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Aus der Zeit und Wirklichkeit: »Baumgartner« von Paul Auster [mit Video]

Paul Auster: Baumgartner
Dieser Roman ist nicht wie sein erstes Kapitel. Mit »Baumgartner« hat Paul Auster einen Roman über einen alten weißen Intellektuellen am Lebensende geschrieben. Ein Roman aus elitären Kreisen mit wenig Handlung.

Die Buchkritik im Video

Slapstick-Szene am Beginn

»Baumgartner« beginnt wie eine tausendmal gesehene Slapstick-Szene eines alten Schwarzweißfilms. Der alte Professor Baumgartner verlässt sein Arbeitszimmer im ersten Stock, um im Erdgeschoss ein Buch zu holen. Dabei entdeckt er, dass seit drei Stunden auf dem brennenden Gasherd immer noch der Topf für sein Frühstücksei steht. Mit bloßen Händen zieht er ihn vom Herd, jault auf, verbrennt sich die Finger und weiß schließlich nicht mehr, was er im Erdgeschoss eigentlich wollte. Wie in einer Komödie klingeln danach im Minutentakt Telefon und Haustürglocke. Unter anderem steht die UPS-Botin vor der Tür, offenbar Baumgartners einziger regelmäßiger menschlicher Kontakt zur Außenwelt. Nur um ihr professionelles Lächeln zu sehen, bestellt er dreimal in der Woche ein Buch bei einem Online-Versand. Die Päckchen türmt Baumgartner ungeöffnet in Küche und Veranda auf. Und dann bricht auch noch die proletarische Welt ins Leben des Intellektuellen in Form eines Stromzählerablesers.

Das erste Kapitel zeichnet die leicht demente oder tüdelige Figur des 71-jährigen Princeton-Professors S. T. Baumgartner, der einsam in einem unordentlichen Haus lebt.

Und dann ein typischer Auster

Doch danach ändert sich der Erzählton, wird sachlicher. In zahlreichen Rückblenden und aus Dokumenten Dritter wird das Leben Baumgartners und seine Herkunft erzählt. Den größten Teil nimmt dabei die Liebe seines Lebens ein, Anna, seine Frau, die bei einem Badeunfall vor 10 Jahren unvermittelt aus ihrem und Baumgartners Leben gerissen wurde.

Der Roman wird nach dem ersten Kapitel zu einem typischen Auster-Werk. Der Zufall spielt eine Rolle, und Auster baut den eigenen Namen und Versatzstücke des eigenen Lebens in die Geschichte ein. Der obligatorische Frankreich-Aufenthalt in den 1970ern, Baseball, die familiäre Herkunft mütterlicherseits aus der polnisch-ukrainischen Region und kleine Referenzen an Edgar Allan Poe. Das Nach-Vorne-Stellen des Autobiografischen ist aktuelle literarische Mode, doch Auster betreibt das Spiel mit Schein und Wirklichkeit bereits seit seiner New-York-Trilogie in den 1980ern. Besonders in Deutschland gelten Paul Auster und seine Frau Siri Hustvedt als die linken New-Yorker-Vorzeigeintellektuellen.

Intellektuelle Erfüllung

Auch mit Seymour Tecumseh Baumgartner hat Paul Auster einen Vorzeigeintellektuellen erschaffen, der die universitären Kreise selten verlässt. Die höchste Form der Liebe zu seiner verstorbenen Frau ist die posthume Herausgabe ihrer Gedichte, die größte Erfüllung, dass eine fleißig-perfekte Studentin über diese Lyrik ihre Dissertation verfassen will.

Anders als im ersten Kapitel wird im Rest des schmalen Romans wenig Handlung erzählt, sondern Biografisches und Philosophisches abgehandelt. Nebenfiguren haben meist funktionalen Charakter und bleiben blass. Auster verschont uns dankenswerterweise vor allzu schwülstiger Altherrenromantik. Der allwissende Erzähler wendet sich einmal irritierend an die Lesenden und weiß am Ende mehr, als er über Baumgartner berichtet.

Was, so kann man besonders dann fragen, wenn man kein intellektueller Feuilletonkritiker oder Auster-Fan ist, interessiert mich das Leben eines alten Professors an der Ostküste? Nicht nur die Figur Baumgartner, sondern auch der Roman »Baumgartner« wirken aus der Zeit gefallen. Aus der Zeit und Wirklichkeit.

Wolfgang Tischer

Paul Auster; Werner Schmitz (Übersetzung): Baumgartner: Roman. Gebundene Ausgabe. 2023. Rowohlt Buchverlag. ISBN/EAN: 9783498003937. 22,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
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2 Kommentare

  1. Lieber Herr Tischer, den Roman habe ich nicht gelesen. Obwohl ich über den Titel irgendwo im Internet gestoßen bin. Nun, nach Ihrer Bewertung, kann ich sagen: Titelbild und Inhalt scheinen zueinander zu passen. Selten so ein besch… Titeldesign gesehen.
    PS: Auster – grundsätzlich – wird in meinen Augen überbewertet. Da gibt es deutlich bessere amerikanische Schriftsteller. Salinger zum Beispiel. Obwohl der nur einen Roman veröffentlicht hat …

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