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Eine Textkritik am Rande des Abhangs

Kurz vor Weihnachten schenken wir Ihnen und schenken wir einer Autorin eine 5-Brillen-Wertung von Malte Bremer.

Unser Textkritiker schaut diesmal sehr genau hin, was warum wie gut ist.

Am Rande des Abhangs

von Louise Lunghard
Textart: Prosa
Bewertung: 5 von 5 Brillen

In einer Nacht vom 28. Februar auf den 1. März tobte ein Sturm über Deutschland, Österreich und die Schweiz. Ein Ergebnis dieses Ereignisses wog 2430 Gramm, hatte eine Länge von 48 Zentimetern und erhielt den Namen des Sturms: Wiebke. Das ist banal. Die schönsten Frauennamen enden auf a. Sturmunabhängig.

Die Eltern lebten noch manches Jahr neben sich her. Weitere Stürme kamen nicht auf.

Wiebke blieb leicht, von kleiner Statur, und trug mit vier Jahren eine Brille zwischen dem Kastanienrot ihrer Haare.

Die Mutter ging Zigaretten holen, als Wiebke fünf Jahre, 364 Tage und sieben Stunden alt war. Sie kam nie zurück. Manche Frau lebt, was Mann will. Mehr gibt es an dieser Stelle nicht zu sagen.

Ihren sechsten Geburtstag feierte Wiebke ohne schriftlichen Gruß und Sopran beim Geburtstagsständchen. Den Kuchen hatte der Bäcker die Straße quer gegenüber gebacken. Wie jeden Tag. Wiebkes Vater konnte nicht backen. Ein Herd, viele Schalter. Es gab auch Licht auf dem Geburtstagstisch – eine selbstklebende Leuchtfolie in Neongrün, mit den Jahren ausgewechselt in LED-Lauflicht-Streifen mit Farbwechsel.

In dem Film Hass heißt es am Anfang und am Ende: »Dies ist die Geschichte von einem Mann, der aus dem 50. Stock von ‘nem Hochhaus fällt. Während er fällt, wiederholt er, um sich zu beruhigen, immer wieder: ‚Bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut …‘. Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung!« Stimmt.

Wiebkes Vater heißt Hugo. Er ist 31 Jahre alt, von Sternzeichen Widder. Mancher weiß nun alles, was er wissen muss. Hugo trägt ein voreiliges Grau in den Schläfen und er arbeitet in Wechselschicht. Früh – spät – nachts. Seine Arbeitskleidung ist eine blaue Latzhose, die er häufig wechseln muss aufgrund der Hitze am Arbeitsplatz.

Hugo schäumt in einem Automotive-Unternehmen. Er ist so wenig Schäumer wie einer, der bohrt, ein Bohrer ist. Nicht jede Tätigkeit verdient einen eindeutigen Namen. Hugo hilft bei der Fertigung von Stoßfängern, Kotflügeln, Längsträgern und Heckspoilern für noble Karosserien wie Bentley, Bugatti, Lamborghini und Porsche. Sein eigenes Auto ist ein alter Ford Escort LX Overwiew, rot, Baujahr 1996. Dieses Verkehrsmittel wird bei der nächsten TÜV-Prüfung gnadenlos durchfallen. Das ahnt Hugo schon heute.

Wenn Hugo Spät- oder Nachtschicht hat, darf Wiebke auf dem Weg in den Kindergarten im alten Ford sitzen, vorne, wie eine Königin. Die anderen Kinder werden außerdem im Auto gefahren, wenn Hugo Frühschicht hat.

Das Lieblingsessen von Wiebke ist Pommes mit Schnitzel. Schnitzel lassen sich zubereiten wie folgt: Jemand klopfe sie weich, wende sie in wenig Weizenstaub, Keimzelle, Bröseln und brate sie sanft in Butter. Wird die Butter schwarz, war sie zu heiß. Versuch und Irrtum nach Thorndike.

Wiebkes Mutter lebt mittlerweile irgendwo mit irgendwem. Irgendwer entwickelt sich nach erster Romantik zu einem, bei dem nach zwei bis ungezählt Flaschen Bier die Hand eigenständig ausholt. Ziel ist zu 99,9 Prozent Wiebkes Mutter. Der Rest trifft die Wand. Glück erkennt sich später. Wiebkes Mutter wird bei ihm, der namenlos bleibt, ausharren, bis wer wen ins Grab bringt. So oder so gibt es keinen Fehler in dieser Rechnung.

Voller Sehnsucht denkt Wiebke oft an ihre Mutter. Nachts kräuseln sich Gedanken zu Bildern. Kinder sind so. Die Phantasie macht aus Müttern Mütter.

Hugos Vater Hermann ist seit 37 Jahren verschollen im Land. Man denke sich einen Vater aus und werde, wie er ist.

Seit dem 10. März, sechs nach Wiebkes Geburt, ist Hugo Vater. Er war auch vorher Vater, nebenbei von Arbeit, Streitigkeiten, Geldnöten. Als Wiebkes Mutter nicht nach Hause zurückkehrte, er zwei Stunden, drei Stunden, fünf Stunden auf den Nachschub der Zigaretten wartete, das Kind leise im Bett unter der Decke weinte, stellte er sich eine einzige Frage: »Wie?«

Wiebkes Mutter, die den Namen Carla erhält, wollte nie Mutter sein. Sie mochte den Bauch nicht, den sie vor sich her schob, sie mochte kein Geschrei von einem strampelnden Zellhaufen, keine Windeln, weder mit noch ohne, kein Glucksen und Spucken. Was Wiebkes Mutter mochte war, sich ellenlange Sendungen aus dem Bildungsfernsehen von Teil eins bis achthundert siebenundneunzig anzusehen, dabei kiloweise Chips und Salzstangen zu verzehren, um innerhalb von vier Jahren ihr Gewicht erfolgreich zu verdoppeln.

Hermann, mit sechsundsechzig bereits alt und gebeugt, wünscht sich mittlerweile ein Enkelkind, vielleicht ein Zartes mit kastanienrotem Haar oder ein Schaf mit treuen Augen oder eine Maus mit weichem Fell. Hauptsache ein pochendes Herz, egal in welcher Größe.

Die Lebenserwartung von Hermanns Frau Lotte lag statistisch gesehen höher als seine. Entgegen jeder Statistik ist sie früher gestorben. Nicht alles lässt sich auf die Minute berechnen.

Ein wesentlicher Punkt, wenn nicht der Wesentlichste in der Geschichte, ist die Wohnung von Hugo und ehemals Carla. Sie ist aller Wahrscheinlichkeit nach lebensmüde und strömt einen Geruch aus, der an Faulheit erinnert. Farblos geht sie in Tag und Nacht, als wolle sie ihre Belanglosigkeit offensiv demonstrieren. Ihr innerer Zustand ist wie kurz vor einer Organtransplantation. Drohende Komplettentleerung, und Überleben nicht unbedingt gesichert. Hier ist sich am Rande des Abhangs mit allen erdenklichen W-Wörtern daheim. (Auch eine grammatikalische Entartung muss dabei nicht fehlen!)

Hugo fällt. Die Landung ist nicht aufzuhalten, so wenig wie überhaupt.

© 2015 by Louise Lunghard. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Ein grandioser, vorbildlich eigenwilliger Text
Wie hier mit Erwartungen, Sprache und Konstruktionen gespielt wird, sucht seinesgleichen! Genauere Hinweise und Begründungen finden sich in der Einzelkritik. Ich bin mehr als nur sehr gespannt auf den ganzen Text!

Die Kritik im Einzelnen

Was ein famoser Beginn: Es wird nur angedeutet, man bekommt lakonisch Schnipsel geliefert, die Zusammenhänge muss man selbst herstellen. Dazu tritt der Erzähler auf, kommentiert die Ereignisse, gibt seinen Senf dazu: In dieser Sturmnacht wird ein Kind gezeugt und nach dem Sturm benannt – das sei banal. Wieso? Der Erzähler hält halt Frauennamen auf a für besser: das seien die schönsten!
Wir erfahren: Die Ehe schlurte vor sich hin, stürmische Nächte gab es wohl nicht mehr (zumindest nicht im erotischen Sinne). Andere Erzähler würden vielleicht nach Erklärungen suchen, das Scheitern dieser Beziehung untersuchen – aber nicht hier: Es ist, wie es ist. Sachlich, trocken, neutral.
In dieser Beziehungslosigkeit wächst Sturmtochter Wiebke auf. Sie ist Brillenträgerin seit ihrem vierten Lebensjahr. Erst jetzt wird deutlich, was Die Eltern lebten noch manches Jahr neben sich her eigentlich für Folgen hat: Wiebke spielt keine Rolle, wichtig ist sie nur bei der Brille.
Dieser uralte Witz vom Geschwind-Zigaretten-holen-Gehen bekommt eine ironische Umwertung durch das lapidare Manche Frau lebt, was Mann will – denn das könnte auch anders verstanden werden, nämlich so, dass Wiebkes Vater genau das gewollt hätte, aber nur Frau das ausführen kann. Tatsächlich war es ja der Mann, der das Nebeneinander-her-Leben duldete. Frau aber hält es nicht mehr aus und holt geschwind Zigaretten.
Der Zeitpunkt wird buchhalterisch-exakt genannt. Wer nicht aufmerksam ist, merkt nicht, dass die Mutter einen Tag vor Wiebkes 6. Geburtstag verschwindet. Deswegen fehlt der Sopran, und es gibt nicht einmal einen schriftlichen Gruß. Was sagt uns das zum Verhältnis der namenlosen Mutter zu Wiebke?
Schön, dass dazu weiter nichts ausgeführt wird; so lassen sich eigene Schlussfolgerungen zum Charakter der Mutter ziehen – auch wenn uns tiefere Gründe verschwiegen werden.
Vom Vater wissen wir, dass ihn die Bedienung eines Herds überfordert – das wird selbstverständlich nicht ausgesprochen. Das schmucklose Ein Herd, viele Schalter macht das Alberne von Vaters Überforderung viel anschaulicher. Dass es auch Licht gab in dieser letztlich traurigen Situation, ist blanker Zynismus: Schließlich handelt es sich nur um Beleuchtung!  zurück

Das Thema des Romans wird eingeführt, es geht um den Absturz, und schließlich um die Landung. In ersten Kapitel bekommen wir nur den Beginn des Absturzes mit! zurück

Wer kennt nicht diese Frage nach dem Sternzeichen! Die fragende Person glaubt dann anhand der Antwort tatsächlich, alles zu wissen über den Befragten. Die Fragenden nicken sogar dann wissend, wenn man ein falsches Sternzeichen angibt. Und lässt man sie raten, liegen sie in der Regel falsch. Also: Der Vater ist Widder? Mir sagt das gar nichts. zurück

Diese Personifizierung einer Farbe hat was: Fühlt sich Hugo deswegen etwa alt? zurück

Es sollte wegen der Hitze heißen, denn diese ist der Grund für den Kleiderwechsel; aufgrund wird korrekt verwendet bei Motivation oder Einstellung zu einer Handlung: Aufgrund seiner Erfahrung … (also nicht wegen seiner Erfahrung!) zurück

Schäumer = Schaumschläger? Das ist einfach nur witzig!  zurück

Jetzt unterweist der Erzähler Hugo in der Kunst der Schnitzelzubereitung – schließlich ist das Wiebkes Lieblingsessen, und Mutter ist weg. Allerdings fehlt noch die Bedienungsanweisung für den Herd. Und ob Hugo beim Einkaufen Weizenstaub finden wird oder gar Keimzellen, bleibt fraglich. zurück

Ist das Ziel nicht zu 100% die Mutter, und beträgt lediglich die Trefferquote 99,9%? Das würde ich umformulieren. zurück

Erneut bissige Wortspiele, diesmal mit den Bedeutungen von Mutter bzw. Vater: zum einen die biologische Ebene, zum anderen die familiäre. zurück

Zunächst habe ich den Punkt nach Frage ersetzt durch einen Doppelpunkt, denn diese Frage folgt unmittelbar. Dabei ist das gar keine Frage, sondern lediglich ein simples Fragewort! Es liegt beim Leser, dieses Fragewort zu ergänzen, und ich vermute, da gibt es nichts Falsches! Der Erzähler hält sich deswegen fein raus. zurück

Erneut dieses Spiel mit dem Leser: Wiebkes Mutter erhält genau an dieser Stelle ihren Namen, so, als ob dem Erzähler gerade eingefallen wäre, dass sie noch keinen hat. Gleichzeitig tut der Erzähler so, als handle es sich um eine reale Person, die durch einen erfundenen Namen geschützt werden müsse. zurück

Dieses sprachliche Zahlenmonster (897) würde ich durch Ziffern ersetzen (wie alle Zahlen jenseits der 12). zurück

Man hätte viel erzählen können über das Zerwürfnis zwischen Hugo und seinen Eltern; angedeutet war es schon sehr früh durch seit 37 Jahren verschollen im Land. Jetzt erfahren wir, dass er sich am liebsten ein Enkelkind gewünscht hatte mit kastanienrotem Haar … dabei hat er ein solches. zurück

Die Personifizierung der Wohnung als ironische Verkehrung: Die Wohnung hält diese Personen nicht mehr aus? Wohl eher hält Hugo es nicht mehr aus. zurück

Es ist sich daheim: Welch gelungene grammatische Entartung! zurück

© 2015 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.