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Textkritik: Lückenlos – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

Lückenlos

von Hans-Werner Lublow
Textart: Prosa
Bewertung: 1 von 5 Brillen

»Guten Tag. Kommen Sie herein. – Name?«
»Meller.«
»Ja?«
»Knut Meller.«
»Hallo Knut, wir duzen hier oben; sind ja eine große Familie.«
»Hallo Pe.«
»Knut, erzähl uns dein Leben – und lass dir Zeit. Zu uns kommt ja selten jemand. Du hast ja gesehen, das Wartezimmer ist leer. – Einen Kaffee?«
»Ich trinke lieber Wasser.«
Pe drehte sich zur Seite und rief: »Domiel, eine Karaffe Wasser, bitte.«
Aus dem Nebenraum flötete Domiel: »Kommt sofort.«

Knut erzählte sein Leben tabellarisch: Geburt, Schule, alle wichtigen Ereignisse brav hintereinander.
»Wir wünschen einen lückenlosen Lebenslauf«, forderte Pe und Knut berichtete, woran er sich erinnerte. Er vergaß nicht von Ulla, seiner ersten Liebe, zu erzählen.
»Mit vierzehn habe ich Ulla zum ersten Mal geküsst.« Knut wurde rot, so was sollte man hier doch nicht erzählen, oder?, und fügte hinzu, »geheiratet habe ich Cornelia, die war auf einmal schwanger.« Verstohlen schaute er nach Domiel, die interessiert zuhörte und ihre hüftlangen blonden Haare kämmte. Dann folgten Anekdoten aus der Zeit seiner Berufsausbildung, den Studentenjahren und seines Arbeitslebens und wie er endlich Grauer Panther wurde. Unruhezustand nannte man damals den Lebensabend.
Vom Nebenzimmer her war Musik von Andreas Vollenweider zu hören: »Comming Home
»Passend«, dachte Knut. Sanft spülten die Töne herüber und weich frottierten die Melodien Knuts Gemüt. Er fühlte sich zu Hause. Seine Anspannung löste sich und er plauderte von seinen vielen Reisen, die er als Rentner mit Else unternommen hatte. Seine früheren Reisen verschwieg er. Besonders die zwei Jahre Aufenthalt mit Feliz im Ashram von Hikkaduwa. Ceylon war damals ein Geheimtipp, nach Poona pilgerten nur die Salon-Hippies. Knut gefielen die Gewänder mit den Farben der Morgenröte, eine Harmonie aus Orange und Gelb.
»Lückenlos!«, forderte Pe.
Knut hatte sich Pe sanfter vorgestellt und war von dessen Ungeduld überrascht. Er berichtete davon, wie langweilig sein Arbeitsleben verflossen war. In seinem Herzen aber hielt er Gesine verborgen. Mit ihr war er von Hikkaduwa nach Sigiriya getrampt, um die Wandmalereien zu genießen. Ihn stimulierten die Bilder, denn in jeder der vollbusigen Damen erkannte er damals Gesine, die blonde Gesine. Knut fand eine gewisse Ähnlichkeit mit Domiel. Ihr würde ein gold-orangener Sari ebenso gut stehen wie Gesine. Domiel spielte gerade als Ersatz für Vollenweider auf einer irischen Harfe.

Pe schlug ein Buch mit blauem Ledereinband auf. Die silbernen Schriftzeichen darauf konnte Knut nicht lesen. Während er erzählte, schien Pe die Lebensgeschichte mit der Niederschrift im Buch zu vergleichen.
»Weiter«, ermunterte Pe, »nichts auslassen. Anderenfalls . . .« Pe ließ offen, was >Anderenfalls< für Konsequenzen hätte.
Nach einiger Zeit, die Knut wie eine halbe Ewigkeit vorkam, sagte er: »So war mein Leben.«
»Ehmmmm,« brummte Pe gedehnt, »alles?«
Knut nickte und schämte sich, nicht von Gesine erzählt zu haben. Aber konnte er das wirklich Pe erzählen, hier, vor Domiel?

Pe nahm eine Feder und legte sie auf die linke Schale einer altmodischen Balkenwaage. Auf die rechte Schale stellte er eine Phiole und verkündete würdevoll: »Sie enthält dein Leben, deine guten und schlechten Taten.«
Die Schalen hoben und senkten sich, der Messzeiger schwankte zwar nur wenig um den Nullpunkt; aber die Waage kam nicht zur Ruhe; immerzu blieb sie ein wenig in Bewegung.
»Wir wollten einen kompletten Bericht,« resümierte Pe, »es darf keine Lücke im Lebenslauf erscheinen. Selbst die Universitäten verlangen eine vollständige Vitae.«
Pe schrieb ins blaue Buch und sagte: »Du darfst nicht hier bleiben! Du musst zurück auf die Erde. Wir können dir aber weder ein vollständiges Leben noch den endgültigen Tod geben: Du wirst nun als Wiedergänger ein Wächter der Menschen sein, bis die Waage zum Stillstand kommt.«

© 2005 by Hans-Werner Lublow. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

»Sanft spülten die Töne herüber und weich frottierten die Melodien Knuts Gemüt« ist der einzige lebendige Satz in diesem Text, und die einzige Figur, die mein Interesse ansatzweise erwecken konnte, ist Domiel.
Ansonsten sprachliche Unsauberkeiten, langweilige Berichte, völlig unklare und unlogische Verhaltensweisen bis hin zu dem absurden Auswahlverfahren am Ende; dazu wird von Anfang an unübersehbar klar gemacht, dass Knut sich im Himmel befinden muss, (große Familie; der ach so geheimnisvolle »Pe«; das stark an biblische Namen erinnernde »Domiel«; dass selten jemand kommt: Dickere Pflöcke kann man gar nicht einrammen – warum also nicht gleich Petrus beim Namen nennen?) sodass diese Erzählung nicht einmal auf einen überraschenden Schluss zusteuert, sondern trübe vor sich trieft.

Die Kritik im Einzelnen

Ja da schau her: Was ist das für ein Name? Und Pe? Abkürzung für Petrus? Und Domiel einer der Wächter(innen) am 6. Tor, so weiß es das Internet, aus der jüdischen Mystik? Und alle eine große Familie? Das riecht bislang nach einer Aufnahme im Himmel .zurück
Gut, dass die Erzählung einfach anfängt, ohne allerlei Überflüssiges zu berichten. Schlecht, dass dieser Satz berichtet, was Knut erzählt, statt ihn zumindest ansatzweise tabellarisch erzählen zu lassen, woraufhin Pe ihn dann unterbricht! Weg mit diesem Satz. Oder ändern. zurück
Man kann zu Andreas Vollenweider stehen, wie man will, aber ich glaube nicht, dass er einen solche Liedtitel ernsthaft verfasst hat, denn das liest sich doch verdammt Denglish. zurück
Die Anspannung ist angeblich gelöst, sein Gemüt durch eine Überdosis Vollenweider aufgeweicht – und trotzdem verschweigt er etwas? Das will mir nicht einleuchten, wo er doch gerade noch so nett geplaudert hat! zurück
Knut weiß doch Bescheid, wenn er sich Pe schon vorstellt; er weiß Bescheid um die Vorgänge am Himmelstor, er muss vom Buch des Lebens gehört haben – warum verschweigt er solche Belanglosigkeiten??? Daran hängt die ganze Erzählung! zurück
Genau das gleiche! WARUM erzählt er nichts davon, da doch alle da oben Bescheid wissen? zurück
Dieses »er« bezieht sich grammatisch auf Pe, denn es gehört  logisch zum letzten männlichen Subjekt des übergeordneten bzw. vorhergehenden Satzes. Richtig verständlich wird der Satz, wenn »Knut« und »er« vertauscht werden: »Nach einiger Zeit, die ihm wie eine halbe Ewigkeit vorkam, sagte Knut .« Das männliche Subjekt des übergeordneten Satzes wäre »Knut«, und damit wäre »ihm« eindeutig zuzuordnen. Das Problem dabei ist immer, dass der Verfasser genau weiß, wer gemeint ist, er diesen logischen Fehler also nur bemerken kann, wenn er darum weiß oder selbst erfahren hat, dass er überflüssigerweise bei der Lektüre eines Satzes über unklare Bezüge nachgrübeln muss. zurück
»Ehmmmm« brummt der Leser kurz angebunden, wie lang muss mannfrau eigentlich das gedehnte Ehmmmm schreiben, damit fraumann ohne »gedehnt« auskommt? Ab wieviel mmmmmmmmmmmmmms ist die optische Information so eindeutig, dass auf die attributive Verzuckerung verzichtet werden kann? zurück
Hahaaalt, Moooooment, das will ich jetzt genauer wissen! Also: da ist eine Balkenwaage. Und der Zeiger (wieso »Messzeiger«? Der misst doch gar nichts .) zittert um die Null herum, kommt also nicht zu einem ausgewogenen Verhältnis. Richtig? Richtig! Wenn die Waage zu einem Stillstand gekommen wäre, also auf der Null – was wäre dann die Folge? Vollständiges Leben UND endgültiger Tod? Denn vollständiges Leben ODER endgültiger Tod sind ja logischerweise die beiden Zustände, die sich aus dem Absenken der einen oder anderen Schale ergeben. Gibt es denn kein Gleichgewicht? Wer ist dann in diesem Bunde der oder das ominöse Dritte? Höchst befremdliches Verfahren, das! zurück
Aha! Knut wird also ein »Wächter der Menschen«. Beschützt der die jetzt davor, von heimtückischen Waagen oder Vollenweidern angegriffen werden, oder bewacht er sie, damit sie nicht an Waagen rumpfuschen oder Vollenweiders ärgern? Da finde ich Schutzengel schon besser, da weiß man jedenfalls, was man hat! »Wächter der Menschen« – was nicht gar! zurück

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