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Textkritik: Abgrund – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Abgrund

von Christoph Wohlstein
Textart: Lyrik
Bewertung: 2 von 5 Brillen

Ich steh’ an eines Abgrunds spitzer Kante
und lasse weithin schweifen meinen Sinn.
Voll stumpfer Neugier recke ich dass Kinn
nach dort, wohin ich den Gedanken sandte.

So wie des Grundes weitgereckte Spanne
bläht sich in meinem Kopf ein gähnend’ Spalt.
Das Schöne meines Lebens, frisch wie alt,
es strömt hinaus, als wirkten Zauberbanne.

Wie hoffte ich, ich käm mit mir ins Reine
Vergebens scheint’s mir: Es vergehet nicht!
So setzt ich mich: Ach traurig’s Los, ich weine!

Selbst Sonnenstrahlen bringen nie mehr Licht
Für den, der einst verlor die Eine.
Wie wünschte ich, es träf mich nicht!

© 2005 by Christoph Wohlstein. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Ein formal fast sauberes Sonett, in bewusst altertümlichen Zungenschlag gehalten, aber es weist inhaltliche Mängel auf.
Auf jeden Fall ist es aufregender und sinnvoller, die immer gleichen Liebes-Abschieds-Gedichte in eine besondere Form zu kleiden, als sie in »moderner Form« (was zumeist als »keine Form« missverstanden wird) hinauszuschreien. Wenn man diese alte Sprache benutzt, merkt man erst, wie alt die heute noch benutzten Bilder sind . vor allem, wenn man noch jung ist wie Schüler Christoph!

Die Kritik im Einzelnen

So sehr sich »spitz« und »stumpf« auch antithetisch gegenüber stehen, so wenig gibt es eine »spitze Kante« denn »Kante« ist im Gegensatz zu »Spitze« eher länglicher Natur; passend wäre »scharfe Kante«, wenn die Gefahr noch betont werden soll – obwohl Abgründe an sich schon gefährlich genug sind.
Wenn jemand seinen Sinn weithin schweifen lässt, dann richtet er gerade nicht 1 Gedanken an 1 speziellen Ort oder 1 bestimmte Person, sondern er lässt seinen Sinn das machen, wonach es den gelüstet. Der kann sich dann z. B. über Schnappi freuen, während dem lyrischen Ich gerade zum Heulen ist. Das hat man davon, wenn man seinen Sinn schweifen lässt!
Und was ist »stumpfe Neugier?« Eine spitze macht auch nichts her. Neugier kann dumpf sein, d. h. unbewusst. Aber stumpf? Dann wäre es keine mehr .
Festzuhalten aber ist: Wir haben es hier mit einem astreinen Quartett zu tun, mit dem Beginn einer Situationsbeschreibung – so, wie es das klassische Sonett verlangt! Passend dazu die altertümelnde Ausdrucksweise. Das hat was, auch wenn es inhaltlich hinkt! zurück
Die strenge Sonettform wird in dieser Strophe verlassen, denn eigentlich müssten die gleichen Reime verwendet werden wie im Quartett davor.
»Des Grundes weitgereckte Spanne« altertümelt dermaßen schräg, dass es schon fast wieder witzig ist. Problematisch ist das »so«, denn es kann sich auf allerlei beziehen, z.B. auf »bläht« – dann würde das aber heißen, dass auch des Grundes weitgereckte Spanne sich bläht, was wiederum nicht sein kann, da die Spanne »weitgereckt« wurde. Warum es nach einem Punkt klein weitergeht mit »das Schöne«, bleibt auch unergründlich, ebenso wie die Einteilung des Schönen in die Lebensmittelkategorien »frisch« und »alt«. Vielleicht gab es für das lyrische Ich bis zu dem Zeitpunkt nur schöne Fraßerlebnisse?
»Zauberbanne« ist eine höchlichst seltene, aber grammatisch tatsächlich korrekte Form! Gemeinhin reicht 1 Bann aus, sodass niemand mit Ächten und Bannen belegt wird. zurück
Völlig korrekt endet nach den beiden Quartetten die Situationsbeschreibung, denn mit dem ersten Terzett beginnt die Reflexionsphase. Was wird reflektiert? Die Vergangenheit? Aber die war schon in der Situationsbeschreibung (»den Gedanken sandte«). Also nichts, außer dass die Hoffnung getrogen hat: Das lyrische Ich kommt nicht mit sich »ins Reine« (worauf ein Satzzeichen folgen müsste), sondern stellt fest: »es vergehet nicht«. Was ist es, das da nicht vergeht? Das Reine? Dann hätte das lyrische Ich noch Hoffnung. Folge von der Unklarheit: Das lyrische Ich setzte sich – also erneut Vergangenheit – und klagt – also Gegenwart – jammernd und im Original kommafrei und apostrophlos »Ach, traurig’s Los« und weint. Da hockt es also an schroffscharfer Abgrundkante und weint, war ja irgendwie zu erwarten. zurück
Die Reflexion beginnt, das lyrische Ich gelangt zu einer Erkenntnis: Sonnenstrahlen bringen für jemanden nie mehr Licht, sondern immer nur genauso viel wie für jeden anderen auch. Gemeint war das zwar garantiert nicht, jedoch lässt es sich problemlos so lesen – das liegt an der Ausdrucksweise. Die letzte Zeile ist wegen der Zeitstufe unklar: Wünscht unser lyrisches Ich sich das jetzt noch, oder denkt es an die seligen Zeiten zurück, wo es sich das Nicht-von-Verlust-betroffen-Werden gewunschen hat (mit Verlaub, mir dreut die Grammatik zu verzagen ob geballter Schwelgerei in gediegensten Formen, bitte um dero Verständnis!)? Jedenfalls sind die beiden Terzette perfekt, und getreu barocker Manierismen hebet am Ende an eyne Klage.
In den beiden Schlusszeilen wird das Metrum auf vier Jamben gekürzt, was eigentlich nicht sein sollte, aber verständlich scheint, denn in Gedanken an die Eine kann die Sprache ruhig versickern. zurück

© 2005 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.