Etwa eine halbe Million Menschen, so wird geschätzt, sitzen in den Wohnzimmern der Republik vor Laptops oder sogar Schreibmaschinen und verfassen »Romane«.
Ihre Qualifikation: Deutschunterricht.
Ihr Ansatz: autobiografisch.
Ihr Impetus: Schriftsteller werden, also vor allem reich und berühmt.
In einer fünfteiligen Serie analysiert der Autor Tom Liehr schonungslos, warum diese Werke dennoch kein Verlag veröffentlicht. Immer am Freitag erscheint ein neuer Teil.
Teil 3: Warum Verlage keine Arschlöcher sind
Ich wage die Behauptung, dass neunzig Prozent der Romanmanuskripte, die an der GMV teilnehmen, auf solche oder sehr ähnliche Weise entstehen, wie im zweiten Teil geschildert. Die Frage, ob diese Leute es eigentlich besser könnten, ist bis hierhin nebensächlich. Ausschlaggebend ist, dass sie sich die entscheidende Frage, wer das wie und warum vermarkten könnte, erst im Anschluss stellen. Darüber Nachdenken, ob sie als Autor in diesem Text erkennbar werden, als ein Autor, den es sich aufzubauen lohnt, mutet sich fast niemand zu. Denn Debütanten, die mit Bestsellern starten, sind absolute Ausnahmen. Die meisten erreichen eine gewisse Bekanntheit erst mit dem dritten oder vielleicht erst fünften veröffentlichten Roman (und manchmal nie). Das Investment der Verlage zielt aber genau hierauf ab. Nahezu jeder, der es bis zum Verlagsvertrag schafft, wird als eine der ersten Fragen hören: »Können wir von Ihnen mehr erwarten?«
Der skizzierten Vorgehensweise liegt die Auffassung zugrunde, die Verlage wüssten schon, wie man den Rest erledigt. Der Autor hat sein Buch vorgelegt, und alles andere sei Aufgabe der Profis. Ich stelle etwas her, nämlich einen – irgendeinen – Text, und über den Verkauf, gar die Verkäuflichkeit dieses Textes sollen sich andere Gedanken machen. Und wenn sie das nicht tun, sind sie eben Arschlöcher. Ignoranten. Mainstream-Deppen. Profitgeier. Jedenfalls Leute, die von Kunst keine Ahnung haben. Das ist eine wirklich interessante Sicht auf den Literaturmarkt.
Wer das nicht so sieht, hat sich vielleicht mit Wirtschaft im Allgemeinen und der Verlagsbranche im Speziellen auseinandergesetzt. Tatsächlich ist es so, dass Verlage in der Hauptsache Buchverhinderer sind. Nur ein Promille der GMV-Pakete wird irgendwann zum Buch, während 99,9 Prozent (eigentlich sind es noch mehr) in der Rundablage landen, oder eben beim Vanity-Publishing. Dieser Aspekt verursacht viel Zorn, denn er lässt die Verlagsbewerbung einem Lotteriespiel ähneln, mit Chancen, die denjenigen auf vier Richtige in etwa entsprechen. Mit einem feinen, entscheidenden Unterschied: Man spielt das nicht wöchentlich, sondern mit jedem Manuskript nur ein einziges Mal (multipliziert mit der Anzahl der Verlage, die man anschreibt).
Aber es ist keine Lotterie, sondern ein Geschäft. Ein Verlag, der einem Debütanten ein paar tausend Euro Vorschuss zahlt, um ein, zwei Jahre später – und mit ungewissem Ausgang – ein Buch auf den Markt zu bringen, das bis dahin noch weit mehr Geld gekostet hat, geht dieses Risiko ein, weil er darauf hofft, dass es Rendite bringt. Die Umsätze mit dem Titel müssen viele Arbeitskräfte finanzieren, von Verwaltung über Lektorat, Ausstattung und Presseabteilung bis hin zu den Vertretern, die die Buchhändler – zuweilen jeden einzeln – davon zu überzeugen versuchen, genau dieses Buch des unbekannten Autors ins Sortiment zu nehmen. Hinzukommen diverse Sachkosten – und natürlich die Herstellungs-, Lagerhaltungs- und Transportkosten für das Buch selbst. Ein neuer Titel im Programm eines Publikumsverlags rechnet sich, sagt man, frühestens ab 5.000 verkauften Exemplaren (je nach Vorschusshöhe, Ausstattung und Marketingaufwand). Der Verlag hat aber nicht nur Geld zu verlieren, sondern auch seinen Ruf. Ein Haus, das ständig unerhört schlimme Romane auf den Markt wirft, wird früher oder später in Schwierigkeiten geraten, es sei denn, er ist ein kultiger Trash-Verlag (oder er trägt einen Frauennamen).
Abseits der unumstößlichen Tatsache, dass viele, möglicherweise sogar die meisten Manuskripte abgelehnt werden, weil sie einfach scheiße sind, mag es Gründe für die Verweigerung der Inverlagnahme geben, die nicht so offensichtlich sind. Verlage haben Programme und Profile. Selbst die vielen Random House-, Bertelsmann- und Holtzbrinck-Imprints sind stark konturiert, und für Häuser wie Diogenes, Hoffmann & Campe, Suhrkamp, Hanser, Aufbau, Wagenbach und viele andere gilt das erst recht. Wer, hiervon abgesehen, meint, die kleineren profilierten Verlage von Blumenbar bis suKulTuR würden die schlechteren, die Zweite-Wahl-Manuskripte veröffentlichen, täuscht sich. Tatsächlich gibt es kleine und kleinste Verlage, die der Idee nachzujagen scheinen, alleine die Menge der Veröffentlichungen würde irgendwann zum Erfolg führen, aber in der Regel geschieht das nicht.
Vom Offensichtlichen im Hinblick auf das Programm abgesehen – der Verlag publiziert z.B. überhaupt keine Fantasy und lehnt deshalb die »Herr der Ringe«-Nachahmung ab (was nur wenige davon abhält, sich trotzdem bei solchen Verlagen mit Fantasy zu bewerben, und übrigens, man glaubt es kaum, werden sogar Telefon- und Adressbuchverlage mit Romanmanuskripten behelligt!) – mag es also Aspekte geben, die nicht so transparent sind.
Zu Teil 4: »Warum es selbst die besten Manuskripte oft nicht schaffen«
Hinweis: Kommentare zu dieser Serie können Sie beim ersten Teil abgeben (auch zu Teil 2-5). So gestalten sich die Rückmeldungen etwas übersichtlicher.
Links zu Tom Liehr:
Autorensite Tom Liehr www.tomliehr.de
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