StartseiteE-BooksMorgen mehr: Verleger Jo Lendle über die täglichen Romanhappen von Tilman Rammstedt

Morgen mehr: Verleger Jo Lendle über die täglichen Romanhappen von Tilman Rammstedt

Tilman Rammstedt schreibt »Morgen mehr«
Vom Verlag an den Schreibtisch gefesselt? Tilman Rammstedt schreibt jeden Tag zwei Romanseiten (Bildcollage mit einem Video des Hanser Verlags)

Tilman Rammstedt – u. a. Bachmannpreisträger 2008 – schreibt einen neuen Roman. Und zwar vom 11. Januar bis zum 8. April 2016. Am 9. Mai 2016 soll das fertige Buch mit dem Titel »Morgen mehr« dann im Hanser Verlag erscheinen und gedruckt in den Buchhandlungen liegen.

Jeder kann jedoch vorab die Entstehung des Romans verfolgen, denn per E-Mail, WhatsApp-Nachricht und sogar gelesen als Audio-Datei wird Tilman Rammstedt ab dem 11. Januar 2016 täglich seine zwei getippten Seiten sofort an jede und jeden verschicken, der sie lesen oder hören will.

Ist das nur eine Spielerei? Hochliteratur? Oder Kinderkram? Wolfgang Tischer hat Rammstedts Verleger Jo Lendle gefragt.

literaturcafe.de: Lieber Jo Lendle, jetzt mal ehrlich: Einen Roman, dessen Entstehung die Leser quasi live mitverfolgen können, das ist doch sowas von 1999. Denn da schrieb bereits Matthias Politycki seine »Novel in Progress« im Internet vor den Augen der Websurfer.

Jo Lendle: Die Grundidee ist sogar noch viel älter. Wir hängen uns bewusst an die altehrwürdige Tradition des Fortsetzungsromans, der seit dem 19. Jahrhundert in Zeitungen erschien. Später gab es immer wieder Versuche, das Niedrigschwellige des Netzes für die Verbreitung von Literatur zu nutzen. Manches kam zu früh, manches blieb erratisch oder kreiste um sich selbst. Morgens von einem frisch geschriebenen Romankapitel zum Mitlesen und Anhören geweckt zu werden, das habe ich bislang noch nicht erlebt.

Hanser-Verleger Jo Lendle
Hanser-Verleger Jo Lendle

literaturcafe.de: Aber natürlich spekulieren Sie sicherlich auch auf einen Werbeeffekt und Berichten in On- und Offline-Medien?

Jo Lendle: Wir spekulieren immerzu auf Effekte. Manchmal sind die Medien on, manchmal sind sie off.

literaturcafe.de: Wie entstand die Idee zu diesem Projekt? Und was war das Ausschlaggebende für Sie zu sagen: Ok, wir machen daraus ein offizielles Verlagsprojekt und mehr als ein witziges Online-Special?

Jo Lendle: Die Idee entstand aus Tilman Rammstedts sehr eigenwilligen Art, seine Romane entstehen zu lassen. Er hat immer von Tag zu Tag geschrieben und mich mitlesen lassen. Das sollten, dachte ich mir, auch andere erleben.

Das Video zum Projekt

literaturcafe.de: Self-Publisher und Heftroman-Autoren hämmern ja auch ihre Texte in wenigen Tagen runter. Aber bei einem Hanser-Buch? Haben Sie keine Angst, dass der Ruf vom wohlüberlegten, wohlgeformten und gutgereiften literarischen Text leidet? Der literarische Hanser-Autor – in Wirklichkeit ein Fließbandschreiber? Der Hanser Verlag als Hort für Spaßprojekte?

Jo Lendle: Wer Tilman Rammstedts bisherige Romane kennt, die hochgelobt und preisbehängt sind, zweifelt nicht an ihrer Wirkmacht und Kunstfertigkeit. Sie sind alle unter abenteuerlichen Bedingungen entstanden. Diesen Prozess machen wir jetzt transparent.

literaturcafe.de: Kein Roman erscheint normalerweise so, wie ihn der Autor in der ersten Version runtertippt. Zu den wesentlichen Aufgaben des Verlags gehört ein gutes Lektorat. Wenn der Autor Tag für Tag seinen Text bereits in die Welt schickt, entwerten Sie da nicht diese wichtig Verlagsarbeit, indem Sie den Anschein erwecken, dass ein Roman bereits fertig aus der Autorentastatur fließt? Wie vermitteln Sie den Verlagsanteil an diesem Werk.

Jo Lendle: Jedes Tageskapitel wird vor der Veröffentlichung selbstverständlich lektoriert. Aber natürlich hat der Text kaum Zeit zum Abhängen. Für die Buchausgabe wird Tilman Rammstedt das Ganze daher noch einmal in der Zusammenschau überarbeiten.

literaturcafe.de: Ein grober Plot für den Roman steht ja bereits fest, der reichlich abgefahren klingt. Aber was machen Sie, wenn der Autor nach einer Woche an einer Schreibblockade leidet oder Tilman Rammstedt nur langweiliges Zeug oder gar seitenweise das Gleiche schreibt?

Jo Lendle: Der Plot ändert sich leider von Woche zu Woche, da steht offengestanden noch nichts. Schreibblockaden und Zeitdruck gehören zu dieser Arbeit dazu, ich hoffe, dass Tilman Rammstedt solche Aspekte wirkungsvoll einzuarbeiten verstehen wird.

literaturcafe.de: Ab heute gibt es zu diesem Projekt auch eine Crowdfunding-Kampagne auf startnext.de. Warum sammeln Sie denn dafür Geld ein? Ist es nicht eigentlich Aufgabe des Verlags, ein Buchprojekt zu finanzieren, an das er glaubt?

Jo Lendle: Durchaus. Und der Aufwand für diese Vorbereitungen war wahrscheinlich sogar höher als der dadurch entstehende Erlös. Aber wir wollten das Unternehmen früh sichtbar machen, dafür ist Startnext ein guter Ort.

literaturcafe.de: Lieber Jo Lendle, vielen Dank für das Gespräch. Wir sind sicherlich genauso gespannt wie Sie, wie der fertige Roman aussehen wird.

Das Interview wurde per E-Mail geführt

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3 Kommentare

  1. Ich habe ähnliche Bedenken. Ich kenne keine erste Fassung, angesehen von der Jack Kerouac “Original Scroll” von “On the road”, die veröffentlicht worden ist. Und dieses “jeder Teil wird lektoriert” schmeckt wie die teilweise Übersetzung von “The green mile” damals. Weil die Übersetzer das Ende nicht kannten, haben sich da ganz schön viele Fehler eingeschlichen. Die Gefahr sehe ich auch hier. Dennoch, spannende Idee. Mal sehen, was passiert.

  2. Ein ähnliches Projekt habe ich seit dem 30. März 2015 am Start, allerdings erscheint ein Textstück wöchentlich und das ganze Projekt läuft mindestens über ein Jahr.

    Die Stücke werden ebenfalls laufend lektoriert, nach dem Abschluss wird (und muss es) es ein weiteres Lektorat geben, um den Roman in Buchform bringen zu können. Nun, vielleicht habe ich Lendle/Rammstedt inspiriert. Warum nicht?

    Wer schauen mag:
    http://www.marcelmagis.de/kiteundjean/

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