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Textkritik: Harry – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

Harry

von Peter Goeckel
Textart: Prosa
Bewertung: 4 von 5 Brillen

Man weiß von Harry, dass er drei unfertige Texte im Kleiderschrank hat, außerdem arbeitet er jetzt an einem vierten, den Stoff liefert ihm Derrida.
Hey, Harry!
Harry liebt es gar nicht, in so leichtsinniger Weise angesprochen zu werden, er ist misstrauisch, er denkt an das Höchste, und alle, die ganz Hohes begrübeln, mögen nicht recht vertraulich zu den Nebenmenschen sein.
Da ist immer so etwas Geistiges, was solchen Leuten vorschwebt. Solche Menschen sehen immer die Notwendigkeit vor sich, die ihnen zuflüstert: Denke! Harry muss nachdenken, das steht obenan in seinem Programm, und das ist das Unheimliche, das ihn beständig ein wenig foltert, das ihn schärfer horchen lässt, das ihm befiehlt, ein nervös-zerissenenes Gesicht zu machen.
Er hat eine feine, scharfgeschnittene Denkernase. Gewisse Karikaturisten zeichnen gerne über solche Nasen im Profil her.
Mir liegt daran, eine ernstes Denkerportrait zu bieten, und da heißt es so sehr aufpassen, kommt es so sehr darauf an, keinen Wesenszug zu übertreiben.
Kollege Harry!
Er hört dieses Wort nicht gern, er möchte am liebsten niemandes Kollege sein, er ist so eine Art scheuer Philosoph, der den Mantelkragen in die Höhe zieht. Wenn man seine Hand lebhaft drückt, knackt sie, und wenn Harry seinen Hut auf, so ist sein Kopf sehr interessant.
Er fürchtet immer, man könne über ihn spotten, aber es gibt gewisse Menschen, die man nur dann getreu abbildet, indem man über sie spottet.
Harry hat eines Nachts einen flüchtig entworfenen Tractatus suicidalis im Kaffeehaus liegen lassen, auf so einem Kaffeehaussofa, auf das der Gewohnheitskaffeeschlürfer sich in der Regel so nachlässig-cool hinwirft, um Kaffee zu schlürfen und in die Luft zu starren.
Ein anderer hat die Abhandlung gefunden, genommen, eingesteckt, nach Hause getragen, abgeschrieben, vollendet, buchfähig gemacht und zum Bucherfolg auf der Buchmesse gebracht.
Es war auch nach Derrida. Ja, ja. Bei Derrida, diesem französischen Denkrebell, ist alles gegen den Strich, das wird jeder empfunden haben, der ihn einmal gelesen hat.
Harry studiert die Stoffe, nicht das Leben; das Leben, das er zu erleben bekommt, ist bis jetzt noch nicht weit her. Er ist Taxifahrer und Buchhandelsgehilfe, das hat er erlebt und das ist nach seiner eigenen Meinung kein apartes Erlebnis.
Schade, dass er nicht, sagen wir beispielsweise, zur Zeit des großen Wilhelm II. zur Welt gekommen ist; er hätte dann dem einen oder dem andern jener geistvollen Schlingel, die damals in die Höhe schossen, schon gezeigt, was er gekonnt hätte.
Die Sache ist die: Harry kann alles und will alles, aber er tut effektiv nichts. Er schleppt jetzt Bücher, weil er selber körperlich arbeiten will, er träumt von einer großen Seinstheorie, weil er selber durch und durch vom Teufel des Denkens besessen ist, er denkt über Gedichte nach, weil er selber welche hätte machen müssen, wenn er gewollt hätte.
Er wird böse sein, wenn er dies liest. Ich werde ihm sagen: Da, nimm! Und werde ihm das wenn auch kleine, so doch für ihn nicht belanglose Honorar in die Hand zu drücken, das ich für diese Studie bekomme.
Spötter haben manchmal die Extravaganz, menschenfreundlich zu sein.
Ach Gott, Harry ist so arm, so weltverlassen. Man bedenke, er denkt nur an Hohes und Erstklassiges. Er ist nicht ein Mensch wie andere Menschen, gerade so, wie die meisten Menschen nicht Menschen sind wie andere Menschen.
Ich aber gehöre entschieden unter die Hunderttausend. Ich bin zum Verwechseln einem Büroangestellten ähnlich, und ich bin so froh, so gewöhnlich zu sein.
Man höre diesen Unterton rachsüchtigen Neides!
Weshalb sollte ich Harry beneiden? Im Gegenteil, ich bedaure ihn. Ich schreibe ja über ihn, ich muss ihn also unter mir fühlen, denn sonst schriebe ich ja nicht »über« ihn. Diese Gemeinheit – hinzugehen und über denkende Menschen zu schreiben, als ob sie. Und dann ist dieser Harry ja noch nicht einmal interessant, höre ich den Leser.

© 2001 by Peter Goeckel. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Das ist eine sehr gelungene bissige Studie, die jeden Schreibenden trifft, der sich ernsthaft um das Schreiben bemüht! Und am Ende keine Leser findet…
Gleichzeitig gelingt der Spott über sich selbst: Ich kann das gut nachvollziehen, diese selbst gewählte Einsamkeit, diese Überzeugung von der eigenen Fähigkeit (die ich gleichzeitig niemandem offenbare). Nur Weniges stört mich, aber das steht in der Einzelkritik!

Die Kritik im Einzelnen

Lange hat es gedauert, bis ich mich zu Wort melde, dafür aber gleich doppelt; zum Ersten weiß ich nicht, was es mit Harrys Kopf auf sich hat: Wirkt der nur interessant, wenn Harry seinen Hut auf hat? Oder ist sein Kopf erst dann interessant, wenn er seinen Hut auflupft, der Kopf also für einen Moment ganz sichtbar wird? Das Entscheidende ist vermutlich Opfer einer Übertragungs-Panne geworden.
Zum zweiten ist interessant als Beschreibung von Harrys Kopf gegenüber allen anderen Beschreibungen überaus fad & nichtssagend, passt sich seinerseits aber nahtlos dem nicht minder schwächelnden Schwachvollverb ist an: so ist sein Kopf sehr interessant. Ich werde den Verdacht nicht los, dass das Absicht sein könnte – aber ich frage mich, welche, und ich finde keine Antwort. zurück
Harry wurde bisher zweimal angesprochen: Hey, Harry und Kollege Harry. Das weckt Erwartungen, denn es scheint nach der zweiten Nennung Stilmittel geworden zu sein; tatsächlich jedoch wird Harry nicht mehr angesprochen. Ich hielte weitere Anreden für angebracht, da sinnvoll; vor diesem Absatz würde ich Dichter Harry als Anrede einsetzen: es fügt sich nahtlos an spottet und verweist auf seine im Folgenden dargestellten dichterischen Qualitäten zurück
Dieses umgangssprachliche so würde ich hier streichen. zurück
Mit diesem umgangssprachlichen so würde ich analog verfahren: welche Atmosphäre in diesem Etablissement herrscht, wird durch die herrlich-penetrante Wiederholung von Kaffee in vielerlei Variationen deutlich genug: ich wüsste keinen besseren Ort, um einen Tractatus suicidalis zu platzieren – in der leisen Hoffnung, man würde diesem Zaunpfahlwink nachkommen. zurück
Das Leben ist bis jetzt noch nicht weit her? Grammatisch hat dieser Satz eine leichte Schieflage, heißen könnte er Das Leben ist bis jetzt noch nicht weit gediehen oder Mit seinem Leben ist es bis jetzt noch nicht weit her.
Vielleicht aber liegt hier eine bewusste Verdrehung vor, im Zuge des oben angekündigten Spottes? Ich bin mir nicht sicher, dazu ist meine Irritation viel zu leicht! zurück
Hier würde ich erneut eine Anrede einfügen: und zwar Genie Harry: einerseits hat sich der Geniegedanke überlebt (siehe die historische Reminiszenz), andererseits kann und will Harry alles. zurück
Teufel des Denkens? Nicht besser Denkteufel? zurück
Das umgangssprachliche selber zugunsten des selbst aufgeben! zurück
Das umgangssprachliche selber zugunsten des selbst aufgeben! zurück
Hier würde ich eine letzte Anrede einfügen: Einsamer Harry: das passt gut zwischen die menschenfreundliche Extravaganz des Spötters und den ganz großen Einsamen da droben. zurück
Das ist so schmunzelig-spöttisch wie die genial-derbe Version aus dem Leben des Brian: Brian: Ihr seid doch alles Individuen! – Chor der 1000: Ja, wir sind alles Individuen! – Eine einzelne Stimme: Ich nicht! zurück

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