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Textkritik: Immer wie vorgestern – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Immer wie vorgestern

von Achim Stahnke
Textart: Lyrik
Bewertung: 1 von 5 Brillen

Wie immer
sein Platz auf der Bank
sucht Ruhe nach der Arbeit
vergräbt die Hände ins Gesicht
unfassbar das Chaos der Erinnerungen

Wie immer
schwappen Stadtgeräusche herüber
drüben türmen graue Fassaden himmelhoch
Neonlichter drinnen tragen grelle Schminke auf

Wie vorgestern
knallt ein Düsenvogel vorüber
spontan schreit das Kind
sein Blick wird abgelenkt
fängt schwarze Raben
eine Ameisenkarawane
zieht über den Feldstein
nebenan ein Telefongespräch
der Wind trägt jedes Wort herüber
doch er
versteht die Menschen nicht

Vorgestern wie gestern
der Kalender sagt es ihm

heute vor 32 Jahren
verlor der Tag
sein freundliches Gesicht
begrub schwarzer Asphalt
Zukunftsträume

© 2000 by Achim Stahnke. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Das Gedicht enthält schöne Elemente: einen nachvollziehbaren Aufbau von immer nach heute; Strophen, die inhaltlich voneinander abgegrenzt sind; ansprechende Bilder (Fassaden türmen himmelhoch, der Tag verlor sein freundliches Gesicht); durch den Verzicht auf Satzzeichen werden mehrere inhaltliche Verbindungen möglich, z.B. in der 3. Strophe: der Blick fängt Raben, dann Ameisen, gleichzeitig ziehen die Ameisen über den Feldstein, ebenso der Blick.

Überstrapazierte Bilder und Verschlüsselungen erwecken aber den Verdacht, dass in diesem Gedicht nicht Erlebnis oder Stimmung verdichtet, sondern ein reales Geschehen in »lyrische« Sprache übersetzt wird, um es zu etwas Besonderem aufzublasen. Das hat mit Lyrik wenig zu tun.

»Man merkt die Absicht und ist verstimmt.«
(Von wem war das bloß? Peinlich …) (Ha! Gefunden: Eichendorff! Digitale Bibliothek sei Dank!)

Die Kritik im Einzelnen

Ausgehend von der Überschrift könnte hier auch vorgestern stehen; es spielt überhaupt keine Rolle, denn immer schließt gestern und vorgestern und alle Zukunft mit ein! Schon der Titel signalisiert: Obacht, hier kommt ein bedeutungsschweres Gedicht! Nämlich eines, dem man anmerken soll, dass es tiefsinnig sein will. Das ist kein guter Anfang. zurück
Der erste Strophe beschreibt eine äußere Situation; vor mir sehe ich ein männliches Wesen, dass auf einer Bank sitzt und das schon eine lange Zeit zu tun pflegt (wie immer): man ist diesen Anblick gewohnt. Dieser Mann sitzt da, weil er nach der Arbeit Ruhe sucht. Soweit ist alles klar und in Ordnung.
Anschließend wird mit einer Redewendung gespielt: der Mann vergräbt nicht das Gesicht in seinen Händen, sondern er vergräbt die Hände ins Gesicht, und er tut es, weil er Erinnerungen fassen will (dieser Zusammenhang drängt sich auf durch die räumliche Nähe von Händen und unfassbar; sollte das nicht beabsichtigt gewesen sein, wäre es grob fahrlässig). Was macht der Mann also auf der Bank? Da es immer so ist, weiß er, dass er keine Ruhe finden, sondern stattdessen sinnlos nach Erinnerungen kramen wird, was zudem sehr schmerzhaft ist; diese Wahrnehmung ruft vergräbt die Hände ins Gesicht hervor. So schön dieses Spiel mit der Redewendung ist, so wenig wird es allerdings dem Sachverhalt gerecht: zum einen liegen Erinnerungen nicht im Gesicht, auch nicht hinter ihm, sondern im Kopf; zum andern »vergräbt« der Mann höchstens seine Finger im Gesicht. Das durch das Spiel mit der Redewendung entstandene Bild wird erheblich überstrapaziert.
Dass der Mann Ruhe nach der Arbeit sucht, ist also inhaltlich unsinnig: da sitzt ein Mann auf der Bank, um sich selbst zu quälen! Während der Arbeit hingegen war er vor diesen unfassbaren Erinnerungen geschützt. Mal ganz banal gesagt: an seiner Stelle würde ich nach der Arbeit nicht Bank samt Quälerei aufsuchen, sondern lieber was Entspannendes oder Aufregendes tun.
Bisher habe ich Chaos unterschlagen, komme aber nicht drum herum: zunächst ist Chaos von Haus aus nicht fassbar, ein entsprechender Hinweis folglich überflüssig; alsdann: wenn die Erinnerungen des Mannes ein Chaos bilden – wie kann er sich dann erinnern, dass es überhaupt was zu erinnern gibt? Woher stammt der Impetus, etwas fassen zu wollen? Wie schon in der Überschrift wird zu viel gewollt und dadurch das Gegenteil erreicht!
Was will diese Strophe eigentlich sagen? Das weiß ich nicht, ich bin nicht diese Strophe! Ich weiß nur, was ich diesem Gedicht entnehme: dass ein Mann jeden Tag nach der Arbeit von einer bestimmten Erinnerung (siehe letzte Strophe …) heimgesucht wird, und das nicht immer, aber immerhin schon 32 Jahre lang… zurück
Das Bild von dem Mann auf einer Bank wird vervollständigt, der Blick weitet sich: die Bank steht wohl am Stadtrand, nur dann könnten Stadtgeräusche herüberschwappen. Sowohl herüber als auch drüben deutet auf etwas hin, das den Standort der Bank von der eigentliche Stadt zusätzlich trennt (es könnte ein Fluss sein oder eine Bahnschneise, letztlich ist es unbedeutend, denn wichtig ist allein die Distanz zur Stadt). Dass graue Fassaden himmelhoch türmen ist ein auf Anhieb einleuchtendes Bild, das an expressionistische Gedichte erinnert (wie übrigens auch die folgende Zeile – was keinerlei Kritik ist, sondern einfach eine Feststellung). Die letzte Zeile drückt einerseits Kritik aus an einer Falschheit (grelle Schminke), zum zweiten allerdings katapultiert sie den Leser unversehens in die Nacht: nur dann nämlich kann Neonlicht so wahrgenommen werden, dass der Ausdruck grell gerechtfertigt ist! Ob mit drinnen hinter den Fassaden gemeint ist oder in der Stadt oder beides, ob gemeint ist, dass die Stadt bzw. die Häuser falsch sind (oder die Bewohner) – das ist offen gelassen. zurück
Der zweite Teil der Überschrift wird wichtig; vorgestern hat an dieser Stelle aber nur dann einen Sinn, wenn den beiden vorhergehenden Strophen ein konkretes heute zugrunde liegt, also ein Moment, an dem die Strophen geschrieben wurden, die so ein immer inhaltlich definieren. Es hat offenbar in dem immer eine Veränderung stattgefunden, die zu erwähnen wichtig ist. zurück
Da knallt ein Düsenvogel vorüber: da wird das nächste Bild überbeansprucht! Dieses Gemisch aus Überschallknall und Vogel ist schlichtweg ungenießbar: bereits knallt ein Düsenjäger vorüber würde die Schmerzgrenze erwischen, da ein Knall lokal und plötzlich ist, während vorbei einen zeitlichen Verlauf kennzeichnet! Wieso der stinknormale Überschallknall eines Düsenjägers so verklausuliert werden muss, verstehe ich überhaupt nicht: warum die Dinge nicht beim Namen nennen, wenn sie einen haben? Warum Tiefsinn vorgaukeln, wo es flach ist?
Diese Art von Bild unterstützt volles Rohr das alte Vorurteil, das Lyrik im Allgemeinen entgegenschlägt: eigentlich meint der Dichter ja was ganz Simples, das verschlüsselt er dann irre raffiniert und gibt damit dem Lesern ein Rätsel auf; sollte der es nicht lösen können, ist er eben zu blöd und das Gedicht klasse ( kann der Leser es jedoch lösen, ist er bitter enttäuscht und fragt sich berechtigt: warum sagt’s der Dichter denn nicht gleich so…). Auf diese Weise bestätigt sie (diese Art von Bild) – ob nun gewollt oder ungewollt – penetrant die angebliche Berechtigung der allerobersaudümmsten Frage, die überhaupt an Literatur gestellt werden kann: Was will der Dichter uns eigentlich damit sagen? Kotz und würg! zurück
Das Kind (es ist dem Mann also inzwischen bekannt) schreit erneut angeohrs (ziemlich miese Analogie zu angesichts, das bei Knall nicht passt; hat aber wohl keine Zukunft) des Überschallknalls, folglich zum dritten Mal, aber nicht zum letzten (vorgestern, gestern, jetzt und ab heute immerdar: immer wie vorgestern… )! Ob sein Blick zurück der Blick des Kindes ist oder der des Mannes, bleibt offen (auch das ist keine Kritik: es muss in Texten beileibe nicht immer alles gesagt werden – ganz im Gegenteil); ungesagt bleibt ebenso, wohin bisher geschaut wurde. Beim Kind habe ich keine Vorstellung, beim Mann könnte ich vermuten, dass sein Blick von innen nach außen gelockt wird, er also das Chaos aus den Augen verliert und stattdessen die Wirklichkeit wahrnimmt, die im Folgenden geschildert wird. zurück
Der Standort der Bank wird für mich noch ein Stück deutlicher: sie steht am Rand einer Wiese oder auch eines Feldes. Doch warum müssen die Raben schwarz sein? Hätten es nicht auch weiße sein können? Werden die Raben schwarz genannt, weil sie sowieso schwarz sind, so wie Gras grün ist, Schnee und ein Schimmel weiß, Feuer heiß, Sonne und Sand und Sonnenblume gelb, Gebrüll laut, Flüstern leise, Wasser nass, Minirock kurz? Kurz und knapp und bündig: muss man und frau alles und jedes zweifach und doppelt singen und sagen, insbesondere und besonders vor allem und speziell das augenscheinlich Offensichtliche? Tja dann… zurück
Sitzt der Mann gar nicht auf einer Bank in der freien Natur? Nebenan findet schließlich ein Telefongespräch statt, und Nebenan verlangt abgrenzbare Gebiete: das Haus oder der Garten nebenan. Gut: dann hat meine bisherige Vorstellung nicht gestimmt (wohlgemerkt: das Gedicht trifft daran keinerlei Schuld), dann setze ich den Mann einfach in seinen Vorgarten mit Stadtblick (also an einem Hügel oder einer Uferböschung), und Nachbars telefonieren. zurück
Dieses Mal trägt der Wind etwas herüber (wohl über eine Grundstücksgrenze), nämlich die Worte eines Telefongespräches, die der Mann sehr wohl versteht, aber (und jetzt kommt es ganz dick und kitschgesättigt): er versteht die Menschen nicht.
Ich übrigens auch nicht: ich halte das allerdings weder für eine Leistung noch für einen Mangel; ich bin höchst zufrieden, dass ich – jedenfalls manchmal – einige Menschen verstehe. Die Menschen verstehen zu wollen ist Hybris pur. Sollte dieser Mann darunter leiden, würde ich ihm empfehlen, es mit einem Menschen zu probieren. Das aber wird er nicht wollen, es könnte ihn die Einsamkeit kosten, an der die Menschen schuld sind, da er sie nicht versteht. Das beißt sich wunderbar in den Schwanz!
Ach: so einfach wäre zu streichen dieses »doch er versteht die Menschen nicht«, nichts würde dem Gedicht fehlen, gewinnen würde es. zurück
In der Kette vorgestern, gestern und heute sehe ich an dieser Stelle einen Widerspruch zum immer in der Überschrift und den beiden ersten Strophen: es nähert sich nämlich ein Jahrestag, an den sich der Mann – meinetwegen mithilfe des Kalenders – sehr genau erinnert (also, wie oben schon ausgeführt: gerade kein Chaos, dafür sehr fassbare Erinnerungen!), und sei es nur in den letzten drei Tagen! Welches Unglück ihm widerfahren ist, wird hier bedauerlicherweise wieder verrätselt: schwarzer Asphalt (siehe schwarze Raben) hat des Mannes Zukunftsträume begraben: auf meiner geistigen Leinwand erscheint ein städtisches Straßenbaufahrzeug, das Asphalt abkippt und versehentlich den Lieblingshund verschüttet…
Aber dabei habe ich ein schlechtes Gewissen: tief in meinem Innern vermutet etwas trotz der sprachlichen Gestaltung dieser Zeile, dass der Mann bei einem Unfall auf der Straße einen geliebten Menschen verloren hat – dann wären seine Zukunftsträume nicht vom Asphalt begraben, sondern auf dem Asphalt verendet (oder wie auch immer). Ich betone: es ist reine Vermutung, sie kann durch keinen einzigen Hinweis im Text gestützt werden! zurück

© 2000 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.