StartseiteBuchkritiken und TippsPodcast mit Jocelyne Saucier: »Im Norden Kanadas wartete ein Roman auf mich«

Podcast mit Jocelyne Saucier: »Im Norden Kanadas wartete ein Roman auf mich«

Jocelyne Saucier erzählt von der Entstehung ihres Romans »Was dir bleibt« (Insel Verlag) (Foto: Ariane Ouellet)
Jocelyne Saucier erzählt von der Entstehung ihres Romans »Was dir bleibt« (Insel Verlag) (Foto: Ariane Ouellet)

Gladys Comeau steigt in einen Zug. Sie verlässt ihr Heimatdorf im Norden Kanadas und lässt ihre hilfsbedürftige Tochter zurück. Im Podcast des literaturcafe.de berichtet die kanadische Autorin Jocelyne Saucier, wie die Geschichte ihres Romans »Was dir bleibt« entstanden ist und welche Rollen dabei eine alleinreisende Frau und Tolstoi spielten.

Seen, Wälder, Flüsse – und Buchhandlungen

Die Autorin Jocelyne Saucier lebt in einem kleinen kanadischen Dorf, 700 Kilometer nördlich von Montreal. Ist es dort so, wie wir uns das vorstellen: Einsamkeit, Blockhütten, Seen und Wälder?

Ganz so sei das nicht, sagt Jocelyne Saucier, als wir sie für ein ausführliches Podcast-Gespräch daheim anrufen. Zwar gäbe es dort eine Menge Seen, Wälder und Flüsse, aber natürlich gäbe es auch Städte, Dörfer, ein kulturelles Leben – und Buchhandlungen. Dennoch leben in der Region, die halb so groß ist wie Deutschland, im Schnitt nur 2 Menschen auf einem Quadratkilometer.

Mit ihren Roman »Ein Leben mehr« wurde Jocelyne Saucier auch in Deutschland bekannt (siehe Buchbesprechung im literaturcafe.de). Im September 2020 ist ihr neuestes Werk »Was dir bleibt« nahezu zeitgleich im kanadisch-französischen Original und auf Deutsch erschienen, übersetzt von Sonja Finck und Frank Weigand.

Jocelyne Saucier: Was dir bleibt, erschienen im Insel Verlag
Jocelyne Saucier: Was dir bleibt, erschienen im Insel Verlag

Im Originaltitel »À Train perdu« schwingt mehr vom Inhalt mit, wenngleich er sich in seiner Mehrdeutigkeit und Andeutung nicht übertragen lässt. »Im Zug verloren« klingt seltsam, und im Französischen kann man sogar einen Anklang an Prousts verlorener Zeit heraushören (»À la recherche du temps perdu«).

Thematisch und in der Form nimmt »Was dir bleibt« Vieles auf, was sich schon in »Ein Leben mehr« findet.

Gladys besteigt einen Zug und kehrt nie zurück

Die Hauptperson Gladys Comeau ist 76 Jahre alt. Nach dem frühen Tod ihres Mannes – der Bergarbeiter starb bei einem Grubenunglück – lebt sie in einer kleinen Siedlung in den nördlichen Wäldern Ontarios, an der Grenze zu Québec. Ihre Tochter, die nun über 50 Jahre alt ist, lebt bei ihr. Bereits in jungen Jahren unternahm Lisana einen Suizidversuch. Sie ist depressiv und scheint allein nicht lebensfähig.

Und dennoch verlässt Gladys eines Tages plötzlich ihre Tochter und ihr Leben. Ohne Koffer und scheinbar unvorbereitet besteigt sie den Northlander-Zug und ist verschwunden. Sie wird nie zurückkehren. Selbst ihre Tochter, die die Nachbarn am Küchentisch sitzend vorfinden, weiß nicht, wohin Gladys will und warum sie weg ist.

Saucier lässt die Geschichte und die Fahrt Gladys’ von vielen Stimmen erzählen. Jahre später reist ein jüngerer Mann ihre Route nach. Er spricht mit Zugbegleitern und Menschen, die Gladys begegnet sind. Es ist der Kniff dieser Erzählweise, dass wir nur durch Dritte und nie von Gladys selbst ihre (möglichen) Motive erfahren. In »Was dir bleibt« bleibt somit auch viel den Gedanken von Leserinnen und Lesern überlassen.

School Trains: Klassenzimmer im Eisenbahnwaggon

Zudem hat Jocelyne Saucier für ihren Roman die Geschichte der »School Trains« wiederentdeckt. Es waren als Klassenzimmer umgebaute Eisenbahnwaggons, die in die entlegenen Gegenden des kanadischen Nordens fuhren, dort für einige Tage abgestellt wurden, um so den Kindern in entlegenen Gebieten eine schulische Bildung zu ermöglichen. Von 1926-1967 waren diese »School Trains« im Einsatz, und Jocelyne Saucier erzählt, dass die Geschichte dieser Züge selbst in Kanada vergessen sei. Schon bei der Recherche zu »Ein Leben mehr« sei sie jedoch Menschen begegnet, die einst in diesen Klassenzimmerwaggons unterrichtet wurden.

Im Vorsatz des Buches sind die Bahnlinien zu sehen, auf denen Gladys Comeau unterwegs ist.
Im Vorsatz des Buches sind die Bahnlinien zu sehen, auf denen Gladys Comeau unterwegs ist.

Jocelyne Saucier reiste selbst mit Zügen in den Norden Kanadas. »There was a novel for me waiting there«, so beschreibt sie selbst ihr Gefühl, dass dort ein Roman auf sie wartete, der geschrieben werden wollte.

Und schließlich war es eine alleinreisende ältere Frau, die Saucier die Inspiration für die Figur der Gladys brachte. Die Frau sprach auf der langen Zugfahrt mit niemandem. Lief sie vor etwas davon? Selbst wenn die Züge längere Zeit auf einem Nebengleis auf überholende Güterzüge warten mussten und man spätestens dann mit den Mitreisenden ins Gespräch kam, blieb diese Frau für sich.

Zudem war es eine Episode aus dem Leben Tolstois, die auch in die Figur der Gladys Comeau eingeflossen sei. Denn auch der russische Dichter bestieg eines Tages unvermittelt und unangekündigt einen Zug und war zunächst verschwunden.

Vom kanadischen und deutschen Lesepublikum

Jocelyne Saucier gibt im Gespräch interessante Einblicke in die Entstehung des Romans. Das ist es auch, was kanadische Leserinnen und Leser interessiert, denn Lesungen und Lesereisen wie hierzulande kennt man dort nicht.

Leider kann Jocelyne Saucier in diesem Jahr nicht nach Deutschland kommen, um als Vertreterin des Gastlandes Kanada die Frankfurter Buchmesse zu besuchen und ihren neuen Roman auch hierzulande zu präsentieren, doch vor gut einem Jahr war Jocelyne Saucier in Deutschland unterwegs. Wo sind die Unterschiede beim Lesepublikum? Saucier kann sie klar benennen: In Deutschland sind die Leserinnen und Leser mehr am Sinn einer Geschichte interessiert, in Nordamerika geht es mehr um die Geschichte selbst und speziell in Québec sei das Publikum mehr am Prozess des Schreibens interessiert.

»Was dir bleibt« erzählt eine sehr bewegende Geschichte. Doch trotz der Schicksalsschläge im Leben von Gladys Comeau und ihres plötzlichen und merkwürdigen Verschwindens, legt Jocelyne Saucier im Gespräch wert auf die Feststellung, dass ihre Hauptfigur positiv und optimistisch auf das Leben blicke.

Hören Sie das ausführliche Gespräch mit Jocelyne Saucier im Podcast des literaturcafe.de über den Player unten auf dieser Seite. Der Podcast ist zudem auf allen Portalen wie Apple iTunesSpotify oder Deezer zu hören und zu abonnieren. Viel Spaß beim Hören!

Jocelyne Saucier; Sonja Finck (Übersetzung): Was dir bleibt: Roman. Gebundene Ausgabe. 2020. Insel Verlag. ISBN/EAN: 9783458178781. 22,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Jocelyne Saucier; Sonja Finck (Übersetzung): Was dir bleibt: Roman (insel taschenbuch). Taschenbuch. 2021. Insel Verlag. ISBN/EAN: 9783458681762. 11,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Jocelyne Saucier; Sonja Finck (Übersetzung): Was dir bleibt: Roman. Kindle Ausgabe. 2020. Insel Verlag. 10,99 €  » Herunterladen bei amazon.de Anzeige

Weitere Beiträge zum Thema

Schreiben Sie einen Kommentar

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein.
Bitte geben Sie Ihren Namen ein