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Textkritik: Ich las mit – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Ich las mit

von Manfred H. Freude
Textart: Lyrik
Bewertung: 5 von 5 Brillen

Ich las mit
Manfred H. Freude

Am Berg unter dem Behorn
Im Dienste der Worte
Die verschlungen von Beiden
Die sie trugen zu, zu
Mit Zitterluft beim Entfachen
Schimpften die Vögel
Doch blieb kein Blatt
das nicht unbeschrieben war
Uns blieb der Atem
und Säulenstimmen

© 2008 by Manfred H. Freude. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Wunderbar!
Hier werden dem Leser weder Stimmung noch Gefühle um die Ohren geschlagen, hier werden sie erzeugt: Man ist mit den seinen beschäftigt und nicht mit denen eines Autors.

Die Kritik im Einzelnen

Nanu? Erwarten würde man doch eigentlich einen »Ahorn«! Aber da das lyrische Ich mitlas, las damals offenbar noch mindestens eine weitere Person. Und denke ich an meine Jugend und an die Micky-Maus-Hefte meines Bruders, so fällt mir das unzertrennliche Paar Ahörnchen und Behörnchen ein: War das gemeinsame Lesen der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, auch in der Alliteration Berg – Behorn erkennbar? Ein überraschender Anfang, der Lust macht auf mehr! zurück
Jetzt ist es eindeutig: es waren zwei, die die Worte verschlungen! Und auch hier wird verdoppelt, wenn nicht gar verdreifacht: Dienste und Die und Die sowie zu & zu. zurück
Die Zitterluft: Ist es die Luftvibration beim lauten Lesen? Werden die Worte »entfacht«, wenn sie laut gelesen werden? Stört das die Vögel, die im Baum sitzen? zurück
Das Blatt verweist sowohl auf den Baum als auch auf das Buch (das seinerseits wieder auf die Buche verweist: Buchstabe, die Stäbchen aus Buchenholz, die geworfen wurden zu Orakelzwecken anno dazumals), und gelesen wurden alle beschriebenen Blätter, ungeachtet des Protestes der Vögel! Die Doppelung »blieb« knüpft an den Beginn an, die Störung durch die Vögel hatte zuvor auch formal diese Gemeinsamkeit zerstört. Und aus dem »Ich« der Überschrift und dem von außen beobachteten »Beiden« wird nun ein »Uns«: das gemeinsame Atmen Sprechen: die tragenden Stimmen, die Säulen, die wiederum zum Baum am Schluss des ersten Verses zurückführen.

© 2008 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.