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Rettet den Gedankenstrich vor der KI – Plädoyer für ein in Verruf geratenes Satzzeichen

Verschiedene Striche und ihre HTML-Kodierungen
Verschiedene Striche und ihre HTML-Kodierungen

»Verzichten Sie auf Gedankenstriche – sie sind ein Zeichen, dass der Text von der KI geschrieben wurde!« Diese Warnung geistert seit Monaten durch soziale Medien, Schreibforen und LinkedIn-Posts. Autoren entfernen mittlerweile ängstlich jeden Strich aus ihren Manuskripten, um nicht unter KI-Verdacht zu geraten. Doch der Bindestrich gehört in gute Texte! Ein anderes Zeichen ist ohnehin weitaus verdächtiger.

Ein viral gegangenes TikTok-Video zeigt einen TikToker namens Sawyer, der behauptet, sein Professor habe ihm null Punkte für seine Arbeit gegeben – allein wegen der Verwendung von Em-Dashes. »Mein Professor hat mir gerade mitgeteilt, dass mein Text 100 % KI sei, nur weil ich einen Gedankenstrich verwendet habe.« »Em-Dash« (in etwa »M-Strich«) ist die Bezeichnung für den Gedankenstich im englischen Raum, weil er dort etwa so breit ist wie der Buchstabe M.

Doch man kann an Sawyers Aussagen zweifeln. Wie das Blog Shooglebox berichtet, promotet Sawyer in seinen Videos regelmäßig GPTZero, ein Tool zur KI-Erkennung. Er postet ständig ähnliche Geschichten über angebliche KI-Verdächtigungen. Seine Videos sind mit »Paid Partnership« gekennzeichnet, seine TikTok-Bio weist ihn als »GPTZero ambassador« aus.

Auf Reddit wird unter dem Titel »The Em Dash Dilemma« über das Schicksal des Satzzeichens diskutiert. Ein Nutzer klagt: »Ich tippe fast instinktiv ›alt + 0151‹. Aber seit KI-Texte Mainstream wurden, werden sogar von Menschen erstellte Texte, die Em-Dashes verwenden, als KI-erstellt wahrgenommen. Verrückt, wie ein ganzes Satzzeichen entwertet wurde.«

Das Blog press-n-relations.de bezeichnet das Satzzeichen als »Allzweckwaffe« der KI. Die Seite digital-skill.ch warnt vor dem »ChatGPT-Hyphen«. Sogar all-ai.de titelt mit relativierendem Fragezeichen: »Gedankenstrich = KI?«.

Was ist dran an diesem Pauschalurteil?

Zu Unrecht unter Verdacht?

Tatsächlich nutzen KI-Modelle wie ChatGPT den Gedankenstrich auffällig oft. Sprachmodelle basieren auf statistischen Vorhersagen. Sie reproduzieren Muster aus ihren Trainingsdaten. Und diese Trainingsdaten – Bücher, Zeitschriftenartikel, wissenschaftliche Papers, Essays – sind voll von Gedankenstrichen.

Wie Brent Csutoras recherchierte: »Em-Dashes sind absolut überall in den Trainingsdaten. In Büchern, Artikeln, Essays – Menschen nutzten sie so oft, dass KIs sie als natürlichen Fluss gelernt haben. Es ist wie einem Vogel zu sagen, er soll nicht zwitschern.«

Magazine wie The New Yorker oder The Atlantic, literarische Texte von Emily Dickinson bis Brandon Sanderson, akademische Veröffentlichungen – Schreibende lieben den Gedankenstrich. Das Modell lernt daraus: »Hochwertiger Text verwendet Em-Dashes.« Es imitiert, was es für gutes Schreiben hält. Wie Sean Richey analysierte: Die Trainingsdaten der KI-Modelle stammen überproportional von »verbalen Eliten« – Journalisten, Akademikern, professionellen Autoren. Genau jenen Menschen, die den Gedankenstrich beherrschen und gerne einsetzen.

Hinzu kommt ein technischer Aspekt: In vielen Tokenizern ist » —« (Leerzeichen plus Em-Dash) ein einziges Token, während Konstruktionen mit Komma oder Semikolon mehr Tokens benötigen. Tokens sind die Grundeinheiten, in die ein Sprachmodell Text zerlegt – vergleichbar mit Wortbausteinen, aus denen das Modell seine Antworten zusammensetzt. Das verstärkt die statistische Präferenz während des Trainings. Im Englischen wird der lange Geviertstrich (Em-Dash) zudem ohne Leerzeichen gesetzt—so wie hier—und wirkt dadurch noch dominanter als der deutsche Halbgeviertstrich mit Leerzeichen.

Aber ist das wirklich ein verlässliches Erkennungsmerkmal?

Laurentia Romaniuk aus dem ChatGPT-Team von OpenAI räumte in einer Stellungnahme gegenüber der Washington Post ein, dass das Modell den Gedankenstrich »vielleicht bevorzugt«. Gleichzeitig betonte sie: Das Resultat hänge stark von den Nutzereingaben ab. »Während wir – und ChatGPT – eine Schwäche für den Em-Dash haben, ist unsere Priorität sicherzustellen, dass unsere Modelle Nutzern helfen, ihre Ideen klar und effektiv zu kommunizieren, in welchem Stil auch immer sie wählen«, schrieb Romaniuk.

Die Sprachwissenschaftlerin Aileen Gallagher von der Syracuse University bezeichnete es gegenüber der Washington Post als »verletzend«, den Gedankenstrich als KI-Merkmal abzutun. »Der Em-Dash ist ein so mächtiges Schreibwerkzeug, das auch große Subtilität mit sich bringt. Die Idee, dass er ein Indikator für seelenloses, totes KI-generiertes Schreiben ist, macht mich wirklich fertig«, sagte Gallagher. Schließlich nutzen ihn Autoren seit jeher.

Die Hysterie erinnert an frühere Verdächtigungen. Erst waren es die Raketen-Emojis auf LinkedIn (🚀), dann die Sparkles (✨), jetzt der Gedankenstrich, der zum scheinbar untrüglichen KI-Beweis geworden ist. Morgen vielleicht das Semikolon?

Was die Tests wirklich zeigen

Eine seriöse Analyse lieferte der österreichische Softwareentwickler Mario Zechner in einem YouTube-Video. Er untersuchte systematisch Artikel der Website OE24 der letzten Jahre auf Gedankenstriche. Bemerkenswert ist der überproportional hohe Anstieg in den letzten beiden Jahren in allen Ressorts. Tatsächlich zeigen seine Daten (ohne dass es Zechner im Video explizit behauptet): Gedankenstriche könn(t)en durchaus ein Indikator für KI-generierte Texte sein. Seine Recherche ist gründlich, datenbasiert und verzichtet auf Hysterie und Vorwürfe.

Auch die Website Plagiarism Today führte einen aufschlussreichen Test durch. Sechs KI-Systeme sollten denselben Artikel schreiben. ChatGPT, Copilot und Deepseek (das angeblich auf ChatGPT basiert) nutzten tatsächlich Em-Dashes exzessiv – »weit über das hinaus, wie das ein Mensch wahrscheinlich tun würde«. Claude hingegen verwendete nur zwei. Gemini und Meta.ai? Kein einziger Em-Dash.

»Die Stichprobe ist zu klein, um statistisch signifikant zu sein«, räumt der Autor ein. »Aber sie zeigt klar: Nicht alle KI-generierten Texte enthalten Em-Dashes. Manche vermeiden sie komplett.«

Wer um den Umstand weiß, gibt einfach beim Prompten den Befehl mit »Verwende keine Gedankenstiche«. Ist es so einfach, die KI unverdächtig zu machen?

Daphne Ippolito, Wissenschaftlerin bei Google Brain und heute Professorin an der Carnegie Mellon University, weist im MIT Technology Review auf die wahren KI-Marker hin: Wortfrequenz, besonders die Häufigkeit von »the« im Englischen. Und Fehlerlosigkeit. »Ein Tippfehler im Text ist tatsächlich ein wirklich guter Indikator dafür, dass er von einem Menschen geschrieben wurde«, sagte Ippolito. KI-generierte Texte seien normalerweise makellos, während menschliches Schreiben voller kleiner Fehler und Eigenarten ist.

Die Warnung vor dem Bindestrich wird zur »Urban Legend«. Menschen meiden Em-Dashes. Ein Kommentator auf Hacker News, zitiert von Language Hat, bringt es auf den Punkt: »Der Em-Dash ist jetzt ein GPT-ismus und seine Verwendung nicht ratsam, wenn Sie nicht wollen, dass Leute denken, Ihr Text sei von einem LLM verfasst.«

Kleine Strichkunde

Im Deutschen gibt es vier waagerechte Striche mit unterschiedlichen Funktionen:

Der Bindestrich (-) ist der kürzeste. Er verbindet Wortteile: E-Book, KI-Text, Corona-Pandemie. Kein Drama, kein Verdacht. Die meisten verwenden für alles den Bindestrich, da es das einzige Zeichen ist, das direkt und ohne Shortcode oder Tastenkombination auf der Tastatur erreichbar ist.

Das Minuszeichen (−) sieht dem Bindestrich zum Verwechseln ähnlich, ist aber ein mathematisches Zeichen. Es steht zwischen Zahlen: 10 − 3 = 7. In der Praxis wird meist der Bindestrich als Ersatz verwendet, typografisch korrekt ist aber das echte Minuszeichen. Besonders kurios: Im Deutschen hat sich für Domain-Namen die falsche Bezeichnung »Minus« durchgesetzt. Viele sagen »Literatur minus Kaffee Punkt de« statt »Literatur Bindestrich Kaffee«. Das hat einen gewissen Witz – denn tatsächlich ist weder ein Minus noch ein Gedankenstrich im Domain-Namen, sondern schlicht ein Bindestrich.

Der Gedankenstrich (–) ist etwa doppelt so lang. Im Deutschen nutzen wir den Halbgeviertstrich, im Englischen »En-Dash« genannt (weil er etwa so breit ist wie der Buchstabe N). Er markiert Pausen – wie hier – und steht mit Leerzeichen. Für Zeitspannen verzichtet er darauf: 9–17 Uhr, Montag–Freitag. Windows-Nutzer tippen Alt+0150, Mac-User Option+Bindestrich.

Der Geviertstrich (—) ist der längste und im Deutschen praktisch arbeitslos. Während Amerikaner ihn ohne Leerzeichen für Einschübe nutzen—so wie hier—lehnen deutsche Typografen das ab. Jan Tschichold, der Papst der deutschen Typografie, erlaubte ihn nur in Preistabellen. Dieser »Em-Dash« ist der eigentliche Star der KI-Debatte, weil er im Englischen dominiert.

Diese Unterscheidung ist keine Pedanterie. Sie gehört zur Schriftkultur wie die korrekte Verwendung von Anführungszeichen.

Weitere Infos und Einsatzmöglichkeiten lassen sich in der Wikipedia nachlesen.

Word und WordPress machen’s automatisch

Die meisten Autoren tippen ohnehin nur Bindestriche. WordPress, Word und andere Programme konvertieren automatisch doppelte Bindestriche (--) oder die Kombination »Leerzeichen Bindestrich Leerzeichen Folgewort« in Gedankenstriche (–). Die Funktion heißt bei WordPress »wptexturize« und sorgt seit Jahren für Diskussionen. Technische Blogger fluchen, weil Shell-Befehle wie »command --parameter« plötzlich unleserlich werden.

Für literarische Texte ist die Automatik ein Segen. Niemand muss Alt-Codes auswendig lernen. Die Software übernimmt die typografische Feinarbeit. Das erklärt auch, warum der Gedankenstrich überhaupt so verbreitet ist – nicht nur bei KI-Texten, sondern überall.

Übrigens: Wer die WordPress-Konvertierung hasst, kann sie in der functions.php des Themes mit einer Zeile Code deaktivieren: add_filter('run_wptexturize', '__return_false');. Dieser Weg sollte auch im Classic-Editor funktionieren, da WordPress HTML-Entities wie — und – korrekt verarbeitet.

Die wahre Gefahr liegt an anderer Stelle

Ja, Gedankenstriche können ein Hinweis auf KI-generierte Texte sein – besonders wenn sie exzessiv und in Kombination mit anderen Merkmalen auftreten. Aber das ist etwas anderes als die pauschale Verurteilung jedes Textes mit Gedankenstrichen.

Ein Text mit drei Gedankenstrichen kann von Goethe stammen – oder von GPT-4. Emily Dickinson liebte den Strich, Edgar Allan Poe auch. Sollen wir ihre Werke jetzt als KI-generiert betrachten?

Die Jagd auf vermeintliche KI-Marker führt zu absurden Situationen. Studenten entfernen Gedankenstriche aus Hausarbeiten oder lassen sie (siehe oben) per Prompt gar nicht erst schreiben. Autoren meiden elegante Einschübe. Lektoren streichen ein bewährtes Stilmittel. Das Ergebnis: uniformere, langweiligere Texte.

Echte KI-Texte erkennt man – wenn überhaupt – an der Kombination mehrerer Merkmale: übertriebene Ausgewogenheit (»einerseits … andererseits«), Worthülsen (»in der heutigen Zeit«), fehlende persönliche Note, exzessive Gedankenstriche – und vor allem an der glatten Perfektion ohne Ecken und Kanten.

Ein Plädoyer für den gestrichenen Einschub

Lasst euch den Gedankenstrich nicht nehmen! Er ist älter als jede KI, eleganter als jede Klammer, präziser als drei Kommata. Er schafft Rhythmus, markiert Pausen, strukturiert Gedanken – und das seit Jahrhunderten.

Verwendet ihn, wo er hingehört. Zwischen zwei Gedanken – wie hier. Für Zeitspannen: 10–18 Uhr. Für Einschübe – die man früher in Klammern setzte – mitten im Satz. Lasst euch nicht von einer Handvoll Social-Media-Detektive einschüchtern, die in jedem Strich die Maschine wittern.

Die wahre Kunst besteht nicht darin, bestimmte Zeichen zu meiden. Sie liegt darin, sie bewusst und variantenreich einzusetzen. Mal ein Gedankenstrich, mal ein Semikolon; manchmal eine Klammer (warum nicht?), oft ein schlichter Punkt.

Wenn wir anfangen, unser Schreiben nach vermeintlichen KI-Markern auszurichten, haben die Maschinen gewonnen. Nicht weil sie besser schreiben – sondern weil wir aus Angst vor falscher Verdächtigung schlechter schreiben.

Die (falsche) Ellipse ist weitaus verdächtiger

Der Gedankenstrich überlebt jeden Trend. Er überlebte die Schreibmaschine, die nur einen Universalstrich kannte. Er überlebte die frühe Computerära mit ihren ASCII-Beschränkungen. Er wird auch die KI-Paranoia überleben.

Weit verdächtiger als der Bindestrich ist ohnehin die Ellipse, die ChatGPT fast immer falsch einsetzt. Statt … werden drei Punkte gemacht. ChatGPT fügt sie bei Ersatz für fehlende Wörter ohne Leerzeichen an das letzte Wort, was orthografisch falsch ist (»Ich möchte hier nicht…«).

Schreibt, wie ihr schreiben wollt – mit allen Zeichen, die unsere schöne Sprache bereithält. Der Gedankenstrich gehört dazu. Seit Hunderten von Jahren.

PS: Dieser Text enthält 40 waagerechte Striche aller Art.

Wolfgang Tischer

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