
Warum lesen wir immer wieder dieselben Geschichten? Warum kommt uns vieles, was wir in Romanen, Erzählungen oder Theaterstücken lesen, so vertraut vor? Liegt es an der Faulheit der Autoren oder an der Bequemlichkeit der Leser? Oder steckt mehr dahinter?
Die ewigen Muster des Erzählens
Seit Jahrtausenden erzählen sich Menschen Geschichten. Schon die alten Griechen wussten: Eine gute Erzählung braucht einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Aristoteles hat es in seiner »Poetik« festgehalten, und wir kommen bis heute nicht davon los. Aber das ist nur die Oberfläche. Denn es geht nicht nur um Struktur, sondern um Motive, Figuren und Konflikte, die sich beständig wiederholen. Der Held, der auszog, um die Welt zu retten – oder sich selbst. Die unglückliche Liebe, die zum Untergang führt. Die ewige Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse, Wissen und Unwissen, Leben und Tod. Sind wir wirklich so berechenbar?
Nehmen wir Homers »Odyssee«. Ein Mann irrt durch die Welt, besteht Prüfungen und kehrt schließlich nach Hause zurück. Klingt nach einem Abenteuerroman aus der Antike – oder nach »Der Herr der Ringe«. Oder »Harry Potter und der Stein der Weisen«. Oder »Krabat«. Oder irgendeinem Roadmovie, in dem der Protagonist am Ende klüger (oder zumindest müder) ist als zu Beginn. Variationen über ein Thema. Wir wissen, wie es ausgeht, aber das hält uns nicht davon ab, es immer wieder zu lesen. Es ist ein bisschen wie mit unserem Lieblingsessen – wir kennen den Geschmack, aber wir wollen es und ihn dennoch immer wieder genießen.
Archetypen und ihre modernen Gesichter
Der Psychiater Carl Gustav Jung sprach von Archetypen, den Urbildern des Erzählens, die tief in unserem kollektiven Unbewussten verankert sind. Der Held, der Mentor, der Trickster, der Schatten – wir erkennen sie, selbst wenn sie sich hinter anderem Namen und anderen Kulissen verbergen. Faust ist ein Wissenssucher, genau wie J. Robert Oppenheimer, genau wie Victor Frankenstein. Till Eulenspiegel ist ein Narr, genau wie Bugs Bunny, genau wie Tyrion Lannister aus »Game of Thrones«. Manchmal ist es ein Theaterstück, manchmal ein Buch, manchmal eine Serie auf Netflix. Aber wir wissen, worauf es hinausläuft, und wir bleiben trotzdem gebannt.
Das liegt nicht nur an der Struktur, sondern an der Kunst der Variation. »Romeo und Julia« sterben seit Jahrhunderten in verschiedenen Kostümen und Städten, mal in Verona, mal in der Bronx, mal in der Science-Fiction-Zukunft. Und dennoch wird die Geschichte jedes Mal neu und anders erzählt. Es ist nicht die Handlung, die uns fesselt, sondern die Art, wie sie vermittelt wird. Ein Satz, eine Perspektive, eine Wendung, die uns glauben macht: Diesmal ist es anders. Diesmal könnte es gut ausgehen. Und wenn nicht? Dann eben beim nächsten Buch.
Besonders deutlich zeigt sich das in New Adult-Romanen, die nach ganz bestimmten Mustern funktionieren. »Enemies to Lovers«, »Fake Dating«, »Forbidden Love« – diese sogenannten Tropes kehren immer wieder, oft nur leicht variiert. Ein arrogantes Alphamännchen, eine schlagfertige Protagonistin, eine dramatische Enthüllung, ein Happy End. Und doch verschlingen Leser diese Geschichten immer wieder, weil jede Autorin ihre eigene Note einbringt, einen neuen Blickwinkel, eine neue Atmosphäre. Wir wissen genau, was uns erwartet, und genau das ist Teil des Reizes.
Von Shakespeare bis Juli Zeh
Moderne Autoren spielen bewusst mit diesen Mustern, brechen sie auf oder drehen sie ins Gegenteil. Elfriede Jelineks »Die Klavierspielerin« liest sich wie ein dunkles Märchen, in dem das »Happy End« in weiter Ferne liegt. Juli Zeh nimmt Shakespeares »Maß für Maß« und verlegt die Handlung mit »Corpus Delicti« in eine totalitäre Gesundheitsdiktatur. Während Alain Robbe-Grillet den Detektivroman zerlegt, bis nur noch Fragmente übrig bleiben. Und dennoch funktioniert es, weil wir die Muster kennen, mit denen gespielt wird. Ohne Wiederholung gäbe es keine Brechung, keine Überraschung. Auch Margaret Atwood rät dazu, die Klassiker zu lesen, um sich bei diesen Handlungsstrukturen wie bei einem Baukasten zu bedienen.
Aber es ist nicht nur die Wiederholung, die uns fesselt. Es ist auch die Art, wie wir als Leser in die Geschichten hineinwachsen. Was wir als Jugendliche verschlungen haben, lesen wir als Erwachsene mit anderen Augen. Die tragische Liebe, die uns mit 16 das Herz brechen ließ, wirkt mit 40 vielleicht wie eine unnötige Schwärmerei. Oder umgekehrt: Ein Buch, das uns einst langweilte, offenbart Jahrzehnte später seine ganze Tiefe. Man könnte also sagen, dass nicht nur die Geschichten sich wiederholen, sondern auch wir als Leser, nur in leicht veränderter Form. Wir betreten immer wieder dieselben Räume, aber die Möbel stehen ein wenig anders.
Gibt es überhaupt neue Geschichten?
Und dann gibt es die große Frage, ob überhaupt jemals eine wirklich neue Geschichte erzählt wurde. Jorge Luis Borges hat in »Die Bibliothek von Babel« das Bild einer unendlichen Bibliothek geschaffen, in der jedes erdenkliche Buch bereits existiert – jede Variante jeder Geschichte, jedes Wort, das je geschrieben wurde und je geschrieben werden könnte. Falls das stimmt, ist jede Geschichte nur eine Neuanordnung von etwas, das bereits da war. Und wenn wir tief genug graben, finden wir in allem eine Parallele zu etwas anderem. »Harry Potter« ist nicht nur Odysseus, sondern auch Moses und Jesus und irgendein Bauer aus einem unbekannten Märchen, der mit drei Prüfungen konfrontiert wird. Sherlock Holmes ist nicht nur ein brillanter Detektiv, sondern auch ein Halbgott, ein Trickster, ein unsterbliches Motiv.
Vielleicht liegt die Antwort also gar nicht in der Literatur selbst, sondern in uns. Wir lesen dieselben Geschichten, weil wir dieselben Menschen bleiben – mit denselben Ängsten, Hoffnungen, Sehnsüchten. Weil wir immer wieder dieselben Fragen stellen: Was bedeutet es, ein guter Mensch zu sein? Was tun wir gegen das Unvermeidliche? Und gibt es am Ende Hoffnung oder nur ein großes, dunkles Nichts? Die Literatur antwortet darauf, mal mit einem zarten Trost, mal mit einem bitteren Lächeln. Und deshalb kommen wir immer wieder zurück. Zum selben Buch, zur selben Geschichte – oder zu einer, die nur so tut, als wäre sie neu.
Denn am Ende geht es nicht darum, dass wir uns wiederholen. Es geht darum, dass wir uns erinnern.
Siglinde Auberle
Sehr schöner und erhellender Artikel. Uns beschäftigt zur Zeit wieder mal sehr stark „Lord of the Rings“, weil unser zehnjähriger Enkel die „Gefährten“ liest (den Film darf er sich erst antun, wenn er etwas älter ist) und sich darüber intensiv mit uns austauscht. Und ich entdecke jetzt, dass Tolkien sehr „shakespearian“ schreibt, angefangen von der Bevölkerung seiner Erzählung mit Archetypen bis zu Farbigkeit und Rhythmus seiner Sprache. Daher kommt wohl die ungeheure Kraft dieses Epos. (Leider kann auch die neue Übersetzung diesen Zauber nur ungenügend abbilden. Die deutsche Sprache eignet sich für diese Eleganz einfach nicht richtig.)
Wirklich ein sehr inspirierender Artikel, der mehr Resonanz verdient.
Ich denke, Archetypen gehören einfach zu unserem menschlichen „Betriebssystem“. Immer wenn es hochfährt, werden sie automatisch geladen. Die Herausforderung besteht vor allem darin, sie nicht zu stereotypen Vorlagen nach dem Motto „Malen nach Zahlen” werden zu lassen.
Wenn ich aktuelle Genre-Literatur sehe, habe ich da zuweilen meine Bedenken. Etwa beim Studium von Seiten wie piper.de/romance-tropes . Bei der Aufzählung dort wird mir ganz schwummerig. Slow Burn, Forced Proximity, Grumpy-meets-Sunshine. Klingt wie Rezeptideen für die Cocktailparty.
Um den Schlusssatz des Artikels leicht zu variieren: Am Ende geht es nicht darum, dass wir Plätzchen nach vorgestanzten Mustern ausstechen. Es geht darum, dass wir den Ausstechformen unsere eigenen Ecken und Kanten hinzufügen. Aus meiner (sehr persönlichen) Sicht kommen diese Ecken und Kanten gar nicht so sehr aus einzigartig ausgeklügelten Details im Plot, sondern vor allem aus dem ganz individuellen Erzählton und aus der Haltung, die der Erzähler gegenüber der Welt einnimmt. Säuselnd, wehklagend, schnoddrig, rau, hardboiled, cool oder abgeklärt oder wie auch immer.
Schreiber nach Rezept und Abkupferer gab’s schon immer, seit ein paar Jahrzehnten auch pseudoexperimentelle Auffallenwoller. Die meisten wurden vergessen. Die Schmonzetten-Rezept-Köche haben natürlich Erfolg. Die Masse der Dumpfleser will halt immer wieder das Gleiche (je erlogener, desto desorientierter sie ihrer Umwelt gegenüberstehen) und Verlage werden immer gewinnsüchtiger. Na ja, immerhin lesen diese literarischen Junkfood-Verschlinger wenigstens noch statt nur auf Bildschirme zu glotzen.
Aber solche Schreiber waren mit dem Artikel ja nicht gemeint, sondern die Verwandtschaft aller grundlegenden Storys durch die Jahrhunderte und über die ganze Welt verteilt. Ich beschäftige mich seit Jahrzehnten intensiv mit Volksmärchen aller Länder. Dass man z.B. in südostasiatischen und südamerikanischen Märchen ähnliche Motive findet wie in den europäischen, erstaunt beim Lesen, ist aber eigentlich nicht erstaunlich. Kulturen mögen grundverschieden sein, Menschen sind sich überall im Prinzip sehr ähnlich.