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Die Maske: Verfilzte Binsen von Siegfried Lenz

Cover: Siegfried Lenz: Die MaskeSiegfried Lenz ist fraglos einer der großen deutschen Schriftsteller. Schon als Schüler mochte ich ihn: Seine Erzählungen So zärtlich war Suleyken und Das Feuerschiff, seine Romane Deutschstunde und Das Vorbild. Ja: Ich schätzte ihn, erinnere mich noch an Gefühle während des Lesens, weniger an die Inhalte. Dann wurden andere Schriftsteller für mich wichtiger.

Vor ein paar Jahren las ich Lenz’ Novelle Schweigeminute, eine Liebesgeschichte zwischen ungleichen Partnern, schnörkellos und berührend: Doch, Siegfried Lenz kann was.

Vielleicht schreibt er zu viel? Die fünf Erzählungen in »Die Maske« zumindest enttäuschen zutiefst!

Warum so umständlich?

In der ersten namens »Rivalen« hat sich Museumswärter Detlev Krell in das Portrait Antonia mit dem blauen Schal verliebt, schleppt es nach Hause, als gerade Bilder gestohlen worden sind, worauf seine Frau eifersüchtig wird, Antonias Gesicht zerschneidet, und er das Bild folgsam wieder zurück bringt.

Happy end. Schön. Und? Warum wird das so umständlich erzählt?

Die olle Kamelle mit den Masken

»Die Maske« heißt die zweite und längste Erzählung. Drei Jugendliche finden einen Container voller Tiermasken, der wohl von einem Schiff gefallen ist.

Kennen wir doch: Die Maske mit Jim Carrey, aus einer Truhe im Hafen entwichen, die den Träger in eine unbesiegbare Comicfigur verwandelt, sei es nun Mensch oder Tier.

Der Ich-Erzähler hat sich die Maske eines Drachen ausgesucht. Die Menschen spielen mit den Masken, prämieren sie, der Wirt wirft sie in eine sich prügelnde Menschengruppe, und die Keilerei hört sofort auf. Der Protagonist liebt Lene, aber sie ihn nur mit seiner Maske. Er hat nämlich kein wahres Gesicht, eine Grafikerin kann es nicht zeichnen. Am Schluss verlässt Lene den Protagonisten.

Fein. Und? Die olle Kamelle mit den Masken, die wir alle angeblich tragen, wird hier bräsig aufgewärmt, ohne zu einer neuen Einsicht zu gelangen. Dafür muss man so einen Schmonzes lesen wie:

»Hier sieht uns niemand«, sagte Lene und setzte sich und deutete auf das Meer hinaus. Schweigend saßen wir nebeneinander – mit dem Schweigen, das manchmal so viel bedeutet, wie Worte es tun können. Wir bliesen und wischten Sandkörner von der Haut, ich empfand das flüchtige Glück ihrer Berührungen.« (S.41)

Ja ja, gut, das beredte Schweigen kennen wir, ist nix Neues nicht. Aber was bitte ist »das flüchtige Glück ihrer Berührungen«, also der Berührungen der Sandkörner? Wäre es bleibendes Glück, wenn die auf der Haut blieben? Ist wahrscheinlich nicht so gemeint, aber eben genau so geschrieben.

Unzufrieden mit der Sitzverteilung

»Die Sitzverteilung« folgt als dritte im Bunde. Es ist ein »warmer, ein anheimelnder Raum«, in dem der Ich-Erzähler die Sitze mit Kärtchen belegt. Wäre der Raum anheimelnd, wenn er NICHT warm wäre? Wozu dieses Adjektiv?

Ein porträtierter Bärtiger grinste so »selbstbewußt (…), als wollte er sagen, mir kann keiner etwas vormachen.« (S.63) Schön, dass der Sinn von selbstbewusst endlich mal erläutert wird.

»Namenlos, lediglich mit Berufsangabe reservierte ich ein paar Stühle für die Presse (…)« (S.64). Auch hier irritiert grenzenlos das Adjektiv namenlos: Fehlte denn dem Satz irgendetwas an Gehalt, wenn der Satz mit Lediglich begönne?

Inhalt: Ein Kapitän soll eine Auszeichnung bekommen, nimmt sie zwar an, gibt sie aber sofort weiter. Was das mit der Sitzverteilung tun hat, weiß ich nicht, habe mir auch keinen Sitzplan gezeichnet, um das vielleicht nachvollziehen zu können: So viel Aufwand lohnt diese Erzählung nicht.

Aber ich weiß, dass der Sitzverteiler sehr zufrieden mit seiner Sitzverteilung war, warum auch immer.

Das einzig gelungene Bild im Buch

»Ein Entwurf« heißt die vierte und vorletzte Erzählung. In einer Klinik hat der Ich-Erzähler einen schriftstellernden Nachbarn; der liest seiner Frau aus einem Schulheft die Lebensgeschichte von Sven vor.

In dessen Geschichte kommt übrigens das einzige gelungene Bild des Sammelbandes vor:

»Wenn einer seiner Gäste zuviel geladen hatte an Bier und Aquavit, so daß seine Beine sich nicht einig werden konnten, welchen Weg sie einschlagen sollten (…)« (S.91)

Chapeau! Warum schafft Siegfried Lenz nicht für sich selbst solch anschauliche Bilder? Warum legt er sie diesem Patienten in den Mund und begnügt sich mit Albernheiten wie einem Passagierschiff, »über die Toppen beleuchtet und groß wie die Welt«(S.103)?

Sven nimmt teil an einem verschnarchten Wettbewerb des Namens »Ein unvergessener Spaziergang in Hamburg« und gewinnt, indem er einen Flohmarkt beschreibt, kriegt darob eine Anstellung als Journalist und seinen ersten Kuss nach einem Liebesfilm im noch dunklen Kino von der Jungredakteurin Laura. Und er wundert sich

»darüber, dass das, was wir durch Anschauung miterleben, die Macht hat, uns in unserem Verhalten zu regieren, uns zur Nachahmung anzustiften.« (97)

Wieder so eine verfilzte Binse, die Siegfried Lenz dem Leser hier als Erkenntnis serviert, geradezu grausamst schauderhaft.

Dann wird Sven in seinem Dingi überfahren. Des Schriftstellers Frau bricht in Tränen aus und verlässt das Krankenzimmer. Der Ich-Erzähler will dann noch wissen, ob Sven ertrunken sei, und erfährt, dass Sven bereits bei der Geburt gestorben ist.

Also eine Erzählung mit Pointe. Überraschend? I wo: Auch hier nix Neues: Schriftsteller schaffen Menschen und Leben und Möglichkeiten und Wirklichkeiten. Das ist das Wesen von Literatur.

Ließ sich Siegfried Lenz etwa gar von Peter Stamms Agnes inspirieren? Das ist immerhin bereits 1998 erschienen!

Breitgetretene Weisheiten

In der fünften und vorletzten Erzählung »Das Interview« befragt der Journalist Benno den Filmemacher Edgar Voss zu dessen Film »Der Vorkoster«, während sie ihn beim Anschauen gleichzeitig kommentieren. Wieder werden erhabene Weisheiten breitgetreten:

»Meine Erfahrung hat mich gelehrt, dass jede nennenswerte Handlung ein Motiv hat.« (S.111)

Aber klar doch: Und sei es das Motiv, kein Motiv zu haben … Stöhn!

Und wenn das Gesicht des Vorkosters in Großaufnahme gezeigt wird, interpretiert der Filmemacher sein Werk gleich höchstpersönlich – ein Kardinalfehler aller Kulturschaffenden:

»Es ist ein Spiegel des Prozesses; was Worte nicht sagen können, sagt der Ausdruck des Gesichts.«(S.117)

Nicht etwa der Gesichtsausdruck? Nein? Zudem war es vorhin doch noch das Schweigen! Aber das war eine andere Erzählung, Bitte um Verzeihung!

Der Vorkoster lebt mit einer Frau zusammen, die im Film »Cocos-Schnur« genannt wird (ebd.). Versuchen Sie doch mal, dieses Wort laut auszusprechen: Es klingt immer nach Kokoschnur! Ändert aber nicht viel, erinnert in der Schreibweise an Kokowääh – den Film gab es bereits. Vielleicht ist das ja eine versteckte Kritik, von Lenz dem Filmemacher in den Mund gelegt.

Der hat noch Wissenswertes anzubieten:

»Bei Sturm (…) reagieren unsere Geschmackspapillen anders als bei ruhiger See.« (S.122)

Das leuchtet ein: Bei ruhiger See kotzt man weniger!

Schließlich und endlich wird der Vorkoster von einer Sturzwelle geholt, ertrinkt genau so wie Sven in der Erzählung zuvor.

Und als ob nicht genug Unfug geschrieben wäre, kommt die mächtige Schlusserkenntnis, auch auf der Schutzumschlagsrückseite mutig eingepfählt:

»Das Schicksal verzichtet oft auf Kommentare, es begnügt sich damit, zuzuschlagen.« (S.123)

Öff! Bin noch NIE einem kommentierenden Schicksalsschlag oder geschlagenen Schicksalskommentar begegnet.

Malte Bremer

PS: Warum ich nicht früher mit dem Lesen aufgehört habe? »Die Maske« umfasst mehrere Erzählungen, da kann schon eine Perle darunter sein! Fand sich aber nicht.

PPS: Was mir an diesem Buch gefallen hat: Ich habe es in der gebundenen Ausgabe im modernen Antiquariat für 2,45 Euro erstanden. Blind, ohne vorher reingelesen zu haben. 17,99 Euro hätte ich keinesfalls leichtfertig riskiert!

Siegfried Lenz: Die Maske: Erzählungen. Taschenbuch. 2013. dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. ISBN/EAN: 9783423142373

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4 Kommentare

  1. Oha, jetzt ist auch noch Siegfried Lenz bei Malte Bremer durchgefallen. Hätte er sich doch mal besser vorher bei DEM Kenner der Materie erkundigt, aber nein, was macht er? Bringt eigene Gedanken, eigene Bilder und eigene Metaphern zu Papier. So ein Dummerle!

    Ãœbrigens, lieber Herr Bremer, mit “ich empfand das flüchtige Glück ihrer Berührungen” sind nicht die Berührungen der Sandkörner gemeint, sondern die Berührungen von Lene, die ihm (dem Erzähler) die Sandkörner von der Haut wischt. Kurze, wischende Berührungen, flüchtiges Glück, Sie verstehen, hm?

    Aber … du meine Güte, wer bin ich schon , dass ich Malte Bremers allumfassende Kenntnisse der Literatur anzweifle?

    Bei der Gelegenheit: Wer sind Sie eigentlich, Herr Bremer?

  2. Vielen Dank für diese kompetente Textanalyse. Ein, zwei weitere Unterstellungen hätten dem Beitrag vielleicht noch mehr Tiefe verleihen können, aber das ist nur ein Detail. Ich denke, das Buch wird mir gefallen. Ich werde es unbesehen kaufen.

  3. nun ich, zu dieser Beurteilung durch den Herrn Malte.Habe ich was gelernt, ja, das Herr Malte keine, oder sehr eingeschränkt, in der lage ist Bilder zu lesen, oder selber zu entwickeln.Das mit dem flüchtigen Glück war mir sofort klar, das Bild der Haut, das Gefühl das sich entwickelt, liegt wohl an meinem Alter.
    Nein, Herr Malte, es war anstrengend ihr3n Text zu lesen, in der Schule wäre es Strafe gewesen, aber so habe ich es freiwillig gemacht. Habe ich etwas gelernt, sicher, den auch von dummen Texten kann man lernen.
    mit freundlichem Gruß
    SchB

  4. Seien sie nicht zu hart zum Herr Bremer! Ich habe mich über das schlechte Buch des Herrn Lenz amüsiert. Sonst schreibt er ja gut, aber jeder liegt mal daneben.

    Vielleicht liest Herr Bremer ja auch mal was von mir, einfach nach Brad Roderick guugeln. Würde mich freuen!

    Und das Literaturcafe soll mal was über Simone Kaplan und Simon Größenwahn bringen.

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