Auf den Spuren des Schriftstellers Jack London reiste Wolfgang Tischer bei -30 Grad Celsius in den Nordwesten Kanadas – mit dem Flugzeug, dem Auto, per Hundeschlitten und auf Schneeschuhen.
Freuen Sie sich auf eine filmische Reise an den zugefrorenen Klondike-River im Yukon und durch die legendäre Goldgräberstadt Dawson City, wo noch heute die Blockhütte von Jack London steht – zumindest der untere Teil davon.
Die Video-Reportage: Die Reise zu Jack London
Aufbruch in den Nordwesten
Februar 2016. Früher Morgen. Von Kanadas Hauptstadt Ottawa aus reise ich in den Nordwesten des Landes, dorthin wo sich um 1900 Tausende auf den Weg machten. Am Klondike River im Yukon hatte man Gold gefunden. Unter denen, die sich dort Glück und Reichtum erhofften, war auch der amerikanische Schriftsteller Jack London. 2016 ist sein 100. Todestag und sein 140. Geburtstag. Ich begebe mich auf Spurensuche an den Ort, der ihn zu vielen seiner Werke inspirierte.

Es war kalt in Ottawa, mit Minus 30 Grad Celsius das kälteste Wochenende seit Ewigkeiten. Um in den Yukon zu kommen, geht es zunächst an die Westküste Kanadas. Zwischenstopp in Vancouver. Knapp sechs Stunden Flugzeit. Um drei Stunden muss die Uhr zurückgestellt werden. Flug über die schneebedeckten Rocky Mountains.
In Vancouver ist es grau und regnerisch, die Temperatur über 0 Grad. Es wird nicht so bleiben. Auch im Yukon soll es minus 30 Grad haben.
Die Reiseroute 2016
Von Kanadas Hauptstadt geht es in den Westen und dann hoch in den Norden.
Die Reiseroute 1897
Jack London kommt im Sommer 1897 mit dem Schiff in Dyae an. Es ist der südliche Zipfel Alaskas, der sich hier unter das nördlich gelegene Kanada schiebt. Wie Tausende vom Goldrausch Getriebene macht sich London zu Fuß auf den Weg, den Chilkoot-Pass hinauf. Oben ist die kanadische Grenze. Aufgrund einer Hungersnot haben die kanadischen Behörden verfügt, dass nur die über die Grenze und weiter hinauf an den Yukon-River reisen dürfen, die Nahrungsmittel für ein ganzes Jahr mit sich führen. Niemand kann so viel auf einmal tragen. Pferde und einheimische Träger waren teuer geworden. Und so laufen die Männer den Weg von der Hafenstadt bis hinauf auf den Pass unzählige Male, um ihre Verpflegung zur Waage auf den Berg zu bringen. 750 Kilogramm bis rund 1 Tonne konnten das sein. Die Fotos der endlosen Menschenschlange am letzten Wegstück hinauf zum Chilkoot-Pass sind legendär. 30 oder 40 Mal musste die Strecke gegangen werden, die ein geübter Wanderer in zwei Tagen schafft. Man konnte es sich nicht leisten, schlapp zu machen, denn wer die Kette verließ, wurde oftmals erst wieder nach Stunden hineingelassen. 2.000 Kilometer Strecke kamen so zusammen. Danach ging es hinab zu den Flüssen und Seen Kanadas. Mit fremden Booten gegen Geld oder mit selbst gezimmerten Booten ging es weiter, den Yukon hinauf nach Whitehorse.

Heute mit dem Flugzeug sind es rund zwei Stunden von Vancouver nach Whitehorse, der Hauptstadt des Yukon-Territory. Der Yukon ist so groß wie Deutschland, Österreich und die Schweiz zusammen. Doch es leben hier nur rund 34.000 Menschen. 28.000 davon allein in Whitehorse. Statistisch leben hier 0,07 Menschen auf einem Quadratkilometer.
Mit den vielen Lichterketten sieht es in Whitehorse immer noch ein wenig aus wie Weihnachten. Im Winter herrscht hier in der Polarregion ewige Nacht, jetzt im Februar dauert der Tag bereits wieder 9 Stunden.
Navigierte Jack London 120 Boote durch die Stromschnellen bei Whitehorse?
Und hier in Whitehorse begegnet er mir zum ersten Mal: Jack London, als Bronzebüste an der Hauptstraße.

Whitehorse, das klingt, als ginge der Ortsname auf einen indianischen Ursprung zurück. Tatsächlich hat die Stadt ihren Namen aber von einer tückisch engen Stelle des Yukon-Flusses, der sich hier zwischen steilen Felswänden hindurchschob. Die hohen Stromschnellen mit ihrer weißen Gischt wirkten wie die ungestüme Mähne eines weißen Pferdes. Als Jack London nach Kanada kam, war er bereits Austernpirat und Schiffsbesitzer gewesen. Es geht die Legende, dass er gegen Geld über 120 Boote durch die Flussenge gebracht habe, durch die sich sonst niemand traute. Heute ist die Flussenge längst weggesprengt und beseitigt.
Doch war Jack London tatsächlich damals so ein bärenstarker Abenteurer? Das gilt es herauszufinden.
Flugzeuge kleiner als Reisebusse
Am nächsten Morgen geht es weiter. Endlich nach Dawson, der legendären Goldgräberstadt, dort wo der Klodike-River in den breiten Yukon mündet. Die Flugzeuge werden kleiner als ein Reisebus. Drinnen ist es kalt, man behält die dicken Jacken an. Nochmals eine Stunde Flug. Als wir in Whitehorse starten ist noch gar nicht klar, ob wir in Dawson landen können. Laut Wetterbericht hängen dort noch die Wolken im Tal und der Anflug muss auf Sicht erfolgen. Wenn das so bleibt, werden wir einige Stunden mehr im Flugzeug verbringen und bis weit hinauf in die Northwest Territories fliegen, bevor auf dem Rückweg ein neuer Anflug nach Dawson versucht werden kann.

Doch der Himmel klart auf und zwischen den Bergen des Klondike-River setzt die zweimotorige Propellermaschine sicher auf. Damals in den Zeiten des Goldrausches war Dawson nur mit dem Boot oder zu Fuß erreichbar. Heute kann man fliegen. Oder mit dem Auto anreisen. Im Sommer wird der Klondike-Highway zur Wohnmobil-Piste für Urlauber. 520 Kilometer von Whitehorse bis nach Dawson. Für viele ist es ein Zwischenstopp auf dem Weg weiter den Dempster Highway hinauf in den Norden. Die Grenze zu Alaska ist nur wenige Kilometer von Dawson entfernt, dorthin führt der Top-of-the-World-Highway.
Ankunft in der Einsamkeit, Ankunft in Dawson City
Jetzt, im Winter liegt Dawson nahezu einsam im Schnee. Kein Wohnmobil ist zu sehen. Etwas über 1.000 Menschen leben hier im Winter. Im Sommer sind es ein paar mehr. Zu Zeiten des Goldrausches vor etwas über 100 Jahren hatte Dawson 40.000 Einwohner. Fast alles Männer. Nur rund 800 Frauen lebten hier als Barfrauen, Gesellschaftsdamen oder Prostituierte. Die meisten der Einwohner lebten damals in Zelten, zum Aufwärmen kam man meist in die Saloons.

Dawson sieht heute noch genauso aus wie damals. Dafür sorgt eine strenge Baugesetzgebung. Neue Gebäude müssen im damaligen Stil errichtet werden, architektonische Fremdkörper werden nicht zugelassen. Wie in einer Westernstadt schmückte man schon damals einfache Hütten mit einer etwas nobleren Fassade. Doch wie eine Westernstadt mit rauchenden Colts und Schießerein darf man sich das Dawson von damals nicht vorstellen. Etwas Gold hatte hier fast jeder und einen großen Banküberfall hat es nie gegeben. Es wäre in der damaligen Einöde schlichtweg nicht möglich gewesen, einfach so zu fliehen.

Dawson City wird in vielen Romanen und Geschichten Jack Londons erwähnt. Als Jack London 1897 in den Yukon kam, war er noch kein Schriftsteller, aber er wollte es werden. Vieles von dem, was er hier erlebt hat, hat er später literarisch zu Gold gemacht. Er sollte nur mit 4 Dollar 50 vom Klondike zurückkehren. In Dawson registrierte er seinen Claim, also das Stück Land auf dem er nach Gold suchen durfte. Nach einem kurzen Aufenthalt in Dawson baute sich London zusammen mit seinen Reisegenossen ungefähr 100 Kilometer flussaufwärts von Dawson entfernt auf Steward Island eine Hütte, wo er den Winter 1897/98 verbrachte.

Jack London: Ein Seemann auf Schneeschuhen
Im Aurora-Hotel treffe ich mich mit Dan. Er war viele Jahre lang Englischlehrer in Dawson. Er empfiehlt mir das Buch »Sailor on Snowshoes« von Dick North. North war Journalist, lebte ebenfalls in Dawson und gilt als einer der profundesten Jack-London-Spezialisten. North war es auch, der maßgeblich an der Wiederentdeckung von Jack-Londons-Blockhütte beteiligt war, das war in den 1960er-Jahren. Man fand Jack-Londons-Namenszug an einer Hütte »Jack London, miner, author, Jan 27, 1898«. Sowohl in Dawson als auch im Jack-London-Museum in Kalifornien wollte man die Hütte haben. Daher fand man einen Kompromiss: In Dawson steht heute die untere Hälfte der Hütte, in Kalifornien die obere. Die jeweils fehlende Hälfte wurde rekonstruiert.

Das Jack-London-Museum in Dawson ist winzig. Im Winter ist es geschlossen, man gelangt nur durch den Hintereingang hinein. Es brennt kein Licht, aber es gibt auch nur wenige Fotos und Faksimiles zu sehen.

Dan erzählt mir, dass man Londons Darstellung der Eingeborenen heute als nicht mehr ganz so politisch korrekt empfindet und der Schriftsteller daher in Kanada etwas umstritten sei. Dan hält diese Diskussion für überzogen. London war ein Kind seiner Zeit und in diesem Kontext war er tatsächlich eher fortschrittlich gesellschaftlich engagiert. London war viele Jahre Mitglied der sozialistischen Partei und setzte sich für die Rechte der Menschen und der Arbeiter ein.

»Der Ruf der Wildnis«, »Lockruf des Goldes« oder »Wolfsblut«: Die Abenteuergeschichten ihrer Jugend führen viele Europäer in Kanadas Norden. Dick Norths Buch ist auch hier eine großartige Quelle, denn er suchte nach den Orten und Menschen, die London literarisch verarbeitet hat wie beispielsweise den Schäferhund-Bernhardiner-Mix Jack, dem London bei Weggenossen in Dawson begegnete und Vorbild für den Hund Buck in »Der Ruf der Wildnis« war.
Jack London ist im Yukon nicht die literarische Nummer 1 – Hier ist man eher Service orientiert
Im Yukon jedoch ist Jack London nicht die literarische Nummer 1, sondern es ist er hier, dessen Büste sich ebenfalls in Whitehorse an der Hauptstraße befindet: Robert W. Service. In Deutschland ist er unbekannt, seine Werke sind nicht übersetzt. Hier jedoch ist er der »Barde des Yukon«, obwohl Service eigentlich ein Bankangestellter war, der ursprünglich aus Schottland stammte. Die Hütte von Service, der kurz nach 1900 hier in Dawsons Bank arbeitete, steht noch an ihrem ursprünglichen Standort nur zwei Häuser von Londons Museum und Hütte entfernt. Alles ist hier etwas größer, das Museum wird nicht von einem Verein, sondern vom Staat unterhalten. Das bekannteste Gedicht von Service »The Spell of the Yukon – Der Zauber des Yukon« steht hier in Dawson auf Hauswänden. Und das ist der Grund, warum es oft nicht selten vorkommt, dass plötzlich Menschen abends in den Kneipen aufstehen und ihn zitieren, Robert W. Service jedoch hierzulande unbekannt ist: Er schrieb Gedichte mit Rhythmus und Reim, manchmal pathetisch, manchmal skurril und mit viel schwarzem Humor. All das lässt sich nicht so gut übertragen wie die Prosa von Jack London.

Im Juni soll es in Dawson ein Jack-London-Festival zum Doppeljubiläum geben, seine Großenkelin, so hört man, soll auch da sein, aber ansonsten sind die Informationen darüber spärlich. Jack London hat hier nicht unbedingt den Status, wie man es vermuten würde.
Von Dawson nach Whitehorse: 500 Kilometer und kaum Gegenverkehr

Am Tag darauf geht es zurück, diesmal auf der Straße. Über 500 Kilometer mit wenig Gegenverkehr. Und dann bei einem Zwischenhalt an der Braeburn-Lodge, nicht mehr als eine Tankstelle mit ein paar Hütten und einem Flugzeuglandeplatz, gibt es wieder einen Jack-London-Moment. Hier ist eine Zwischenstation des Yukon-Quest, jenes legendären Schlittenhunderennens 1600 Kilometer von Fairbanks in Alaska bis nach Whitehorse in Kanada. Der diesjährige Gewinner traf bereits vor zwei Tagen in Whitehorse ein, hier in Braeburn übernachten noch drei Hundegespanne. Die Tiere schlafen in Stroh gekuschelt, bevor es am nächsten Morgen weitergeht.

Man nennt sie Musher, die Schlittenhundeführer, und Joseline ist eine von ihnen. 2010 nahm sie selbst am Yukon-Quest teil. Der Begriff Musher sei eine Verballhornung des französischen Begriffes »marcher« für Marschieren.

London beschreibt die Schlittenhunde mit ihren unterschiedlichen Charaktereigenschaften in »Ruf der Wildnis«, und tatsächlich, so sagt Joseline habe jeder Hund seine ganz besonderen Fähigkeiten. Da gibt es die Deichselhunde gleich hinter dem Schlitten und da gibt es die Anführer an der Spitze, so wie Bug einer ist. Die Führungshunde vergleicht Joseline mit Geschäftsleuten, die wissen, wie man den Laden am laufen hält. Die Deichselhunde haben die Aufgabe, dass in den Kurven der Schlitten um den Baum herumkommt und nicht gegen den Baumstamm kracht.
Eine Stunde lang bin ich Musher, bin ich Schlittenhundeführer
Und dann darf ich es tatsächlich selbst ausprobieren. Mein Team sind Zoë und Ray an der Spitze, Ginger und Smoky sind meine »Wheeldogs«, die Deichselhunde. Als man mir sagte, wir gehen Schlittenhundefahren, da dachte ich, dass man die Hunde einmal streicheln kann und man ansonsten eher zuschaut, doch nein, man hat tatsächlich sein eigenes Gespann mit vier Hunden, die natürlich den Weg kennen, und in der Kolonne brettert man über den zugefrorenen Fishlake. Fast die ganze Stunde muss ich die Hunde eher bremsen, damit sie nicht am Schlitten davor vorbeiziehen. Von November bis in den April ist hier die Saison. So was kann man nur im Winter erleben.

Und auch das: Schneeschuhwandern. Entweder mit der modernen weniger beschwerlichen Version oder aber auf den Modellen, wie sie wohl Jack London getragen hat.
Krank, Zähne verloren und am Ende ein Selbstmord?
Einen Winter hat Jack London hier im Yukon verbracht. Die Ernährung war schlecht, er erkrankte an Skorbut. Der Vitaminmangel führte dazu, dass er alle vier oberen Schneidezähne verlor. Doch die Zeit hier prägte sein Werk und machte ihn berühmt. Ein Ruhm, den er noch miterleben konnte, auch wenn er bereits mit 40 Jahren auf seiner Ranch in Kalifornien starb. Selbstmord wurde gemunkelt, Depressionen. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass sein Körper mit den vielen Medikamenten und Schmerzmitteln, die London nahm, zusammen mit dem Alkohol, den er oft und regelmäßig trank, nicht mehr zurechtkam.

Nach Dawson und in den Yukon sollte London nie mehr zurückkehren, nur noch in seinen Geschichten über dieses endlose Land im Norden und über die vielen, die hier das Glück suchten.
Das einzige Foto von Jack London im Yukon
Und es gibt nur ein einziges Foto, dass Jack London im Yukon zeigt. Dick North hat es Ende der 1980er-Jahre in den Archiven entdeckt. Vermutlich am 21. August 1897 fotografierte Frank LaRoche eine Gruppe von Männern.

Ein eher kleiner fast schmächtig wirkender Junge von 21 Jahren auf der rechten Bildhälfte soll Jack London sein. Hat dieser Junge 120 Boote durch die Stromschnellen von Whitehorse gebracht? Wohl eher nicht, schreibt North.

Tatsächlich hat er ein weiteres Boot durch die Stromschnellen manövriert. Die 50 Dollar, die man ihm nachträglich dafür zahlen wollte, lehnte Jack London ab. Doch die Gerüchte, dass es weitaus mehr Boote waren, halten sich bis heute, hier in den Weiten des Yukon.
Wolfgang Tischer
Dick North: Sailor on Snowshoes: Tracking Jack London's Northern Trail. Taschenbuch. 2006. Harbour Publishing. ISBN/EAN: 9781936140527. 36,28 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige
Seufz* Sehnsucht*
Schöner Bericht, Wolfgang. Ich war mehrmals dort oben, im Sommer und im Winter, und ziehe immer den Winter vor.
Jetzt kommt mächtig Sehnsucht auf.
Danke für den Film und die Reiseberichte!
Klasse! Daumen hoch!!!
Wäre auch ein Traum von mir, wie Kamtchatka.
Ob ich es je noch schaffe? Gut, dass es diese tollen Berichte gibt. Danke!