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Dem Wasser die Stirn bieten: Bücher über Bäder

Geschlossener Pool
»Wegen Personalmangel geschlossen.« Da fragt sich, wer das ist.

Wer diesen Sommer nicht im Freibad ist und an einer Buchhandlung vorbeigeht, sieht viele Schwimmbadmotive auf den Covern. Corona und Energiekrise lassen das beheizte Freibad als selbstverständliches Stück bundesdeutscher Infrastruktur verschwinden, was zu diesem Cover-Trend beiträgt. Isa Tschierschke taucht in Badebüchern ein.

Das Freibad als Lebensmetapher

Die »Gute-alte-Zeit«-Sehnsucht nach den Siebzigern und Achtzigern, nach Freibad-Sommernachmittagen mit Gewitter und Pommes rot-weiß sorgt für ein zuverlässiges Identifikations-Grundrauschen bei den Babyboomern. Die sind nicht nur viele, sondern in ihren Lesegewohnheiten auch die letzte Generation des gedruckten Buches, das noch über die Ladentheke verkauft wird.

Kein damals populäres Urlaubsziel, von der Adria und den österreichischen Seen zur deutschen Nord- oder Ostseeküste, könnte so viele gemeinsame Erinnerungen wecken. Im Freibad waren sie alle. Wenn sie kein Geld hatten, in den Ferien, und wenn genug Geld für eine Urlaubsreise da war, in der Zeit, bevor es endlich losging.

Eröffnung im Schwimmbad
Warten aufs Freibad

»Wie umgekehrte Inseln«

In »Seemann vom Siebener« von Arno Frank ist das Außenschwimmbecken eine Hauptperson. Hier treffen sich an einem flirrend heißen Sommertag die Bewohner einer pfälzischen Kleinstadt im Vorfeld einer Beerdigung, die sie alle betrifft. Einer von ihnen ist von weit her angereist und alle gehen sie ausgerechnet ins Freibad. Dorthin, wo ein kollektives städtisches Trauma auf sie wartet, das jeder auf seine Art verarbeiten muss, z.B. mit einem gewagten Sprung. »Ich springe nicht wirklich ins Wasser«, sagt die Ich-Erzählerin, die sich eine Mutprobe verordnet hat, »ich biete ihm die Stirn«.

Wer in den Freibädern der Republik seine Sommer verbrachte, wird sich in »Seemann vom Siebener« von Arno Frank selbst erkennen mit den ganz frühen, den viel zu späten und, vor allem, den großen Sprüngen des Lebens. Arno Frank verbindet alle Generationen und die unterschiedlichsten Menschen miteinander an diesem Insel-Ort, an dem das Leben und das Schicksal draußen für ein paar Stunden ausgehebelt scheint. Für einen Moment bekommen die Besucher eine Pause von dem Leben, das draußen mit seinen Zumutungen wartet. Das Freibad ist »eine eigene Zivilisation, die nur sommers für ein paar Monate aufblüht, unter einem eigenen Netz aus Regeln. Auf den Platten nicht rennen! Vor Betreten des Beckens duschen! Nicht vom Beckenrand springen!«

Auch die dement werdende Grundschullehrerin fühlt sich sicher in dieser Umgebung, die sie noch kennt, bevor ihr längst verstorbener Mann die Idee hatte, hier ein Schwimmbad zu errichten. Den jungen Mann, der sich ihr als ehemaliger Schüler vorstellt, erkennt sie zunächst nicht wieder. Aber dann erinnert sie sich an seine Obsession mit der Polaroid-Kamera und wie sehr sie Fotografien misstraut, besonders Kinderfotos. »All diese Gesichter wirken wie unbeschriebene Blätter, dabei sind sie mit unsichtbarer Tinte schon längst bis zum Rand vollgekritzelt. Und die Rückseiten auch!«

Hier besser noch nicht: Baustelle Freibad

Nach Verlassen des Schwimmbads muss sich jeder wieder alleine dem eigenen Schicksal stellen. Mit der schwer zu erlangenden »Superkraft der Selbstverständlichkeit«.

»Benjamin, tu sie ihr bitte weg«

Jegliche Selbstverständlichkeit ihres bisherigen Lebens kommt zwei Wiener Familien im Roman »Die spürst du nicht« von Daniel Glattauer abhanden. Das gnadenlose Portrait einer wohlhabenden Wiener Clique, die es schick findet, ein somalisches Flüchtlingsmädchen mit in den Toskanaurlaub zu nehmen, ist fies und aktuell. Es fällt schon deswegen so gemein aus, weil wir die Gespräche der erwachsenen Figuren über Geflüchtete alle schon wortwörtlich selbst geführt haben.

Die Kinder und Jugendlichen bekommen ihre eigene Sprache und, wie im richtigen Leben, ihr eigenes Format auf den Social Media Kanälen. Dort wird klar, dass die gesellschaftlichen Rollenzuweisungen in den privaten Machtgefügen auch vor den Kindern nicht haltmachen. Nach einem Unfall, der den Toskana-Urlaub abrupt beendet, versuchen die Jugendlichen sich angesichts der elterlichen Kälte und Überforderung im Netz zu therapieren. Wie so oft funktioniert der Kontakt außerhalb des Netzes dann gar nicht.

Die wiedererkennbaren Versatzstücke der Posts, die den Text durchsetzen, fügen sich zu einem großen zeitgenössischen Gesellschaftsroman, der auch noch spannend ist. In der Hörbuchversion, gesprochen von Tessa Mittelstaedt und Steffen Groth, ist die Toskana-Grünen-Idylle noch gruseliger. Die nölige Stimme der pubertierenden Sophie Luise, die sich über Krabbeltiere echauffiert, weckt ebenso Erinnerungen, wie die mit sich selbst beschäftigte Mutter, die keine Lust hat, sich aus ihrem Liegestuhl zu erheben, aber auch auf keinen Fall unengagiert erscheinen will.

Kanadagänse beim Trockenkurs auf der Liegewiese

Beim literarischen Quartett vom Mai 2023 kommt das Buch nicht gut weg. Zwei aus der Runde, Eva Menasse und Cornelius Pollmer, betonen mehrfach, dass Glattauer ja (nur) ein Unterhaltungsautor sei. Dass aber gerade in der Kategorie Unterhaltung der Faktor Spannung wichtig fürs Lesevergnügen ist, missachten die beiden und spoilern gnadenlos. Das ist unkollegial und geschieht auf Kosten des Lesepublikums, das sich gerne ein eigenes Bild gemacht hätte. Warum diese Arroganz?

Erst als ich Glattauers »Gut gegen Nordwind« auf CD höre, bin ich überrascht, wie belanglos und zugleich auch noch unbefriedigend dieser Titel ist, der 2006 immerhin für den deutschen Buchpreis nominiert war. Da ist »Die spürst du nicht« ein ganz anderes gesellschaftskritisches Kaliber. Als ich in einer Taschenbuch-Grabbelkiste im Kaufhaus auch noch »Der Weihnachtshund« von 2009 finde (Erstausgabe von 2000), wird mir klar, woher die Kritiker–Abscheu kommt. Glattauer hat tatsächlich mit eher seichten Geschichten als Unterhaltungsschriftsteller begonnen. Na und? Martin Suter hat schließlich auch als Werbetexter gearbeitet.

»Den Radieschen hast du’s aber gegeben«

Auch das Debüt »22 Bahnen« von Caroline Wahl wird nicht einhellig als große Literatur gelobt. Zu konstruiert und unglaubwürdig finden manche Kritiker:innen die Story und die Figuren.

Tilda, die nicht nur ihren Studienalltag (Mathematik!) wuppt, sondern auch den Haushalt und eine alkoholkranke Mutter, beschützt Ida, die kleine Schwester mit künstlerischem Potenzial.

Das Buch erinnert mich an meine Studienzeit, in der ich für seelischen und körperlichen Ausgleich jeden Tag um 13 Uhr ins Schwimmbad ging. Im Winter 40 Bahnen im Hallenbad, im Sommer 20 Bahnen im Freibad. Immer 1.000 Meter. Ungefähr eine halbe Stunde – die genaue Zeit interessierte mich nicht. Wenn ich aus dem Becken kam, konnte der Rest des Tages kommen.

Sprungturm im Freibad
Fünf Meter reichen auch

Tilda und Ida gehen zusammen ins Freibad. Die Große für ihre 22 Bahnen und die Kleine nur, wenn es regnet. Sie haben einander und verlassen sich nicht mehr auf die Erwachsenen, die entweder abwesend sind, wie ihre Väter, oder eine »Mama vier Jahreszeiten« ist, deren Zuständen man nicht trauen darf. Über Mutters Sprüche (»Ihr tut ja so, als ob ich Alkoholikerin wäre«) können die beiden Schwestern nur noch lachen. Und dann ist da noch Viktor, der auch keine richtige Familie mehr hat, aber noch besser schwimmt als Tilda.

Ich lese »22 Bahnen« als literarischen Durchbruch in Sachen Geschwister-Resilienz. »So ein Weltuntergang kann uns nichts mehr anhaben« lautet die Devise und das ist rührend.

Als Tilda nämlich doch mal untergeht, ist es Ida, die rechtzeitig die richtigen Entscheidungen trifft und auch selbst Abendbrot macht. Inklusive geschnitzter Radieschenröschen, mit denen ihre Mutter früher an »guten Tagen« den Abendbrottisch garnierte. Als der Herbst kommt, der »Magier, der alles verzaubert«, sind alle Beteiligten verwandelt.

Technische Probleme im Bad
Vereinzelt technische Probleme

»Außer Gott und ein paar Fischen würde ihn ja so niemand sehen.«

Zugegeben, in »Gentleman über Bord« von Herbert Clyde Lewis wird nicht freiwillig geschwommen. Und auch nicht im geschützten Freibad, sondern in den Weiten des Pazifiks, in die Henry Preston Standish beim Betrachten eines außergewöhnlich schönen Sonnenaufgangs irgendwo zwischen Honululu und Panama fällt. Er ist Passagier der »Arabella«, eines US-Frachters, der auch eine Handvoll Passagiere befördert und sich nun langsam, aber unablässig von ihm entfernt.

Standish, Börsenmakler in der renommierten New Yorker Firma Pym and Bingley, ist die Sache im ersten Moment vor allem unangenehm. Die Brieftasche mit Reiseschecks, Familienfotos und alten Eintrittskarten ist durchnässt, und von Schuhen, Jacke und Weste muss er sich aus Gründen der Kraftersparnis bald trennen. Das Entkleiden zögert er lange hinaus, denn er trägt – aus einer der frivolen Launen seiner Midlife-Crisis heraus – bunt gestreifte Boxer-Shorts. Was werden Besatzung und Passagiere denken, wenn man ihn so wieder an Bord zieht? Was zweifelsohne sehr bald der Fall sein wird, wenn sein Fehlen beim Frühstück bemerkt wird …

Doch der Koch, der Standish wegen seiner exzentrischen Frühstücksgewohnheiten als »Mann der verlorenen Eier« abgespeichert hat und ihn als Letzter um fünf Uhr an Deck sieht, vermisst Standish bis zum Abend nicht. Auch nicht, als er am frühen Nachmittag dessen verlorene Eier in den Ozean entsorgt.

Die Angelegenheit ist für Standish schon deshalb ärgerlich, weil er gerade begonnen hat, sein Leben zu genießen und sich so gesund wie nie zu fühlen: »Der kratzende Raucherhusten, den er gehabt hatte, als er vor einigen Monaten seiner Frau davonlief, war vollkommen verschwunden.«

Statt zusammen mit den anderen Fahrgästen zu frühstücken, sieht er nun ungläubig dem monströsen braunroten Heck der Arabella hinterher, das ihn an den Hintern eines Pavians im New Yorker Zoo erinnert. Er ruft nicht um Hilfe, sondern bemüht sich um Gelassenheit: »Die Standishs waren keine Schreihälse.«

Während Standish wie selbstverständlich daran glaubt, dass sein Fehlen bald bemerkt wird, weil er schließlich seit zwei Wochen (genauer 13! Tagen) Teil des Passagier-Mikrokosmos auf der Arabella ist, sind alle am Tag seines Verschwindens auf die ein oder andere Weise nur mit sich selbst beschäftigt. Heute würde der Autor statt des kapriziösen »Arabella. New York.« vielleicht einen fetten Schriftzug »Instagram. Menlo Park.« aufs Heck des empathielosen Kahns setzen.

Die Parallelen zur Haifisch-Gesellschaft im post-depressiven Amerika sind deutlich: »Der erste Gedanke des Kellners war, dass er sein Trinkgeld nicht bekommen würde, und sein zweiter Gedanke war, dass er bedauerte, die gepunktete Krawatte nicht geklaut zu haben.«

Als Standishs Fehlen endlich offenbar wird, sind sich alle Mitpassagiere, ausgehend von ihrer eigenen Wahrnehmung, einig, dass er Selbstmord begangen hat. Die Vermutungen gipfeln in der Aussage, dass keine Frau der Welt einen Freitod rechtfertigt.

Lewis’ Kurzroman von 1937 ist nicht nur stellenweise zum laut Lachen, sondern erstaunlich passend für unsere Zeit. Der Autor, ein begabter Journalist, Drehbuch- und Romanschreiber, ist seit 73 Jahren tot.

»Gentleman über Bord« wurde von der zeitgenössischen Kritik als zu dünn abgelehnt. Im Nachwort dieser Ausgabe hingegen wird ihm »souveräne Erzählökonomie« bescheinigt. Ein unfreiwillig passendes Prädikat im Hinblick auf Lewis’ Kapitalismussatire.

Buch »Die spürst du nicht« von Daniel Glattauer
Buch »Die spürst du nicht« von Daniel Glattauer

»Solange wir schwimmen«

Während gefährliche Gewässer täglich viele Menschenleben beenden, sind für manche Leute ihre täglichen Runden im Pool so existentiell, dass ihr Leben aus den Fugen gerät, wenn ihr Stamm-Schwimmbad schließt.

Nach meinem Austauschjahr in den USA zog ich für den Sommer nach Boston und musste plötzlich auf meine 13-Uhr Runde im College-Pool verzichten. In meiner Not suchte ich die nächstbeste innerstädtische Uni mit Schwimmbad auf und ging mit wehendem Minikleidchen und gewinnendem Lächeln auf den bewaffneten Wachposten zu: »I’m not sure about the door code«. Ohne Zögern nannte er mir die vierstellige Zahl und mein Sommer war gerettet.

Nicht alle haben dieses Glück, aber das ist eine andere Geschichte und die darf ich wegen der Sperrfrist leider erst erzählen, wenn am 8. August 2023 »Solange wir schwimmen« von Julie Otsuka im Mare Verlag herauskommt. Dann wird bald das Wasser aus den meisten Freibädern schon wieder abgelassen und wer weiß, ob sie im nächsten Sommer überhaupt wieder öffnen.

Die im Beitrag erwähnten Bücher:

Arno Frank: Seemann vom Siebener: Roman. Gebundene Ausgabe. 2023. Tropen. ISBN/EAN: 9783608501803. 24,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

Daniel Glattauer: Die spürst du nicht: Roman. Gebundene Ausgabe. 2023. Paul Zsolnay Verlag. ISBN/EAN: 9783552073333. 25,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Die spürst du nicht: 2 CDs. Audio CD. 2023. Hörbuch Hamburg. ISBN/EAN: 9783957132949. 17,99 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

Caroline Wahl: 22 Bahnen: Roman. Gebundene Ausgabe. 2023. DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG. ISBN/EAN: 9783832168032. 22,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

Herbert Clyde Lewis; ; Klaus Bonn (Übersetzung): Gentleman über Bord. Gebundene Ausgabe. 2023. mareverlag. ISBN/EAN: 9783866486966. 28,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

Julie Otsuka; Katja Scholtz (Übersetzung): Solange wir schwimmen. Gebundene Ausgabe. 2023. mareverlag. ISBN/EAN: 9783866486911. 22,00 €  » Vorbestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

Isa Tschierschke

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