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Literarisches Buchhandelsquartett: »Denis Scheck hat die Wattestäbchen verwechselt«

Beim Literarischen Buchhandelsquartett auf den Stuttgarter Buchwochen ist Wolfgang Tischer der neutrale Moderator. Doch in diesem Video gibt es die ganze Wahrheit zu sehen über »Der Gesang der Flusskrebse«, »Winterbienen«, »Das Siebte« und »Hier sind Löwen«. Plus: Buchvergleich mit »Miroloi«.

Drei Buchhändlerinnen und ein Buchhändler stellten am 21. November 2019 auf den Stuttgarter Buchwochen je ein Buch vor und diskutierten darüber. Das Buchcafé im Haus der Wirtschaft war an diesem Abend mehr als voll, und zusätzliche Stühle mussten aufgestellt werden.

Das Literarische Buchandelsquartett auf den Stuttgarter Buchwochen 2019 (von links): Ulrike Sander (Osiandersche Buchhandlung), Thomas Koch (inside books), Wolfgang Tischer (literaturcafe.de), Sabine Brauer-Seiffert (Buchhandlung Seiffert) und Beate Hiller (Buch im Süden)
Das Literarische Buchandelsquartett auf den Stuttgarter Buchwochen 2019 (von links): Ulrike Sander (Osiandersche Buchhandlung), Thomas Koch (inside books), Wolfgang Tischer (literaturcafe.de), Sabine Brauer-Seiffert (Buchhandlung Seiffert) und Beate Hiller (Buch im Süden)

Wolfgang Tischer vom literaturcafe.de moderierte die Runde zum vierten Mal, diskutierte als Moderator jedoch selbst nicht mit. Doch da er spätestens nach der Veranstaltung gefragt wird, was er denn zu den vorgestellten Büchern meint, gibt es hier seine Buchkritik im Video zu sehen. Viel Spaß beim Ansehen!

Es werden die vier Bücher in der gleichen Reihenfolge besprochen wie auch beim Literarischen Buchhandelsquartett 2019. Als Bonus gibt es einen Vergleich zwischen »Der Gesang der Flusskrebse« und »Miroloi«.

Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse

Ziemlich viel gemeinsam: Der Gesang der Flusskrebse und Miroloi
Ziemlich viel gemeinsam: Der Gesang der Flusskrebse und Miroloi. Klicken Sie auf das Bild, um die Video-Besprechung bei YouTube anzusehen.

Dieser Roman ist das Debüt der 70-jährigen Delia Owens, und es wurde in den USA zum großen Erfolg. Der Hanser Verlag hat sich die Lizenz für den deutschsprachigen Markt gesichert und machte »Der Gesang der Flusskrebse« zum Top-Titel des neuen jungen Verlagsimprints »hanserblau«. Auch hierzulande wird das Buch begeistert gelesen. Literaturkritiker Denis Scheck attestierte dem Roman sogar »literarische DNA«. Doch Scheck hat offenbar die literarischen Wattestäbchen verwechselt, denn mit Literatur hat dieses Buch so viel zu tun wie Nutella mit gesunder Ernährung.

Doch wie Nutella, so schmeckt vielen auch dieses Buch, da die Autorin so ziemlich alles reingepackt hat, was die Leserinnen von dieser Art von Schmöker erwarten: schöne Naturbeschreibungen, eine starke Frau als Hauptperson, Liebe und Verbrechen. Ein Buch aus dem Bestsellerbaukasten, das laut nach »Verfilmung! Verfilmung« Verfilmung!« schreit.

Gleichzeitig steckt hinter diesem Buch der konservativste Plot jedes Groschenromans: eine Frau zwischen zwei Männern, der eine lieb, ehrlich und nett, der andere wild und sexuell anziehend. Grrrr … Altbackener kann die Geschichte eines Romans für eine vornehmlich weibliche Zielgruppe nicht sein, obwohl die Story in moderneres Gewand gekleidet ist. »Nichts für Kerle«, attestierte auch die Runde der Buchhändlerinnen und Buchhändler.

Beim Literarischen Buchhandelsquartett war es kein Thema, doch dafür gibt es im Video einen Vergleich mit »Miroloi«. Denn während »Der Gesang der Flusskrebse« der Top-Titel im Herbst 2019 bei hanserblau war, war es im literarischen Hanser-Programm der Roman »Miroloi« von Karen Köhler. Und hätte Wolfgang Tischer den Gesang der Flusskrebse nicht für das Quartett gelesen, so wäre die enorm hohe Plot-Ähnlichkeit der beiden Titel nie aufgefallen. Es erstaunt, dass beide Titel aus den gleichen Mainstream-Elementen des Frauenromans zusammengesetzt sind. Beide Romane spielen an Orten, die etwas von der Welt abgeschnitten sind, in beiden Romanen wachsen die weiblichen Hauptfiguren als Waisenkind oder waisenkindartig auf. Beide sind Außenseiter mit männlichen Fürsprechern und Beschützern, jeweils mit Frau an der Seite. In beiden Romanen sind es leider wieder einmal männliche Figuren, die den Analphabetinnen erst spät das Lesen beibringen und in beiden Geschichten greifen die Frauen auch schon mal zum Mittel der Gewalt, während sie weiterhin von männlichen Beschützern protegiert werden. Ja, und beide Frauen entdecken Sex und eine verbotene Liebe mit allen Sinnen, was leider nicht gut ausgeht. Nicht zuletzt haben beide Bücher den Gesang im Titel, denn Miroloi ist ein griechisches Totenlied. Zufall? Oder eine universelle Plot-DNA, die ankommt?

Aber egal: Wer seiner Oma, Mutter oder Schwester zu Weihnachten ein Buch schenken will, kann unbedenklich zu diesem Unterhaltungsschmöker greifen. Vorher sollte man jedoch eruieren, ob die zu Beschenkende das Buch nicht schon längst begeistert gelesen hat.

Delia Owens; Ulrike Wasel (Übersetzung); Klaus Timmermann (Übersetzung): Der Gesang der Flusskrebse: Roman. Gebundene Ausgabe. 2019. hanserblau. ISBN/EAN: 9783446264199. 22,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Delia Owens; Ulrike Wasel (Übersetzung); Klaus Timmermann (Übersetzung): Der Gesang der Flusskrebse: Roman - Der Nummer 1 Bestseller jetzt im Taschenbuch - “Zauberhaft schön” Der Spiegel. Taschenbuch. 2021. Heyne Verlag. ISBN/EAN: 9783453424012. 13,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Delia Owens; Ulrike Wasel (Übersetzung); Klaus Timmermann (Übersetzung): Der Gesang der Flusskrebse: Roman - Der Nummer 1 Bestseller jetzt im Taschenbuch - “Zauberhaft schön” Der Spiegel. Taschenbuch. 2021. Heyne Verlag. ISBN/EAN: 9783453424012. 13,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Delia Owens; Ulrike Wasel (Übersetzung); Klaus Timmermann (Übersetzung): Der Gesang der Flusskrebse: Roman - Der Nummer 1 Bestseller "zauberhaft schön" Der Spiegel. Kindle Ausgabe. 2019. hanserblau. 11,99 €  » Herunterladen bei amazon.de Anzeige

Norbert Scheuer: Winterbienen

Norbert Scheuer: Winterbienen
Norbert Scheuer: Winterbienen. Klicken Sie auf das Bild, um die Video-Besprechung bei YouTube anzusehen.

Dieses Buch stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, und wenn man es so interpretieren möchte, dann gehört es zu den sechs besten Büchern des Herbstes 2019. Doch auch bei diesem Buch erstaunt die konservative Bauweise: Wir sind im Jahre 1944 in der Eifel. Die männliche Hauptfigur ist ein pensionierter Lehrer, der aufgrund seiner Epilepsie nicht an der Front ist, aber dennoch genügend Energie für zahlreiche Liebschaften hat. Außerdem hilft er flüchtenden Juden über die belgische Grenze. Er züchtet Bienen und (logo!) leckt auch schon mal den Honig von weiblichen Brüsten. Uah! Ist das eine männliche Roman-Fantasie, wie man selbst gerne den Krieg erlebt hätte? Denn die Frauenfiguren in diesem Buch sind eigentlich nur dazu da, damit sie der Protagonist lieben oder retten kann. Und sowas ist eines der besten Bücher des Jahres 2019?

In seiner gekonnten sprachlichen Leichtigkeit überzeugt »Winterbienen«, auch wenn darin mehr über die Honiginsekten steht, als man wissen möchte. Was das Buch rettet ist, dass die Hauptfigur nicht wirklich ein guter Mensch ist. Die Fluchthilfe ist in erster Linie nicht durch Menschlichkeit bedingt, sondern der Protagonist braucht das Geld für seine Medikamente. Bisweilen handelt er reichlich kaltblütig – und gerade die dunklen Seiten retten die Glaubwürdigkeit des Charakters und den Roman.

Norbert Scheuer; Erasmus Scheuer (Illustration): Winterbienen: Roman. Gebundene Ausgabe. 2019. C.H.Beck. ISBN/EAN: 9783406739637. 22,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Norbert Scheuer: Winterbienen: Roman. Taschenbuch. 2020. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. ISBN/EAN: 9783423147804. 11,90 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Norbert Scheuer: Winterbienen: Roman. Taschenbuch. 2020. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. ISBN/EAN: 9783423147804. 11,90 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

Tristan Garcia: Das Siebte

Tristan Garcia: Das Siebte
Tristan Garcia: Das Siebte. Klicken Sie auf das Bild, um die Video-Besprechung bei YouTube anzusehen.

Was wäre, wenn man das gleiche Leben nochmals leben könnte, aber mit dem Wissen aus dem ersten Leben und vielleicht sogar weiterer Leben davor? Man wird am selben Ort, in derselben Familie und zur selben Zeit wiedergeboren, kann aber danach alles anders machen. Das ist die Grundidee von Tristan Garcia, und er lässt seinen Protagonisten das gleiche Leben sieben Mal durchlaufen. Mal wird er Beamter, mal Medizinnobelpreisträger, mal Mörder und Verbrecher. Trotz erzählerischer Schwächen und einer fast schon ideebedingten Unlogik an vielen Stellen, kann es Spaß machen, diesen Roman zu lesen und sich selbst die Frage zu stellen, wie man gerade sein eigenes Leben gestaltet und welchen Einfluss man darauf hat. Allerdings muss man sich auf die Idee des Autors einlassen und diese Art von »Und täglich grüßt das Murmeltier« oder Zeitreisegeschichten lieben, denn hier grüßt das Murmeltier quasi lebenslänglich.

Tristan Garcia: Das Siebte (Quartbuch): Roman. Gebundene Ausgabe. 2019. Wagenbach Klaus GmbH. ISBN/EAN: 9783803133151. 24,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Tristan Garcia; Birgit Leib (Übersetzung): Das Siebte (Quartbuch). Kindle Ausgabe. 2019. Verlag Klaus Wagenbach. 19,99 €  » Herunterladen bei amazon.de Anzeige

Katerina Poladjan: Hier sind Löwen

Katerina Poladjan: Hier sind Löwen
Katerina Poladjan: Hier sind Löwen. Klicken Sie auf das Bild, um die Video-Besprechung bei YouTube anzusehen.

Während wir bei Norbert Scheuer viel über Bienenzucht erfahren, lernen wir in diesem Roman einiges über Armenien, die Vergangenheit dieses Landes und das Restaurieren von Büchern. Eine junge Buchrestauratorin kommt aus Deutschland nach Armenien. Da sie selbst armenische Wurzeln hat, taucht sie rasch in das Land und seine Geschichte ein, getrieben auch durch handschriftliche Anmerkungen in einer Bibel, die sie restaurieren soll.

Ein Buch für die, die sich für fremde – und wiederum auch gar nicht so fremde – Länder interessieren. Ein Buch, dessen Thema jedoch den Rezensenten nicht gepackt hat, ein Buch, das jedoch fernab vom Kitsch der Flusskrebse singt.

Dennoch gibt es einen interessanten Zusammenhang zwischen dem ersten und letzten besprochenen Buch. Beide Buchtitel bezeichnen unwirtliche Gegenden, fernab vom Schuss, denn »Wo die Flusskrebse singen« (Originaltitel: »Where the Crawdads sing«) ist die Umschreibung für »ganz weit draußen im Marschland von North Carolina«, während die Römer die Randbereiche ihrer Karten und die weißen Flecken der unbekannten gefährlichen Gegenden mit »Hic sunt leones« beschrifteten: »Hier sind Löwen«. Eine Bezeichnung, die Katerina Poladjan für ihren Armenien-Roman aufgegriffen hat.

Katerina Poladjan: Hier sind Löwen: Roman. Gebundene Ausgabe. 2019. S. FISCHER. ISBN/EAN: 9783103973815. 22,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Katerina Poladjan: Hier sind Löwen: Roman. Taschenbuch. 2022. FISCHER Taschenbuch. ISBN/EAN: 9783596703036. 14,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Katerina Poladjan: Hier sind Löwen: Roman. Kindle Ausgabe. 2019. FISCHER E-Books. 9,99 €  » Herunterladen bei amazon.de Anzeige

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2 Kommentare

  1. Bei der Präsentation von Romanen wie “Das Siebte”, die auf einer Idee beruhen, die schon mehrmals Verwendung gefunden hat, wäre es interessant zu erfahren, ob der neue Roman einen Mehrwert aufweist gegenüber seinen Vorläufern und wenn dem so ist, worin der Mehrwert besteht. Beispielsweise hat Ken Grimwood bereits 1986 den Roman “Replay” veröffentlicht, der gekonnt den gleichen Gedanken durchspielt. Solche Gedankenexperimente können erkenntnisreich sein und je nach fokussierter Facette kann ein neuer Roman Mehrwert schaffen, oder eben auch nicht.

  2. Zum Buch “Der Gesang der Flusskrebse”. Der psychologische Aspekt dieses Buches kommt in dieser Kritik nicht vor… Das Thema Verlustangst und der Umgang mit dieser… Mich hat das Buch deswegen gefesselt und tief berührt. Auch wird die aus meiner Sicht wunderbar gelungene Verknuepfung zwischen dem Verhalten der Tiere und dem Verhalten der Menschen in der Kritik nicht erwähnt

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