

»David Copperfield« ist autobiographisch geprägt. Charles Dickens verarbeitet seine harte Kindheit, vom Waisenjungen zum erfolgreichen Schriftsteller. Die Geschichte von Demon Copperhead bleibt offen.

In beiden Werken werden Einzelschicksale dramatisch geschildert. Barbara Kingsolver schreibt im Nachwort, dass sie Dickens dankbar sei für die »Kritik an institutioneller Armut und ihre verheerenden Folgen für Kinder«.

Kingsolver übernimmt auch die Perspektive: Auch ihr Demon berichtet retrospektiv und überwiegend chronologisch über seine Kindheit.

Viele (aber nicht alle) Figuren aus »Demon Copperhead« finden sich bereits bei »David Copperfield« – neben dem Protagonisten mit den Initialien D. C. und einem Namen, der aus fünf Silben besteht. Aus dem tyrannischen Stiefvater »Mr. Murdstone« wird »Stoner«. Aus »Mr Micawber« wird der Loser-Pflegevater »Mr Cobb«. Aus »Steerforth« wird »Fast Forward«. Jugendfreundin »Agnes« bleibt »Agnes«, bei Kingsolver »Angus« genannt.

Man muss nicht das Original kennen, um Kingsolvers Buch zu lesen. Allerdings ist es spannend, Figuren, Handlungsschauplätze, Motive und Szenen wiederzuentdecken. Es ist ein bisschen wie Kreuzworträtseln beim Lesen.

Mehr als diesen groben Rahmen übernimmt Kingsolver nicht von Dickens. »Demon Copperhead« spielt 150 Jahre später und auf einem anderen Kontinent.

Die Appalachen sind ein 2.400 Kilometer langer Gebirgszug, der im Osten der USA parallel zum Atlantik verläuft. Die Bewohner haben eine eigene kulturelle Identität und ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt. Barbara Kingsolver erzählt in »Demon Copperhead« die Geschichte dieser Menschen (»I’m Appalachian; that’s my identity. This is home.«). Die Bewohner der landschaftlich wunderschönen, aber armen Gegend werden abwertend als »Hillbillys« oder »Rednex« bezeichnet.

In West Virginia, Handlungsort des Romans, sind Drogen ein großes Problem. Aufgrund der vielen Drogentoten ist von der sich verschärfenden Opiod-Krise die Rede. Pharmafirmen hatten Schmerzmittel wie »Oxycontin«, kurz »Oxy«, aggressiv vermarktet, ohne über das Suchtpotential aufzuklären. Ärzte verschrieben die Droge im großen Stil. Viele besorgten sich die Drogen auf dem Schwarzmarkt. Barbara Kingsolver gibt den Kindern der Drogentoten eine Stimme.

Kingsolvers Erzählstimme

Barbara Kingsolver erzählt aus Demons Perspektive, einem anfangs zehnjährigen Jungen, den wir seine Jugend über begleiten. Sie gibt ihm eine eigene Stimme: tough gewieft, frech. Ironisch bis komisch. Genau diese lässt den Protagonisten lebendig werden. Der Gegensatz zur toughen Erzählstimme macht das Leid des jungen Demons für den Leser spürbar.

Es ist eine beachtliche Leistung der Autorin (und des Übersetzers), die Erzählstimme über mehr als 800 Seiten aufrechtzuerhalten. Dabei schöpft Kingsolver aus einem unglaublichen Schatz an Vergleichen und Metaphern.

Dickens Erzählstimme

Charles Dickens schreibt subtiler. Die Stimme des Protagonisten David Copperfield wirkt leiser und schüchterner. Während Barbara Kingsolver mehr »show« einsetzt, herrscht bei Dickens das beschreibende »tell« vor.  Dennoch liest sich »David Copperfield« angenehm und flüssig. Es lohnt sich, diesen Klassiker zu lesen oder zumindest hineinzulesen.

Parallelen zu einem anderen Erfolgsroman

Ein wenig erinnert »Demon Copperhead« an einen Roman, der vor zwei Jahren erschien und viel Aufmerksamkeit bekam und bekommt: »Eine Frage der Chemie« der Bonnie Garmus.

Beide Bücher haben enormen kommerziellen Erfolg, der fast geplant wirkt. Sie sind hochgradig konstruierter Romane. Geschichten, denen man unterstellen könnte, dass sie hauptsächlich geschrieben wurden, um den Leser zu packen, zu unterhalten und hohe Honorare einzuspielen.

Der Inhalt ist nicht direkt vergleichbar: In »Eine Frage der Chemie« steht eine emanzipierte und unkonventionelle Wissenschaftlerin im Mittelpunkt. Barbara Kingsolver erzählt mit »Demon Copperhead« die traurige Geschichte eines Jungen, stellvertretend für eine Bevölkerungsgruppe. Ihr Roman ist um einiges heftiger.

Jedoch: Wer einen Bestseller schreiben möchte und ein Erfolgskonzept sucht, sollte sich diese beiden von US-amerikanischen Autorinnen geschriebenen Erfolgsromane genauer ansehen.

Fazit

Es ist mutig, einen großen Klassiker wie »David Copperfield« auf die heutige Zeit adaptiert nachzuerzählen. Barbara Kingsolver hat es getan und ein neues, zeitgenössisches Epos geschaffen.

Ein Roman, der den Leser verblüfft zurücklässt. »Demon Copperhead« liest sich spannender als mancher Krimi, nicht nur die Sprache unterhält prächtig – Demons Schicksal berührt.

Dickens ins Jahr 2024 gebracht, zeigt, wie zeitlos Themen und Bestseller sind.

Juliane Hartmann

Barbara Kingsolver; Dirk van Gunsteren (Übersetzung): Demon Copperhead: Roman. Gebundene Ausgabe. 2024. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. ISBN/EAN: 9783423283960. 26,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Barbara Kingsolver; Dirk van Gunsteren (Übersetzung): Demon Copperhead: Roman. Kindle Ausgabe. 2024. dtv. 22,99 €  » Herunterladen bei amazon.de Anzeige

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4 Kommentare

  1. Die Art und Weise, wie Kingsolver die Themen Armut und Ausbeutung behandelt, ist sowohl erschütternd als auch erhellend. Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass das Buch die Perspektiven weiterer Charaktere stärker einbezieht, um ein noch vollständigeres Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse zu zeichnen.

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