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Textkritik: (ohne Titel) – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

(ohne Titel)

von Max Pluta
Textart: Lyrik
Bewertung: 3 von 5 Brillen

Dieser
winzige Wind
den die Wimpern ins Ohr tragen
wenn niemand spricht.

Zittern
befiehlt der Hauch
den Händen unterm Tisch

Wasser zu kühlen
die Hitze in den roten Augen
die was sehen wollten
das nicht ist

etwas
das aus der Tasche fiel
auf dem langen Weg nach Haus
das jetzt auf Wegen liegt

der Glückliche
der es in der Sonne blinken sieht
und sicher verstaut

oder fest in den Fäusten hält.

© 2000 by Max Pluta. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Dieser
winzige Wind
den die Wimpern ins Ohr tragen
wenn niemand spricht

Zittern
befiehlt der Hauch
den Händen unter dem Tisch

Wasser
zu kühlen die Hitze
in den Augen

Endete das Gedicht hier, dürfte ich mich trauen, es ein Meisterwerk zu nennen. Ich würde allenfalls vorsichtig das vorschlagen, was ich gerade vorgeführt habe: nämlich die dritte Strophe – analog zu den anderen beiden – mit 1 Wort beginnen zu lassen.
Bedauerlicherweise folgen noch dreieinhalb Strophen – und die machen nur kaputt! Alles, was an Stimmung, an Gefühl, an denkbaren Situationen verdichtet war, wird hemmungslos breitgetrampelt. Eigentlich sind die letzten drei Strophen nämlich ebenfalls ein eigenes Gedicht, allerdings ein kitschlastiges:

etwas
fiel aus der Tasche
auf dem langen Weg nach Haus
das jetzt auf Wegen liegt

der Glückliche
der es in der Sonne blinken sieht
und sicher verstaut

oder fest in den Fäusten hält

Brauchen diese Verse die obigen als Einstimmung? Kommen die nicht prächtig allein zurecht? Wären sie nicht die Zierde einer jeden Ratgebergedichtsammlung für melancholische Stündchen, Beziehungskrisen oder Anfälle von Weltschmerz?
Um wie viel mehr kommen die ersten drei Strophen ohne diesen Wurmfortsatz aus: Sie hätten einen Platz verdient in anspruchsvolleren Lyrik-Sammlungen!

Die Kritik im Einzelnen

Die erste Strophe spricht mich sehr an: sie strahlt Ruhe aus, ein Staunen über die Wahrnehmung, die erst in absoluter Stille möglich wird; die vielen i-Laute, die dreifache Alliteration winzig, Wind, Wimper: ein grandioser Beginn! Ich sehe zwei Menschen ruhig nebeneinander sitzen, sie spüren die Nähe, sie genießen sie. Ich merke: ich gerate ins Schwärmen!  zurück
Schlagartig ändert sich die Situation: dieser winzige Wind, der Hauch, ändert seinen Charakter: er hat alle Leichtigkeit verloren und tritt militärisch-massiv auf, denn er befiehlt den Händen zu zittern. Ich empfinde das als ein Zittern aus innerer Unruhe, als ein Erinnern, hervorgerufen durch diese minime Wahrnehmung. Diese Strophe bildet einen starken Kontrast zur ersten; das erzeugt Spannung! zurück
Wird hier ein Wunsch nach Wasser ausgesprochen? Die erste Strophe war für mich ein Ausdruck ungläubigen Staunens, die zweite beinhaltet eine innere Unruhe; aber die dritte? Werden die brennenden Augen hervorgerufen durch eine Erinnerung? Dann könnte es ein Wunsch sein. Es ist aber auch möglich, dass eine Person weint: Wasser ist dann kein Wunsch, sondern Wasser kühlt bereits. Letzteres gefällt mir besser. Die Spannung würde sich so auch besser lösen in etwas Neuem.
Noch eine dritte Möglichkeit bietet sich an: der hauch befiehlt nicht nur »zittern«, er befiehlt auch »Wasser« – das würde mir noch mehr zusagen! Letztlich macht genau das den Reiz aus: alle drei Möglichkeiten, die ich jetzt genannt habe, sind denkbar, auch alle drei gleichzeitig. Das führt dazu, dass ich mir Gedanken mache, was in mir vorgeht, wenn ich mich an Trauriges erinnere. Dieses Gedicht schreibt mir gerade nicht vor, was ich empfinden soll: es ruft Empfindungen hervor. Und das macht es so wertvoll – bis hierher jedenfalls!
Frage: muss das Rot der Augen so betont sein? Hitze lässt doch ebenfalls an rot denken, vor allem im Zusammenhang mit Augen (siehe brennende Augen). Ich halte rot an dieser Stelle für verzichtbar. Es führt auch leicht in die Irre, denn Augen sind vom Reiben oder vor Müdigkeit oder vom Weinen rot. Rote Augen haben also durchaus eine bestimmte Bedeutung (wohingegen der winzige Wind etwas Neues ist! Hier bedeutet das Adjektiv etwas, bei den Augen beschreibt es nur). zurück
Jetzt folgt ein gewaltiger Bruch; die Augen werden vom lyrischen Ich kommentiert: die wollten etwas sehen, das nicht ist. Damit wird ihnen ein Mangel vorgeworfen, eine Einschränkung, ja Blindheit: sie hätten sehen müssen, dass da nichts ist. Die lyrische Ebene wird verlassen: es folgt eine Belehrung. Diesen Wechsel im Ton empfinde ich als herben Verlust: schade! zurück
Die Belehrung wird weitergeführt, indem erläutert wird: das wurde verloren; man hatte es schon in der Tasche gehabt. Der lange Weg nach Haus riecht zu süßlich nach Heimkommen und Heimweh und Fremde und Einsamkeit: irgendwo auf diesem langen Weg hat jemand was verloren; ganz platt wird jetzt ausgesprochen, was in den ersten beiden Strophen höchstens erschließbar war. Das tut weh! Und dass dieses etwas jetzt auf Wegen liegt (statt auf dem Weg) ist sicher Absicht, aber ich mag dieses Rätsel nicht lösen, es ist die Mühe nicht mehr wert. zurück
Es wird noch trivialer! Übersetzt heißen diese Zeilen: Ach ich Unglücklicher, der ich im Dunkeln sitze und den Goldschatz (blink blink blink) für immer verloren habe. Kotz & Würg!!! zurück
Zum Schluss noch eine Alliteration (fest, Fäuste), ansonsten der Ratschlag, besser etwas in der Hand (bzw. Faust) fest zu halten, als zu glauben, es sicher in der Tasche zu haben; diese umwerfende Erkenntnis wird als moralischer Lehrsatz ans Ende gestellt, und da der er von so tiefer Wahrheit durchdrungen ist, kriegt er sogar eine eigene Zeile ganz für sich allein! Es ist zum Heulen … zurück

© 2000 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.