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Heinz Strunk: Ein Sommer in Niendorf – Thomas Mann mit drei goldenen Haaren

Auch auf YouTube: Wolfgang Tischer bespricht »Ein Sommer in Niendorf« von Heinz Strunk
Auch auf YouTube: Wolfgang Tischer bespricht »Ein Sommer in Niendorf« von Heinz Strunk – Klick aufs Bild

Selbst Nicht-Genre-Literatur wird stromlinienförmiger, wird von den Verlagen an die Erwartungen und moralischen Standards der Leser angepasst. Wird es künftig noch Bücher wie »Ein Sommer in Niendorf« geben? Ein sprachgewaltiges Buch von Heinz Strunk mit unsympathischen Protagonisten und viel Alkohol an der Ostsee.

Es ist erfreulich, dass »Ein Sommer in Niendorf« im Sommer 2022 oben in den Bestsellerlisten zu finden ist. Schließlich ist das Buch von Heinz Strunk, der, angefangen mit eher komödiantischen Werken wie »Fleisch ist mein Gemüse« bis hin zu düsteren Mordgeschichten wie »Der goldene Handschuh«, bewiesen hat, dass er alles sprachmächtig meistert.

Hauptfigur Georg Roth ist Unternehmensjurist. Zwischen zwei Jobs nimmt er sich eine dreimonatige Auszeit, um die Familienchronik aufzuschreiben. Roth sieht sich schon als Bestsellerautor, dessen Werke von Netflix als Serie verfilmt werden, doch ist die Story eher unrühmlich, der Vater hat den Familienbetrieb abgewickelt und seinem Sohn die Geschichte mehr oder weniger auf dem Sterbebett auf Tonbändern aufgesprochen.

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Roth will ans Meer. Weit raus aus Hamburg kommt er nicht, er nimmt sich ein Apartment in Niendorf an der Ostsee. Dort an der Strandpromenade ist er der einzige Anzugträger um die 50 zwischen ansonsten alten und sehr alten Menschen.

Bereits auf den ersten Seiten des Buches begegnet er einer Person gleich dreimal: Markus Breda. Breda haust als Verwalter des Apartments in einem vermüllten Kabuff, er arbeitet als »Strandkorbdreher« und richtet allabendlich die Sitzmöbel wieder zur Morgensonne aus, und Breda betreibt einen Spirituosenladen, in dem er selbst der beste Kunde zu sein scheint. Roth will Abstand halten zu diesem unangenehmen Menschen, der oft Phrasen und Allgemeinplätze von sich gibt.

Doch wir ahnen und wissen es sofort: Roth wird sich Breda nicht entziehen können, wird von ihm immer mehr hinab- und hineingerissen in ein trauriges Leben mit viel Alkohol. Roth wird Breda.

All das erleben wir aus der Perspektive Roths. Wir können uns amüsieren, doch wir erleben auch Roth als Unsympath, über dessen Aktionen wir nicht selten Fremdscham empfinden. Es geht mit Alkohol in die Abgründe schäbiger Kneipen, und Heinz Strunk schafft es wie kein Zweiter, dieses Milieu, dieses Thekengelaber in einer Art und mit einer Sprache zu schildern, die es nicht sofort als solches erscheinen lassen. Roth redet sich immer noch die eigene Würde ein, die Möglichkeit zur Ab- und Umkehr. Diese Art, sprachliches Allerweltsgewäsch zu erheben und subtil mit Humor zu durchsetzen, erinnert an Eckhard Henscheids »Trilogie des laufenden Schwachsinns«.

Der Rowohlt Verlag selbst – wenn nicht gar der Autor – zieht Parallelen zu Thomas Mann. Auch Aschenbach versandet in »Tod in Venedig« am Meer und Castorp beginnt im »Zauberberg« einen kurzen Ferienaufenthalt, der länger dauern wird als beabsichtigt.

Breda erinnert an den Fährmann in Grimms Märchen »Der Teufel mit den drei goldenen Haaren«, der nicht weiß, wie er dem Dasein, an dem er leidet, entkommen kann, bis ihm gesagt wird, er müsse nur jemanden finden, dem er den Fährmannsstab überreichen könne. Roth scheint ihn anzunehmen.

Heinz Strunk: Ein Sommer in Niendorf
Heinz Strunk: Ein Sommer in Niendorf

Neben der Buchversion gibt es auch die von Heinz Strunk selbst eingelesene ungekürzte Hörbuchfassung. Doch Strunk – obwohl auch Schauspieler und Bühnenmensch – ist leider nicht der beste Interpret seiner Texte. Zu schnell, zu nuschelig und mit unpassenden Figurenstimmen rast er durch den Text, sodass das Selbstlesen zu bevorzugen ist.

Unsympathische männliche Protagonisten, Alkohol, ein Absturz und schonungslose Figurenbeschreibungen. Wird solch ein Text, von einem Newcomer geschrieben, in einigen Jahren noch eine Chance auf dem Buchmarkt haben? Werden sich Verlage noch trauen, solche Bücher ohne Warnhinweis auf den Markt zu bringen?

Es ist gut und wichtig, dass es Texte wie »Ein Sommer in Niendorf« gibt. Sie reizen uns, sie regen an, sie führen uns in Regionen, in die wir nie hinwollten. Und damit ist nicht die Ostsee gemeint. Sie sind das, was gute Literatur ausmacht.

Wolfgang Tischer

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1 Kommentar

  1. Hallo Herr Tischler,
    ich stimme ihrer Kritik grundsätzlich zu. Gleichwohl finde ich auch die vom Autor eingelesene Hörbuchfassung sehr gelungen. Die weiblichen Stimmen hat er zwar nicht gut drauf. Aber dem Markus Breda hat er eine absolut authentische Stimme verliehen. Das Thekengeschwätz im „Spinner“ ist ebenfalls köstlich interpretiert. Die Parallele zu Thomas Mann ist für meinen Geschmack allerdings dann doch sehr hochgegriffen. Das der Rowohlt Verlage diese gerne zieht, ist aus verlegerischer und also betriebswirtschaftlicher Hinsicht verständlich.

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