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Textkritik: Disaster Recovery – Romananfang

Eine Textkritik von Malte Bremer

Disaster Recovery

von Michael Köhn
Textart: Romananfang
Bewertung: 1 von 5 Brillen

Die Nacht hatte er mit ›Nardil‹ überstanden -, verfügte bezüglich Pillen über die freie Auswahl, denn Mutters Medikamentenbestand war schier unerschöpflich.

Und genau deswegen war sie nicht da, als der von ihm erwartete Wagen vorfuhr, kurz hupte, sondern in einem Sanatorium in der Schweiz, einer Art Irrenhaus, das er sich wie den von Thomas Mann beschriebenen ›Zauberberg‹ vorstellte, wenn er an sie dachte; er dachte täglich an sie.

»Einen schönen Gruß von Ihrem Vater, Herr Rausch«, sprach ihn einer der beiden schwitzenden Männer in grauer Uniform mit dem Berliner Bären auf dem Oberarm des Anzugs an, – und blies säuerlichen Atem aus, » … er lässt sich entschuldigen, er hat …«

»Schon gut«, entgegnete Felix schnell, denn allzu oft hatte er die mit säuerlichem Atem vorgetragenen Ausflüchte, seinen Vater betreffend, schon verarbeiten müssen, – hörte den Pirol im Garten rufen, der wohl neben der Grube saß, um in der vom Gärtner eben frisch aufgeworfenen Erde nach Würmern zu suchen.

»Schon gut, – und bringen Sie die Kiste bitte gleich in den Garten!« hinkte er den beiden Männern vorweg.

Einer vorwärts-, der andere rückwärtsgehend folgten ihm die Männer, einen weißen Kasten tragend, auf dem in schwarzen Druckbuchstaben ›Eigentum Gerichtsmedizin Stadt Berlin‹ stand, – in dem sein Hund lag.

Seine Schmerzen, besonders die im Fuß, waren heute fast unerträglich, somit zwang er die Männer hinter sich zur Langsamkeit. Trotzdem stöhnte einer von denen vernehmlich, so, als wenn die zu tragende Last nur schwer zu bewältigen sei.

»Bitte direkt neben die Grube…«, als der aufgescheuchte Pirol das Weite gesucht hatte, »und legen Sie den Hund gleich in das Grab«, als die Männer den Deckel vom Kasten offen hatten.

»Machen wir, Herr Rausch!«, erwiderten die Männer unisono, öffneten die Kiste, wickelten den toten Hund aus der Plastikplane und ließen ihn behutsam in die Grube gleiten.

»Meinen Sie, das ist tief genug?«, fragte der Wortführer der Beiden.

»Wegen der wilden Tiere?«, wollte Felix wissen.

»Ja. Schweine gibt es hier genug, – und die fressen alles!«

»Stimmt. Schweine gibt es genug … aber ich habe Vorsorge getroffen!«

»Eine Grabdecke -, was?«

»Ja, so was Ähnliches.«

»Dann ist es ja gut«, als die Beiden, jeder mit der Hälfte des Eigentums der Stadt Berlin in Form des weißen Kastens in Händen, den Garten verließen.

Am Tor angekommen steckte er ihnen zwanzig Euro zu.

»Das wäre aber…«

»Nehmen Sie schon …; auf Wiedersehen!«

Das Motorengeräusch des Transporters der Gerichtsmedizin war verebbt, lediglich der saure Atem der Beiden hing noch in der Luft, als er am Grab seines Hundes stand und still zu weinen begann.

Wenig später trocknete er seine Tränen mit dem Jackenärmel, legte sich bäuchlings vor das Grab und begann, das Spielzeug vom Hund um dessen Körper herum zu dekorieren und Rosenblätter in der Grube zu verteilen. Über all das breitete er eine Samtdecke aus, und als er gerade mühsam wieder stand, um mit dem an der Seite aufgeworfenen Sand die Grube zu verschließen, quengelten sich Rotorengeräusch in seine Trauerzeremonie.

Suchend blickte er in den Himmel und sah ihn.

Ein ansonst weißer Hubschrauber mit einem roten Kreuz kreiste nicht weit weg vom Haus in ca. einhundert Metern Höhe. Und wie er das Bild in sich wirken ließ, dem Klappern der Rotoren nachspürte, erklang Musik von Stockhausen in ihm, deren Töne rhythmisch-ekstatisch seine Arme und Beine zucken ließen.

Fast unmittelbar war er Streicher in einem Quartett, war das Quartett, befand sich mitten in diesem hüpfenden Aspekt der Symphonie – als schaufelnder Bauarbeiter, der die Löcher der Welt mit Sand verschloss.

Er war eins mit dem Piloten des Helikopter, dem Tontechniker, mit den diversen Menschen an den Fernsehübertragungsgeräten.

Befand sich im Hörsaal der Musikhochschule, war Macher an vier TV-Geräten, Publikum und Lautsprecheranlage, eins mit den Mischpulten, dem Moderator, war Mikrophon, Dirigent, der den Klang der Instrumente einfügte, die letztlich lauter als die Rotorblätter der Hubschrauber waren. Lauter als er, der weinend aus genau einhundert Metern Höhe und eine halbe Stunde lang den Grund der Erde sehen konnte. Der bemerkte, wie sich das Leben im Tod an seinem Maul festfraß und dort verkrustete -, wie die Zeit seines Daseins mit dem Hund, diesem über alles geliebten Tier, zu Nichts gerann.

Letztlich weckte ihn irgendwann imaginärer Applaus -, einer heftigen Art von Morgenkühle gleich – und der aggressive Warnruf des Pirol, dessen wiederholtes djick-jick

All das holte ihn aus dem Trance in die Wahrheit des Tages, in den Augenblick, in die ewige Gedankenflut, wie es hatte geschehen können, dass er nun ein Krüppel war, dass es ab nun immer so ist, wie es ist und bliebe. Er alleine – ohne Hund.

Offen blieb, wie es dazu kommen überhaupt konnte.

© 2010 by Michael Köhn. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Eigenwilliger Umgang mit Gedankenstrichen und bemühte Bilder machen noch lange keinen guten Roman.

Zunächst beginnt dieser Text gar nicht schlecht – aber spätestens bei den quengelnden Rotorengeräuschen hätte ich die Stirn gerunzelt, und bei der ins Nichts gerinnenden Zeit hätte ich das Buch entnervt beiseite gelegt. Da wird nicht mehr erzählt, da wird geschwafelt missioniert – wofür auch immer …

Die Kritik im Einzelnen

Vorbemerkung: Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler wurden stillschweigend verbessert – auch dafür sind Lektoren da! Es ist zudem keine bewusst eigenwillige Zeichensetzung festzustellen (wie etwa bei Arno Schmidt).
Der Titel gibt zunächst ein Rätsel auf: Warum muss er auf englisch sein? Was drückt er aus, das auf Deutsch nicht eindeutiger hätte gesagt werden können? Mein Collins-Wörterbuch bietet unterbreitet mehrere Vorschläge: Wiederfinden – Zurückbekommen (was bereits ein erheblicher Unterschied ist!) – Wiedererlangung – Bergung – Gewinnung – Eintreibung – Ersatz. Fein! Wie wäre es mit einem Titel, der da lautete »Esatzkatastrophe« oder »Katastrophenersatz«? Verstünde jeder …
Nardil ist ein in Deutschland wegen gravierender Nebenwirkungen nicht zugelassenes Antidepressiva, warum man das in der Nacht braucht, weiß ich nicht.
Dass nach überstanden ein Gedankenstrich mit anschließendem Komma folgt, scheint so etwas wie ein Stilmerkmal dieses Romans sein zu sollen, ohne dass es mir einleuchtet, eben so wenig wie die Variante Komma-Gedankenstrich: Ich halte diesen Strich für überflüssig, wenn es gar nix zu denken gibt.
Auf ein er vor verfügte würde ich hingegen nicht verzichten, denn der Satz beginnt nicht mit er, sondern stellt es nach (Die Nacht hatte er …); somit ist die Logik im Satzbau nicht gewährleistet, was beim Lesen irritiert. zurück
Das ist ausgesprochen gut gelungen, denn hier ist der Leser gefordert mitzudenken: Des Protagonisten Mutter hat wohl zu exzessiv mit Medikamenten experimentiert! zurück
Mmh – da Herr Rausch wohl kaum Uniformstoff zu durchschauen vermag, ist hier des Anzugs überflüssig. zurück
Warum wird hier ein Abschnitt gemacht statt eines Absatzes? Das Gespräch geht doch unmittelbar weiter, und was Neues kommt auch nicht! zurück
Dass jemand Sprache hinkt, müffelt sehr nach gewollter Originalität! Besser wäre ein Punkt und ein neuer Beginn: Er hinkte (…) vorweg. zurück
Hier ist einer dieser sehr irritierenden Gedankenstriche! Würde der Satz lauten: Einer vorwärts, der andere rückwärts gehend folgten ihm die Männer, einen weißen Kasten tragend – ›Eigentum Gerichtsmedizin Stadt Berlin stand in schwarzen Druckbuchstaben darauf‹ –, in dem sein Hund lag, dann hätten die beiden einen Sinn. Aber der eine allein?
Zu begrübeln bleibt auch, warum ein Hund in der Gerichtsmedizin untersucht wird – aber vielleicht wird das ja im Roman deutlich zurück
Dieses trotzdem will mir nicht einleuchten: Wenn etwas schwer ist und man zum langsamen Gehen gezwungen wird, dann ist das überaus lästig – man will die Last schließlich loswerden, da darf man doch stöhnen?! zurück
Dieser Satz schwebt grammatisch im Leeren, da sollte vor bzw. nach der wörtliche Rede ein »Er sagte« bzw. »sagte er« eingefügt werden. zurück
Erneut gibt es hier einen unverständlichen Abschnitt statt eines Absatzes! zurück
Hä? Hätte er ihnen denn am Tor auch dann Geld zustecken können, wenn weder er noch sie dort angekommen wären? Alternativ: Wie wäre es beispielweise mit einem Gran mehr Präzision, das will doch der Leser, sonst blickt er doch nicht, was da eigentlich los war: Am Tor an- und anschließend ohne Bremsgeräusche, da zu Fuß, zum Stillstand gekommen, einen zusammengefalteten 20-Euro-Schein dem inzwischen geöffneten Geldbeutel entnommen gehabt habend und ihn nach beidhändiger Entfaltung mit der rechten Hand zwischen Daumen und innenhandwärts gekrümmtem Zeigefinger … (und so weiter und so fort et cetera pp ad infinitum …): Nein! Am Tor überreichte er! Und fertig! zurück
Ganz schlechter Stil, gemeinhin auch »Nominalstil« oder treffend-bösartig »Beamtendeutsch« genannt: Dass die Uniformträger nicht von der Heilsarmee sind, wissen wir, und auch, dass sie zur Stadt Berlin gehören. Warum also nochmals die Gerichtsmedizin bemühen? zurück
Dass da noch sauerer Atem hängt, ist doch eigentlich zu erstaunlich, als dass es durch ein lediglich abqualifiziert werden müsste: Hinfort mit diesem Wort! zurück
Um Ulm herum – jaja, aber es geht hier nicht um Ulm, auch nicht um Zungenbrecher oder Wortspiele: das Spielzeug vom Hund ist nichts anders als Hundespielzeug, und man dekoriert nicht um etwas herum, sondern etwas; aber man kann Hundespielzeug um den Körper drapieren oder verteilen – drapieren wäre feierlicher. zurück
Da hakt es gleich mehrfach: Singular oder Plural – aber wenn, dann bitte beides: entweder quengelten sich Rotorengeräusche oder quengelte sich Rotorengeräusch; ich tendierte zu Letzterem – wäre da nicht die unglückliche Vermanschung von Rotorengeräusch mit quengeln: Was dieses aufdringlich-regelmäßige Knallen und Fauchen mit nörgeln oder weinerlich oder jammern zu tun haben soll, zu ergründen vermag ich es nicht! Nachvollziehbar wäre etwa: drängte (drängelte, presste, quetschte …) sich Rotorengeräuschzurück
Hier haben wir ein Musterbeispiel für einen völlig überflüssigen Satz! Wer im Freien einen Hubschrauber hört, blickt automatisch nach oben; dass oben der Himmel ist, weiß jedes Kind; dass wir als genetisch bedingte Schlechthörer den Hubschrauber nicht sofort lokalisieren können, also suchen müssen, ist so trivial wie wahr. Was also soll dieser Satz? Welche Informationen liefert er uns? Welch sprachliche Raffinesse weist er auf? Welche neue Bilder prägt er? Wer würde ihn vermissen, stünde er gar nicht da? Eben! Streichen! zurück
Das ist ein Dialektwort – Da ansonsten aber hochdeutsch geschrieben wird, sollte es ansonsten heißen. zurück
Wozu dient diese Höhenangabe? Kein Mensch kann sich das vorstellen, da ihm Vergleichsgrößen fehlen – es ist zudem sowas von überwurschd, ob es 100 oder 150 oder 215,45 m sind! Warum darf der Rotorträger nicht einfach hoch über dem Haus kreisen? zurück
Wo ist das bemühte quengeln geblieben? Wieso droht jetzt der Absturz, da die Rotorblätter einen Abflug machen wollen, schließlich klappern sie bereits, das bedeutet doch: Da hat sich was gelöst oder gelockert? Himmel: Hilf! zurück
Bislang gab es nur einen Hubschrauber – wo kommen die anderen her? zurück
Vorhin waren es etwa einhundert, jetzt sind es genau: Wie ist das zu verstehen? Und wozu soll man das verstehen wollen? zurück
Wieso frisst sich das Leben am eigenen (=seinem) Maul fest? Und was hat das mit der Musik zu tun? zurück
Zum gloriosen Finale dieser Bilderflut wird jetzt gewaltig auf die Kitsch-Tube gedrückt: Die Zeit seines Lebens gerinnt zu Nichts! Leben – Tod – Zeit – Nichts – Raum – Welt: All diese nichtssagenden Schwafelhülsen, die Tiefsinn im Flachwasser vorgaukeln. Ei was nicht gar: Damit wäre Herr Rausch ja mausetot, wäre er ins Nichts geronnen – dennoch geht die Geschichte weiter. Dieses Gesumse hätte der Erzähler sich und dem Leser ersparen können und kann es immer noch durch einfaches Streichen! zurück
So steht’s zumindest in Wikipedia; aber es geht um was anderes, nämlich um den aggressiven Warnlaut: das ist 1er! Das sollte dann heißen: (…) Warnruf des Pirols, dieses djick-jick. zurück
Die Trance ist eindeutig weiblich! Folglich holte ihn all das aus der Trance. zurück
Da ist noch so ein beliebtes hohles Kitschwort: ewig! Was soll das sein? Es bedeutet ohne Anfang und ohne Ende, also etwas, was wir mit unserem vorprogrammierten Ursache-Wirkung-Denken uns überhaupt nicht vorstellen können, und damit ist es letztlich sinnlos. Aber halt schööön kitschig! zurück
Was ist der große Unterschied zwischen »immer so sein« und »bleiben«? Sehen Sie, ich weiß es auch nicht! Warum aber wird dann beides gesondert als etwas Besonderes aufgezählt? Sehen Sie: Ich auch nicht! zurück
Warum nun diese verdrehte Satzstellung? Offen blieb, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Warum muss dieses harmlose Sätzchen so verbogen werden? Wobei mich zusätzlich dieses Präteritum blieb stört: Der Satz kommt mir vor wie ein Erzählerkommentar, und wenn dem so wäre, sollte hier Präsens stehen, da der aktuelle Leser angesprochen und ihm mitgeteilt wird, dass jetzt der Grund für Hundetod und Herrn Rauschs Krüppeldasein erzählt werden wird, wir uns also eigentlich am Ende des Romans befinden. zurück

© 2010 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.