StartseiteTextkritikTextkritik: HARTZ IV - Prosa

Textkritik: HARTZ IV – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

HARTZ IV

von Anne Bentkamp
Textart: Prosa
Bewertung: 5 von 5 Brillen

Ich gehe so langsam wie möglich. Haben Sie je versucht, so langsam wie möglich zu gehen? Es ist schwierig, besonders, wenn man die Strecke gut kennt.
Immer wenn ich von der Jobbörse zurückkomme, weils mal wieder nichts für mich gab, gehe ich so langsam wie möglich. Denn es ist viel zu früh am Morgen, man muss vor 7.00 Uhr da sein. Wer bis 7.00 Uhr nicht verteilt ist, hat Pech gehabt. Der Tag hat noch gar nicht angefangen.
Wenn man die Zeit hätte verschlafen können, wäre nicht ganz so viel übrig. Aber so viel Zeit für einen Tag.
Im Rosenweg gibt es schräg gegenüber der Arbeitsvermittlung eine Kneipe, dort ist das Bier echt preiswert, sie hat ab 7.00 Uhr geöffnet. Aber ich gehe ganz langsam daran vorbei.
Meine Sachbearbeiterin in der Agentur für Arbeit, Frau Dietz, findet es üblich, dass ich immer wieder zur Jobbörse gehe. Das erhöhe meine Chancen, meint sie. Ich finde es löblich, dass ich langsam an der Kneipe vorbei gehe.
Ich fahre nicht mit dem Bus. Ich biege in die Vosselerstraße ein, dort sind kleine Vorgärten mit Blumen, vor einigen Häusern auch Gartenzwerge. Ich erzähle den Gartenzwergen, dass ich heute mal wieder leer ausgegangen bin. Eigentlich finde ich Gartenzwerge albern.
Die Vosselerstraße endet an der Binzstraße. Dort ist immer viel Verkehr. Die Autos fahren viel zu schnell. Sie wechseln oft unvermittelt die Spur, hupen und fahren zu dicht auf. Ich bleibe stehen und warte auf einen Unfall. Aber es ist noch nie etwas passiert, wenn ich dort stand.
Nach der Kreuzung kommt man an einem großen Autohaus vorbei. Um diese Zeit ist es noch geschlossen. Ich bleibe stehen. Im Fenster steht ein leuchtend hellgrüner Jaguar. Wer solche Autos wohl kauft? Zuhälter.
Den Simonsplatz mag ich besonders gern. Es ist ein Springbrunnen in der Mitte und ein paar Bänke und sonst ist er gepflastert, ganz kahl. In der Zeitung steht immer, wie schrecklich kahl er ist. Aber ich sitze auf einer Bank und kann alles sehen. Auf der einen Seite geht der Leegerwall vorbei, die drei anderen Seiten werden von einer schmalen Einbahnstraße eingefasst, so dass man ganz drum herum fahren kann. Es parken immer Autos auf dem Platz, obwohl das verboten ist. Am Ende der Einbahnstraße steht heute ein Notarztwagen. Das Blaulicht dreht sich stumm.
Ein Mann kommt an seinem geparkten Auto gleichzeitig mit der Politesse an. Sie diskutieren, er mit weit ausladender Gestik, sie schreibt, während sie spricht. Schließlich nimmt er das Knöllchen entgegen und steigt kopfschüttelnd in seinen Passat. Er fährt durch die kleine Einbahnstraße und kann nicht an dem Krankenwagen vorbei. Quer über den Platz zu fahren ist ebenfalls verboten. Der Simonsplatz ist überhaupt für Autos verboten. Die Politesse schreibt Knöllchen für die anderen parkenden Autos aus. Hinter dem Passat kommt ein dunkelblauer Mercedes zum Stehen. Der Fahrer hupt, bedeutet seinem Vordermann, man könne doch über den Platz ausweichen. Er selber ist durch eine Bank und einen Papierkorb völlig eingekeilt. Schon naht das dritte Auto, die Leute wollen eigentlich parken, trauen sich aber wohl nicht mehr. Der Passatfahrer deutet auf die Politesse, er will nicht über den Platz fahren. Hinter ihm hupen jetzt alle. Die Politesse ist fertig und geht ganz langsam über den Platz ohne die Hupenden auch nur eines Blickes zu würdigen. Kaum ist sie um eine Hausecke verschwunden, setzen die Autofahrer teilweise zurück, alle fahren mit einem Affentempo über den Platz, als wäre es ein Wettrennen. Ich bin froh, dass ich am Springbrunnen sitze, da bin ich nicht in der Schusslinie. Der Mercedesfahrer gewinnt, er fädelt sich als erster in den Verkehr des Leegerwalls ein, indem er einem Bus die Vorfahrt nimmt.
Die Sanitäter tragen ein junges Mädchen aus einem der schön renovierten Häuser. Sie sieht wie leblos aus.
Ich stehe auf und gehe weiter über den Leegerwall in die Fußgängerzone.
Die meisten Läden haben noch nicht geöffnet, aber bei einem von diesen Schnäppchenläden stellen sie gerade die Ständer mit Ramsch auf die Straße. Alles hier kostet nur einen Euro. Ich habe nur 50 Cent in der Tasche, ich stecke nie Geld ein, wenn ich nicht wirklich was kaufen will. Aber ich brauche auch nicht so dringend ein großes Paket mit Plastik-Wäscheklammern oder einen Wackel-Elvis. Auch kein Feuerzeug, das Rauchen habe ich mir abgewöhne, erfolgreich, seit einem Jahr.
Eine junge Frau kauft eine Packung mit 3 Spagetti-Sieben. Wofür braucht man 3 Spagetti-Siebe?
Sie hat ihre blonden Locken total raffiniert hoch gesteckt, jeweils eine Locke kringelt sich über den Ohren, sieht toll aus. Ich überlege, wie das halten kann. Sie merkt wohl, dass ich sie anstarre, und dreht sich um. Da beschäftige ich mich schnell mit den Mikrofaser-Putzlappen im Regal vor mir. Als sie bezahlt hat, gehe ich ihr nach.
Sie geht die Gerbergasse hinunter. Die Fußgängerzone füllt sich hier langsam, ich glaube, sie sieht mich nicht. Sie geht in eine Bäckerei. Ich sehe durch die Scheibe, wie sie sich einen Kaffee und ein Brötchen bestellt. Ich begutachte die Auslagen der Schaufenster in der Nähe.
Sie kommt aus der Bäckerei und schlenkert die Plastiktüte mit den Spagetti-Sieben hin und her. Sie geht wippend in ihren engen Jeans. Die Sonne kommt raus, es wird ein schöner Tag. Wir haben das Ende der Fußgängerzone erreicht. Sie schaut nach links und rechts, bevor sie an der Braunstraße über eine rote Ampel geht. Könnte sein, dass sie mich gesehen hat. Ich lasse mich etwas zurückfallen. Glücklicherweise springt die Ampel im richtigen Moment auf Grün.
Ich sehe, wie sie in die kleine Ammonsgasse abbiegt. Das ist eine Abkürzung zum Hochwall. Als ich die Gasse betrete, dreht sie sich vor der Kurve gerade zu mir um. Jetzt hat sie mich ganz sicher gesehen und auch wieder erkannt. Ich kann nirgendwohin ausweichen und schlendere betont lässig weiter. Sie dreht sich abrupt wieder um und geht jetzt wesentlich schneller. Schade, ich würde sie gern noch einmal aus der Nähe sehen. Ich beschleunige ebenfalls. Auf dem Hochwall wendet sie sich nach links stadtauswärts. Nach vielleicht 50 Metern rennt sie völlig unerwartet über die vierspurige Straße, einfach so querbeet in der Mitte zwischen zwei Kreuzungen. Ein Auto erwischt sie fast. Die Bremsen quietschen. Wenn ich jetzt bis zur nächsten Ampel gehe, ist die bestimmt rot. Also mache ich es ihr nach, wenn auch etwas vorsichtiger. Ich verliere kostbare Zeit. Gott sei Dank ist der Hochwall hier ganz gerade. Weit hinten sehe ich sie rennen. Jetzt ist schon alles egal. Ein Dauerlauf wird mir gut tun.
Ich sehe gerade noch, wie sie im Gebäude der Techniker-Krankenkasse verschwindet. Da muss ich wohl noch mal einen Zahn zulegen. Ich bin es nicht mehr gewöhnt, so zu rennen. Völlig außer Atem komme ich vor der Eingangstür an.
Es ist eine große Drehtür. Ich liebe Drehtüren, ich schlängele mich hinein, fast ohne das Glas zu berühren. Drinnen fragt mich ein Portier sehr freundlich: Guten Morgen, zu wem möchten Sie bitte?
Ich stottere: hem … guten Morgen ich glaube Die Drehtür nimmt mich wohlwollend wieder auf und bringt mich weg von dem Portier.
Nette Ringellöckchen waren das.
Ich muss mich erstmal orientieren und wieder zu Atem kommen. Die Techniker-Krankenkasse ist am Hochwall nicht weit vom Stadtpark. Da kann ich ja heute durch den Park nach Hause gehen, ist nur ein kleiner Umweg.
Im Park kann man die Leute morgens an Werktagen grob in zwei Gruppen unterteilen: Mütter (seltener Väter) mit Kleinkindern und Leute, die allein sind und nichts zu tun haben (mit und ohne Hund).
Heute ist ein Mütter-und-Kinder-Tag.
Manchmal setze ich mich auf eine Bank und höre den Gesprächen der Mütter zu.
… Cynthia ist ja erst vier, aber sie kann schon ihren Namen schreiben, wir haben ihr dieses neue Computerprogramm gekauft, du weit schon, Kids Training oder wie das heißt, das ist super, total kindgerecht. … Ja, weit du, Chiara habe ich jetzt in der Ballettschule angemeldet. Sie ist ja so musikalisch. Aber die musikalische Früherziehung bei uns im Kindergarten ist wirklich grottenschlecht, da muss man halt Alternativen suchen … Chiara, pass auf, nicht, das ist Hundedreck … ach, Chiara!
Heute gehe ich schnell weiter, plötzlich geht mir der Kinderlärm total auf die Nerven. Irgendwie geht mir der ganze Park auf die Nerven, die Grünflächen, die Blumen, die Sonne. Ich komme am Hudekampsweg heraus.
Auf der linken Seite ist der große Supermarkt. Dort gehe ich um diese Zeit immer hinein. An der Käsetheke stelle ich mich in die Schlange und probiere von den Käsehäppchen. Dann schlendere ich weiter, ohne Käse zu kaufen. Manchmal gibt es auch eine aufgeschnittene Ananas oder eine neue Schokoladensorte zu probieren. Heute ist eine Weinprobe, ich nehme Käse und Wein. Das ist mein zweites Frühstück.
Jetzt bin ich schon im Berggartenviertel, das sieht ganz anders aus als es heißt, ziemlich viele Hochhäuser aus den siebziger Jahren hier. Noch 200 Meter den Ohlsenring hinunter, Nummer 23.
Ich bin zu Hause, der Fahrstuhl ist schon wieder außer Betrieb. Ich wohne im 5. Stock Einraumwohnung mit Balkon. Treppensteigen ist gesund.

Es ist kurz nach zehn, als ich den Fernseher anmache Brisant, die Wiederholung vom Vortag.

© 2007 by Anne Bentkamp. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Wunderbar & erschreckend!
Lakonisch, einfach, schmucklos, präzise beobachtet, komisch (Ringellöckchen) und dabei grausam, wenn man sich vorstellt: Was macht der Ich-Erzähler jetzt den Rest des Tages? Der Woche? Des Monats? Des Lebens?

Die Kritik im Einzelnen

Wie sieht jemand wie leblos aus? Steckt dahinter die Hoffnung, die Betroffene lebe entgegen dem äußeren Anschein noch? Da aber bislang wesentlich äußere Eindrücke wiedergegeben werden, würde ich wie streichen: Sie sieht leblos aus. zurck
Das Stottern wird anschließend sichtbar es braucht also diesen Warnhinweis gar nicht: Streichen! zurck

© 2007 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.