0
StartseiteLiterarisches LebenSebastian Guggolz vom S. Fischer Verlag über Thomas Mann: »Er ist immer...

Sebastian Guggolz vom S. Fischer Verlag über Thomas Mann: »Er ist immer zeitgemäß, weil er zeitlos ist!«

Sebastian Guggolz, Leiter der Klassiker im S. Fischer Verlag (Foto: Nils Stelte)
Sebastian Guggolz, Leiter der Klassiker im S. Fischer Verlag (Foto: Nils Stelte)

2025 jährt sich der Geburtstag von Thomas Mann zum 150. Mal. Beim S. Fischer Verlag hat man sich über eineinhalb Jahre auf das Jubiläumsjahr vorbereitet. Sebastian Guggolz, Leiter der Klassiker im Verlag, verrät uns im Gespräch seine ganz persönliche Leseempfehlung und erläutert, warum Manns Sprache gerade heute ein wirksames Gegengewicht zu populistischen Phrasen ist.

literaturcafe.de: Herr Guggolz, wenn Sie ein jüngerer Mensch um die 20 und ein etwas älterer Mensch über 50, die beide noch nie etwas von Thomas Mann gelesen haben, fragen, was sie denn zum Einstieg empfehlen würden, nennen Sie dann beiden das gleiche Werk oder verschiedene? Und warum?

Guggolz: Ich würde beiden Leseinteressierten nicht nur ein bestimmtes Werk empfehlen, sondern versuchen herauszubekommen, was es jeweils sein könnte, das sie in den Kosmos Thomas Mann hineinführen könnte. Vielleicht eine Erzählung? Etwa »Tod in Venedig«, »Tonio Kröger« oder »Mario und der Zauberer«? Oder eine der unbekannteren, »Unordnung und frühes Leid«, oder »Herr und Hund«? Möglicherweise ist es aber auch eher ein Roman, der den Lesewilligen packen kann, dann wären es sicherlich der Lebensroman »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« oder, das kann man allen Altersgruppen immer empfehlen, sein Erstling »Buddenbrooks«.
Aus aktuellem Anlass würde ich aber auch »Deutsche Hörer!« zur Lektüre empfehlen, älteren wie jüngeren Lesebegierigen. In diesen über 50 Rundfunkansprachen, die zwischen 1940 und 1945 aus Kalifornien über die BBC in London nach Nazi-Deutschland gesendet wurden, lernt man den engagierten, empörten und wütend warnenden Thomas Mann kennen – und der kann niemanden kalt lassen.

literaturcafe.de: Thomas Mann gilt als Meister der präzisen Beschreibung. Bisweilen macht man sich heute auch lustig über seine langen Sätze. Heute ist die Aufmerksamkeitsspanne kürzer. Ist denn Manns Art zu schreiben heute noch zeitgemäß?

Guggolz: Ich würde sagen: Er ist immer zeitgemäß, weil er zeitlos ist! Literatur muss doch keine Verlängerung der Realität und des eigenen Alltags ins Lesen hinein sein. Sondern kann auch der Genuss an der grandiosen Formulierung, am weitverschlungenen, und doch immer punktgenau an ein pointiertes Ende kommenden Satzes sein. Muss es vielleicht sogar! Diese Mann’sche Sprache ist in gewisser Weise auch ein Gegengift gegen die dumpfen populistischen Parolen und Phrasen, die uns aus der politischen Sphäre der Nachrichten und der dreisten Sphäre der Werbung unentwegt entgegenschallen. Ein Gegengift, das große Freude und Beglückung bietet, wenn man sich diesen glanzvollen Sätzen nur hingibt.

literaturcafe.de: Was können denn Autorinnen und Autoren heutzutage von Thomas Manns Stil und seiner Art zu schreiben lernen?

Guggolz: Sie können sich eine Menge abschauen, wie man auch schreiben kann. Sie können die Grammatik, die Ironie und die Präzision lernen. Und sie können lernen, dass, wenn man es kann, die Sätze gar nicht lange genug sein können. Ein gelungener Satz ist ein gelungener Satz, ob er sich über zwei oder 25 Zeilen hinzieht.

literaturcafe.de: Wenn gerade nicht Jubiläumsjahr ist: Wie wichtig ist denn Thomas Mann noch für den S. Fischer Verlag? Mann ist ja auch Schullektüre, doch dort wird mittlerweile auch diverser gelesen und nicht nur Literatur von Männern. Merken Sie in den Verkaufszahlen etwas davon?

Guggolz: Es gibt Wellenbewegungen der Aufmerksamkeit, die werden durch Jubiläen natürlich bestärkt. Neben dem 150. Geburtstag von Mann selbst war das im vergangenen Jahr schon der 100. Geburtstag des Jahrhundertromans »Zauberberg«. Anfang 2026 ist es der 125. Geburtstag der »Buddenbrooks«. Aber dass Thomas Mann heutzutage nicht mehr oder spürbar weniger gelesen würde, weil er ein weißer Mann war, ein alter zudem, das sehe ich nicht, das lässt sich auch an den Zahlen nicht ablesen. Thomas Mann ist größer als diese plumpe Zuschreibung.
Für den S. Fischer Verlag bedeutet er ein Fundament, denn diese Autor-Verlags-Beziehung, die sein ganzes Leben andauerte, vom Erzählungsdebüt mit »Der kleine Herr Friedemann« in der Neuen Rundschau 1897 bis zu seinem Tod 1955, ohne Unterbrechung, auch nicht durch Exil sowohl des Autors als auch des Verlags. Eine solche lebenslängliche Arbeitsbeziehung ist einzigartig in der deutschsprachigen Literatur.

literaturcafe.de: Wie lange haben Sie sich denn im Verlag auf das Jubiläumsjahr vorbereitet? Was sind für Sie die Highlights? Welche besonderen Buchausgaben gibt es?

Guggolz: Wir haben nun über anderthalb Jahre diesen Auftritt zum 150. Geburtstag vorbereitet. Daraus ist in diesem Frühjahr eine eigene Thomas-Mann-Vorschau nur mit Titeln von und zu ihm geworden – das muss man sich mal vorstellen! Ich finde das fantastisch. Und wir haben daneben auch eine Menge Begleitlärm geplant, nicht allein als S. Fischer Verlag, sondern auch mit den verschiedenen Institutionen: mit dem Buddenbrookhaus in Lübeck, dem Thomas-Mann-Archiv in Zürich und den amerikanischen Thomas-Mann-Häuser Villa Aurora und Thomas Mann House. Wir werden eine Thomas-Mann-Playmobilfigur in die Buchhandlungen bringen (das ist ein Lieblingsprojekt des ganzen Verlags), Veranstaltungen überall im deutschsprachigen Raum durchführen, im Rundfunk, der Presse und, und, und.
Besonders hervorheben möchte ich – neben den ganzen Büchern über Thomas Mann etwa von Hans Wißkirchen über die Brüder Heinrich und Thomas Mann, von Barbara Hoffmeister über die Beziehung von Thomas Mann zum S. Fischer Verlag und von Felix Lindner mit sehr lustigen Auszügen aus Manns Tagebüchern – die Publikationen, die seine eigenen Werke neu präsentieren. Das sind die schon erwähnten »Deutsche Hörer!«, die wir in einer Neuausgabe mit fulminanten Vor- und Nachworten der ebenso fulminanten Mely Kiyak herausgeben, sowie die sehr hübsch neugestaltete Reihe seiner wichtigsten Romane und Erzählungen im Taschenbuch, mit Nachworten berühmter Autorinnen und Autoren. Sie sehen: Kein Leser, keine Leserin wird sich beschweren können, nichts in unserem Programm zu finden, das Angebot ist umfassend einmal rundherum.

literaturcafe.de: Welche Zielgruppen möchten Sie im Jubiläumsjahr besonders ansprechen? Wie erreichen Sie Menschen, die mit Thomas Mann bisher nichts anfangen konnten?

Guggolz: Keiner soll an Thomas Mann vorbeikommen, keiner soll nicht vom Thomas-Mann-Jahr erfasst werden. Ich möchte niemanden ausschließen, niemandem das Glück der Thomas-Mann-Lektüre verwehren. Deshalb ziehen wir auch alle Register, machen unsere Bücher so ansprechend wie möglich für jüngeres, neues Publikum, vergessen aber gleichzeitig auch das klassische Thomas-Mann-Publikum nicht, so etwa mit dem Essayband der Jahre 1926-1933, der in der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe (GKFA) herauskommen wird.

literaturcafe.de: Für den S. Fischer Verlag waren die Rechte an Manns Werk immer sehr wichtig. Gerichtlich wurde von Deutschland aus sogar der Zugriff auf das Projekt gutenberg.org gesperrt, da in den USA andere Fristen gelten und Mann-Texte dort bereits gemeinfrei waren. Nun ist Thomas Mann im kommenden Jahr über 70 Jahre tot und auch in Deutschland sind seine Texte dann nicht mehr geschützt. Wie stellen Sie sich als Verlag darauf ein? Können Sie die Texte dennoch z. B. durch editorische Leistungen schützen? Droht nicht die Gefahr, dass wir im kommenden Jahr von minderwertig editierten oder gar von der KI gekürzten Mann-Texte überflutet werden?

Guggolz: Unser Jubiläumsprogramm ist schon eine Vorbereitung auf die Zeit danach, wenn Thomas Manns Werke überall gedruckt werden können. Wir achten darauf, dass unsere Ausgaben, die alle auf der GKFA beruhen, also auf der grundlegenden Thomas-Mann-Edition, den höchsten editorischen Standard erfüllen. Und wir sind überzeugt: Auch danach wird S. Fischer die erste Adresse für Thomas Mann sein. Hier sitzt die Expertise über den Autor und sein Werk, bei uns sind alle Bücher lieferbar, in unterschiedlichen Ausgaben, als Lesefassungen und als kommentierte Ausgaben. Da können die anderen Verlage auch »Buddenbrooks« drucken, wie sie wollen, nur bei uns kriegt man es auch in der Gestalt der Originalausgaben, nur bei uns gibt es die jahrzehntelange Geschichte zwischen Autor und Verlag gratis mit dazu.

literaturcafe.de: Haben Sie zum Schluss noch eine ganz persönliche Thomas-Mann-Leseempfehlung?

Guggolz: Ich habe, neben den erschreckend aktuellen, aufwühlenden Rundfunkreden der »Deutschen Hörer!«, einen heimlichen Lieblingstext, der eigentlich ganz unspektakulär ist. Es ist »Meerfahrt mit Don Quijote«, ein literarisches Tagebuch der Ozeanüberfahrt auf einem Luxusdampfer von Boulogne-sur-mer nach New York, wo Thomas Mann seine »Joseph«-Romane vorstellen soll. Dabei liest Thomas Mann »Don Quijote« von Cervantes zu Ende und notiert seine Gedanken dazu. Doch 1934, im Jahr der Veröffentlichung, bedeutet diese Ozeanüberquerung auch, dem Kontinent des aufziehenden Nationalsozialismus den Rücken zu kehren. Mann hatte Deutschland bereits 1933 verlassen, das Exil war zur Zeit des Schreibens schon Realität. Und »Don Quijote« ist nicht irgendein Buch – als erster Roman der europäischen Neuzeit steht er für die literarische Kultur des alten Kontinents wie kein zweiter. Dazu kommt das Meer, mit dem Thomas Mann ganz besonders verbunden ist: Diese Bündelung an Motiven und Themensträngen macht diese kleine essayistische Erzählung zu einer meiner liebsten.

literaturcafe.de: Herr Guggolz, vielen Dank für das Gespräch. Wir wünschen Ihnen und allen Leserinnen und Lesern ein bereicherndes Jubiläumsjahr!

Hinweis: Das Interview wurde per E-Mail geführt.

Link ins Web

  • Auf thomasmann.de finden sich alle Infos zum Jubiläumsjahr, zu Thomas Mann und seinen Werken.
Wolfgang Tischer vom literaturcafe.de ist offizieller Thomas-Mann-Botschafter
Wolfgang Tischer vom literaturcafe.de ist offizieller Thomas-Mann-Botschafter

Weitere Beiträge zum Thema

1 Kommentar

  1. „Was können denn Autorinnen und Autoren heutzutage von Thomas Manns Stil und seiner Art zu schreiben lernen?“

    Nachdem ich jahrelang keinen Thomas Mann mehr angefasst habe, habe ich die Leseprobe des oben avisierten Bändchens „Mit Thomas Mann durch das Jahr“ durchgescrollt und mich sehr amüsiert.

    Ich denke, als Autor wie als Leser kann man von Thomas Mann lernen, wie man selbst die persönlichsten Umstände von Gehorsamsproblemen mit dem Hund bis zur Obstipation mit einer quasi-aristokratischen, stoizistischen Haltung betrachten kann. Diese Sprache ist maximal distanziert und gleichzeitig maximal präzise. Das unterscheidet sich wohltuend von dem Schwelgen in individueller Befindlichkeit, wie wir es in unserer zeitgenössischen Literatur allzu oft sehen.

    Zitat: „Besichtigung der Magen- und Darmaufnahmen. Verhältnisse bringen eine gewisse Verlangsamung des Transportes mit sich. 16.1.1952“

Schreiben Sie einen Kommentar

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein.
Bitte geben Sie Ihren Namen ein