StartseiteLiterarisches LebenVor Ort beim Bachmann-Preis: Eine Literatur-Zirkus-Kritik

Vor Ort beim Bachmann-Preis: Eine Literatur-Zirkus-Kritik

Ingeborg-Bachmann-TorteIn seinen großartigen Thursday-Next-Romanen beschreibt Jasper Fforde eine Parallelwelt, die der unseren nicht unähnlich ist. In seiner Welt jedoch spielt Literatur eine enorm große Rolle im Alltag der Menschen. Literatur, Literaturbegeisterte, Literaturmissionare und Literaturagenten überall.

Reist man im Sommer ins österreichische Klagenfurt, um den alljährlichen »Bewerb« des Ingeborg-Bachmann-Preises zu erleben, reist man in die Welt der Thursday Next. Literatur überall.

Wolfgang Tischer, Herausgeber des literaturcafe.de, war zum ersten Mal dort und berichtet von seinen Eindrücken von den »35. Tagen der deutschsprachigen Literatur«.

Die Spielregeln vorweg

Achtung automatischer SchrankenDie Spielregeln vorweg, für diejenigen, die sich nie näher mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis beschäftigt haben: Sieben Literaturkritiker und solche, die dazu ernannt wurden, laden 14 Autorinnen und Autoren mit ihren Texten nach Klagenfurt ein. Es müssen unveröffentlichte Prosatexte sein, deren Lesezeit 25 Minuten nicht übersteigen darf. Im ORF-Studio Kärnten tragen die Eingeladenen dann ihre Texte vor – live vor der Kritikerrunde und dem Publikum, das sowohl im Studio als auch an den TV- und Computer-Bildschirmen sitzt. 3sat überträgt live. Nach jeder Lesung diskutieren die Kritiker über den Text. So geht es drei Tage lang. Am vierten Tag werden von der Jury einige Preise vergeben. Der erste ist der Ingeborg-Bachmann-Preis, der mit satten 25.000 Euro dotiert ist. Es folgen kelag-, 3sat-, Ernst-Willner- und Publikumspreis. Letzterer wird per Internet-Abstimmung ermittelt.

Man nennt es auch »Wettlesen«, und seit 1977 findet es statt. Der Bachmann-Preis gilt als einer der wichtigsten und renommiertesten im deutschsprachigen Raum. Viele Preisträger wie Ulrich Plenzdorf (1978), Sten Nadolny (1980), Birgit Vanderbeke (1990) oder Terézia Mora (1999) sind auch heue noch bekannt, von anderen wie Friederike Roth (1983) oder Reto Hänny (1994) hat man eher weniger gehört und gelesen.

Und auch auf Kritikerseite waren in all den Jahren viel Bekannte dabei. Natürlich Marcel-Reich Ranicki, aber auch Denis Scheck, Hellmuth Karasek, Walter Jens und Eckhard Henscheid.

Vor einigen Jahren waren die Schreiber- und Kritikerrunden mit einem Verhältnis von 20 zu 11 noch größer und weniger in das Programmschema der TV-Übertragung gepresst.

Babyficker und Hirnaufritzer

Es gab in all der Zeit Skandale und Skandälchen, wie der Babyficker-Text von 1991 oder jener Autor, der sich während des Lesens vor der Jury die Stirn aufritzte (da durften Jury-Mitglieder noch im Studio rauchen!). Eher peinliche Nummern sind der Verzehr des eigenen Textes, wie noch vor zwei Jahren zu sehen.

Nach Klagenfurt am Wörthersee reist »der Literaturbetrieb« – was immer das heißen und sein mag. Literaturagenten suchen nach neuen Schützlingen, Verlage nach wirtschaftlich tragbaren Büchern, wobei mittlerweile viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer einen Ausschnitt aus einem Buch lesen, das »im Herbst« erscheint.

Beliebtes Leiden mit Ingeborg Bachmann beim Literaten-Casting

Bachmann-Preis: EingangsbereichDie Verfechter der hohen Literatur verteufeln den sommerlichen Lesezirkus. Beliebt ist es, stellvertretend für die Namensgeberin Ingeborg Bachmann zu leiden, die – vorsichtig ausgedrückt – ihrer Geburtsstadt nie sonderlich zugeneigt war. Bachmann wäre in diesem Jahr 85 Jahre alt geworden. Sie starb 1973 im Alter von 47 Jahren nach einem Brandunfall. Seither bleibt sie auf ikonenhaften Fotos jung und faltenlos.

Niemand sprach 1977 von Casting-Shows. Dass die TV-Ãœbertragung einer Literaturveranstaltung heutzutage just diesem Format entspricht, darin liegt Ironie. Lange vor den musikalischen Abgründen von »Deutschland sucht den Superstar« und der Zurschaustellung gestörter weiblicher Psyche in »Germany’s Next Topmodel«, suchte man in Kärnten den »Superliteraten«. Solch schale Vergleiche sind bei den Verfechtern der reinen Lehre beliebt, sehen sie sich doch in ihrer Kritik am Klagenfurter Literaturzirkus quasi nachträglich bestätigt. Die Gemächlichkeit der Leseveranstaltung hat jedoch nichts mit den Krawallshows gemein, auch wenn der Gewinn eine Platzierung in den Verkaufscharts verspricht.

Wer hat schon drei Tage lang Zeit und Lust, sich das anzuschauen?

Ich war in diesem Jahr das erste Mal als Beobachter in Klagenfurt. In all den Jahren kannte ich den »Bewerb« mehr oder minder nur als eine Art Gütesiegel in verschiedenen Autorenbiografien. Wer hat schon drei Tage lang Zeit und Lust, sich all das im Fernsehen anzuschauen? Draußen lockt an den Sommerlesetagen die Sonne, so man nicht ohnehin arbeiten muss.

Wie spätestens durch Kommentare im Internet offensichtlich geworden, ist das Verfolgen des Gesamtwettbewerbs jedoch nicht Voraussetzung für eine Meinung. Denn Klagenfurt ist oft mehr Glaube statt Urteil. Und überhaupt: Wie kommt man in diese Kreise? Wie kommt man nach Klagenfurt? Wie kann man dort vor Ort als Zuschauer und Kritikkritiker mit dabei sein?

Heute kenne ich die Antwort: Urlaub nehmen, Hotel buchen und hinfahren. So einfach ist das.

Die Türen des ORF-Theaters stehen für alle offen. Wer rechtzeitig kommt, sitzt im Studio. Man kann das Ganze aber auch im »kelag-Café« oder draußen im ORF-Garten auf Bierbänken in Partyzelten verfolgen.

Auf den von meinen Vorurteilen gezeichneten Bildern sah ich VIP-Bereiche für Freunde der Sponsoren und eine strikte Abtrennung des »Literaturbetriebs« vom gemeinen Lesevolk.

Literarischer Mikrokosmos: Nett und mal was anderes

Aber dem ist nicht so. Es ist die Gleichheit und das angenehme Miteinander, das auffällt und mein bleibender Eindruck ist. Da sieht man sich plötzlich im angeregten Gespräch mit einem Jurymitglied. Man findet rasch Anschluss, trifft nette Menschen aus Verlagen, dem literarischen Umfeld oder solche, die einfach nur hier herkommen, weil’s nett und mal was anderes ist.

Vom Eröffnungsabend bis zur Preisverleihung: Für fünf Tage wird Klagenfurt zum literarischen Mikrokosmos, zur Welt der Thursday Next. Man ist für fünf Tage aus dem Alltag gerissen und tauscht sich mit wildfremden Menschen über Bücher aus, geht mit Verlagsleuten essen, probiert beim Bürgermeisterempfang von einer Marzipantorte mit dem Konterfei Bachmanns, die Jazzband am nächtlichen Lendhafen spielt zu den Versen eines Dichters. Nach den Leserunden trifft man Literaturkritiker und Jurymitglieder im Strandbad wieder, denn natürlich begegnet man fünf Tage lang ohnehin immer den gleichen Leuten überall – dem Vorjahressieger sowieso.

Die Kombination von Lesezeit von 10 bis 15 Uhr und anschließendem Besuch des Wörthersees ist ohnehin unschlagbar, wenn die Temperatur um die 30 Grad pendelt. Ich lerne auch mein Hotelzimmer zu schätzen, dessen Lage im Hinterhof mit Direktzugang zunächst etwas befremdlich schien, dessen Kühle und Ruhe jedoch perfekt sind.

Twitter als Tuschelebene

Das ORF-Theater-StudioIch war nicht an allen Tagen direkt im Studio, nur am dritten. Unten im Raum hinter dem kelag-Café, in dem die Veranstaltung auf großem Monitor verfolgt werden kann, twittert es sich schneller und besser am Notebook als per iPhone aus dem Studio ohne WLAN und mit wackligem Handynetz. Im Studioraum, der im Fernsehen um einiges größer ausschaut als er wirklich ist, bekommt man jedoch die Reaktion des Publikums besser und direkter mit als im Fernsehen. In der Regel geht es um Zustimmung oder Ablehnung von Jurorenstatements.

Natürlich kann man auf Twitter wunderbar über Teilnehmer und Jury lästern. Der Strom der 140-Zeichen-Nachrichten schafft eine genauso sympathische »Tuschelebene« wie bei den Lümmeln in der letzten Bank, die über Lehrer und Mitschüler lästern.

Aber wie in der Schule auch, kann man durchaus einiges über die gegenwärtige Literatur und ihre Kritiker lernen – wenn man aufpasst und sich darauf einlassen will.

Texte werden gleich miteingeladen

Bei früheren Wettbewerben wurden nur die Schriftstellerinnen und Schriftsteller eingeladen, und es war eine Ãœberraschung, welchen Text sie mitbringen. Jetzt werden die Texte gleich mit eingeladen, diese sind also allen sieben Kritikerinnen und Kritikern bekannt, was ohne Frage für die Beurteilung besser ist. Als Publikum, egal ob im Studio, im kelag-Café oder sogar beim Public Viewing am Lendhafen, bekommt man die Texte direkt vor der jeweiligen Lesung ausgehändigt, während im TV der Einspielfilm läuft, der den Autor vorstellt. So erlebt man unmittelbar, wie ein guter Text unter dem Duktus eines Leseroboters zertrampelt wird oder man kann – durch einen hypnotischen Lesestil betäubt – zunächst gar nicht auf den Text blicken. Lesestil und Vortrag werden nicht bewertet, doch sie verfälschen das spontane Urteil des Publikums ungemein. Und nicht nur Vortagsart, sondern auch Frisuren können irritieren.

Enttäuschende Kritikerrunde

Schwanz des Klagenfurter Literatur-LindwurmsEnttäuscht war ich von der Kritikerrunde. Selten kam es zur Auseinandersetzung – zur fundierten Auseinandersetzung wohlgemerkt! Da wurden viele »ich finde« und »für mich war das« in den Raum geworfen, ohne Belege, ohne Begründung und ohne Widerspruch. Oft wurde die Unterhaltung durch die Moderatorin beendet, die auf den Zeitplan verwies. Natürlich kann nicht die Tiefe erreicht werden, wie sie Malte Bremer in unserer Textkritik zeigt, doch von Leuten, die als Kritiker auftreten, hätte man sich einen souveräneren Umgang mit dem Handwerkszeug gewünscht, so es überhaupt sichtbar wurde. Diese recht flaue Kritikerrunde machte es dem Publikum einfach, anderer Meinung zu sein oder Entscheidungen nicht nachvollziehen zu können. Nur bei einer Jurorin habe ich es erlebt, dass mir ihre präzisen Ausführungen eine andere Sicht auf den Text ermöglicht haben. So muss gute Literaturkritik sein, aber so habe ich sie in Klagenfurt zu selten gehört.

Ruckzuck-Instant-Begründungen und Standup-Laudationes

Die Ruckzuck-Instant-Begründungen bei der finalen Abstimmung am Sonntag und die Standup-Laudationes, die ohnehin von derjenigen oder demjenigen kamen, die oder der Gewinnerin oder Gewinner eingeladen hatte und daher sicher schon vor der Veranstaltung verfasst wurden, machten die Juryentscheidung alles andere als transparent.

Auf der anderen Seite konnte man, so man wollte, nicht nur Meinungen hinaustwittern, sondern sich selbst hinterfragen, warum man denn einen Text gut oder schlecht findet.

Widerlegung der Kritik-Plattitüde an Verlagen

Es ist eine landläufige und gerade von unbekannten und schlechten Möchtegern-Schriftstellern immer wieder gern gehörte Kritik-Plattitüde an den deutschsprachigen Verlagen, dass man sich dort nichts traue, dass man dort keine deutschsprachigen Autoren mehr verlege und man dort ohnehin nur auf Lizenzeinkäufe aus den USA setze.

Eine knappe Woche lang kann man in Klagenfurt unmittelbar erleben, wie sehr nach guten deutschen Schriftstellerinnen und Schriftstellern gesucht wird – und das nicht nur von den sieben Kritikern im Studio. Und was ist überhaupt eine gute Autorin, ein guter Autor? Und dass es da draußen »wesentlich bessere Texte gäbe, als die 14 gehörten«, ist eine Ausflucht.

Und? Nächstes Jahr wieder?

»Und? Wie war das erste Mal? Nächstes Jahr wieder?«, werde ich gefragt, als es nach der Preisverleihung mit dem Radl wieder den Lendkanal entlang zum Wörthersee geht.

»Ja, ich denke schon. Nächstes Jahr wieder.«

Wolfgang Tischer

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