Endlich ist er da: der Roman von Karen Köhler. Ihr Debüt war 2014 der von der Kritik gelobte Erzählband »Wir haben Raketen geangelt«. Erfüllt »Miroloi« die Erwartungen? Erstaunlich ist, dass der Hanser Verlag den Roman zum Top-Titel seines Belletristik-Programms macht.
Es ist das Buch, auf das der Verlag im Halbjahresprogramm hauptsächlich setzt: der Titel, der ganz am Anfang der Verlagsvorschau beworben wird und den die Verlagsvertreter den Buchhandlungen ganz besonders anpreisen und der in der Regel auch das höchste Werbebudget erhält. Wir erinnern uns, dass es im Frühjahr 2019 das Buch »Stella« von Takis Würger war, das Hanser zum Top-Titel machte. Nicht ganz unberechtigt, gemessen an der Diskussion, die das Buch auslöste und doch verwunderlich, gemessen am literarischen Anspruch des Werkes, den kein Kritiker attestieren konnte.
Tatsächlich muss man sich auch bei »Miroloi« von Karen Köhler fragen, ob dieser Roman wirklich ein Top-Titel im Belletristik-Bereich des Hanser Verlags ist, wenngleich aus anderen Gründen als bei Takkis Würger. Bei »Miroloi« hat man recht bald den Eindruck, dass dieses Buch in einem anderen Verlagsbereich besser aufgehoben gewesen wäre. Aber der Reihe nach.
Wir sind scheinbar auf einer griechischen Insel, die offenbar weit vom Festland entfernt ist. Nur gelegentlich läuft ein Schiff den kleinen Hafen an und bringt den Bewohnern Waren und vermeintliche Errungenschaften der Zivilisation vorbei. Nicht einmal elektrischen Strom gibt es auf der Insel. Wir sind, so kann man aus den Indizien des Romanes schließen, irgendwann in den 1980er-Jahren.
Genau wird am Anfang dem Leser die kleine Insel beschrieben. Unten im Hafen sind die Fischerhütten, darüber liegt das Dorf, darüber das Bethaus und darüber die Mühle des Müllers und eine Siedelei, darüber dann nur noch der Himmel. Keiner der Bewohnerinnen und Bewohner der Insel scheint diese je verlassen zu haben.
Rasch wird klar, dass wir nur vermeintlich auf einer griechischen Insel sind. Bereits, dass das Bethaus nie Kirche genannt wird, die Siedelei kein Kloster ist und die heilige Schrift hier allumfassend wortspielerisch Khorabel heißt, machen klar, dass Karen Köhlers Insel zwar in einer Welt wie der unsrigen liegen mag, und dennoch ist die Insel ein fiktives Eiland in einer fiktiven Welt, in der ein Pfarrer ein Bethaus-Vater ist.
Miroloi wiederum ist tatsächlich ein griechisches Wort und bezeichnet ein von Frauen gesungenes Totenlied, das das Leben des Dahingeschiedenen beschreibt.
Die namenlose Erzählerin meint, es werde niemanden geben, der ihr dereinst ein Miroloi singen werde, sodass sie es mit diesem Buch selbst in Angriff nimmt. Daher gliedert sich das Miroloi im Buch »Miroloi« in 128 Strophen und nicht Kapitel. Und bedeutet das nun, dass die Erzählerin am Ende tot sein wird? Natürlich sei dies nicht verraten.
Die namenlose Erzählerin, die hinkt und die sich für hässlich hält, ist die Aussätzige des Dorfes. Die Kinder verspotten sie als Eselshure, die alten Frauen des Dorfes beschimpfen sie als Hexe. Sie ist 16 Jahre alt und lebt beim Bethaus-Vater, der sie einst als Baby auf den Stufen des Hauses gefunden hat und seitdem seine schützende Hand über das Mädchen hält. Die Erzählerin – oder muss man sie Sängerin nennen? – kennt Vater und Mutter nicht.
Es sind die Männer, vor allen Dingen die Männer des Ältestenrats, die auf der Insel das Sagen haben.
Wir hören die Geschichte der namenlosen Erzählerin. Und wir hören vieles, was nicht wirklich überrascht, was man in solchen Geschichten fast erwartet, was man Klischee nennen könnte. Natürlich sei nicht alles verraten, aber beispielhaft erwähnt sei, dass ihr der Bethaus-Vater heimlich das Lesen beibringt, was für die Inselfrauen verboten ist, dass die Erzählerin dann doch die Liebe kennenlernt, die heimlich bleiben muss und dass die Erzählerin dann aber natürlich … Nunja, vermutlich wissen Sie, was kommt, wenn die Geschichte der einfachen Logik folgt. »Der Roman einer Befreiung« so steht es auf den ersten Seiten der Verlagsvorschau.
Die Erzählerin lernen wir als reichlich naives Mädchen kennen und diese Erzählhaltung ist problematisch, da man als Leserin oder Leser davon bald zu viel hat und die Naivität nervt, zumal die Gesamtmoral der Geschichte nicht sonderlich originell ist.
Natürlich gewinnt man die Erzählerin auch ein wenig lieb, denn sie ist schließlich der gehänselte Underdog, und wir freuen uns, denn wir sehen natürlich allzu deutlich, dass sich ein Weg des Aufstiegs oder des Ausbruchs aufzeigt. Sie wird es vermutlich denen und vor allen den ignoranten Männern des Dorfes schon zeigen, so erzählen es schließlich solche Geschichten – oder Lieder.
Es soll nicht als qualitative Besser-Schlechter-Kategorie verstanden sein, aber bald wird beim Lesen klar, dass Miroloi eigentlich kein Titel der Belletristik-Sparte ist, sondern dass wir es hier mit einem Buch für eine jüngere Zielgruppe zu tun haben, mit einem Jugendbuch, dessen Hauptfigur plötzlich ein klein wenig ans Außenseitertum einer Pippi Langstrumpf erinnert oder an Versatzstücke aus ähnlichen Titeln für eine jüngere Leserschaft. Auch die Sprache und Dialoge des Romans und die sprachspielerischen Mittel könnten eher einer jüngeren Zielgruppe gefallen, wie die lautmalerische Umsetzung desch Redensch ohne Gebisch oder das Nuscheln des Müllers, derimmerohneleerzeichenspricht. Die erkennbare Moral, die erwartbaren Handlungsversatzstücke, die liebenswerte und bemitleidenswerte Hauptfigur, die witzigen Sprachspielerein, das ergibt plötzlich einen Sinn, der nicht mehr gegen das Buch spricht. Wie bei einem guten Jugendbuch üblich, wird es genügend Erwachsene geben, die »Miroloi« ebenfalls mit Empathie und Begeisterung lesen werden.
So sei am Schluss noch das Äußere gelobt! Um auf die Einschweißfolie zu verzichten, hat sich der Hanser Verlag für eine sehr ästhetische Buchschutzlösung entschieden, die das Unangetastete des neuen Buches betont und dem ersten Öffnen weiterhin etwas Besonderes gibt: Die linke Seite des hinteren Vorsatzpapiers ist verlängert und knickt sich gegengleich um den Buchblock. So steht auf dem Buchrücken in handschriftlicher Typo und Versalien der Name der Autorin KAREN KÖHLER und über dem Vorderschnitt prangt der Titel »MIROLOI«. Wunderbar auch das griechische Weiß-Blau des Umschlags und die blutrot wolkige Farbgebung des Vorsatzpapiers. »Überzogener Pappband mit umgeschlagener Klappe« nennt Hanser diese Ausstattung in der Vorschau.
Wie ein Fremdkörper und dennoch in seiner Einfachheit passend wirkt da beim Blättern durch die ersten Seiten des in einem fiktiven Land spielenden Buches das Motto der wahrhaftigen Hannah Arendt: »Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen«.
Wolfgang Tischer
Karen Köhler: Miroloi: Roman. Taschenbuch. 2021. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. ISBN/EAN: 9783423147880. 14,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Kann es sein, dass Hannah Arendt im Buch falsch zitiert wird? Kenne nur „Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen bei Kant.“ Und das hat natürlich nur im Zusammenhang einen Sinn, als Reaktion auf Eichmann: https://youtu.be/jF_UvHhbZIA , Hannah Arendt im Gespräch mit Joachim Fest. Bei ca. 16:18 min kommt die Frage, auf die sich Hannah Arendt bezieht, bei ca. 17:11min der entscheidende Satz.