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Meinungsforscherin Frau Lange spekuliert
von Olaf Steinacker

»Ganz so haben wir uns das eigentlich nicht vorgestellt.« Die pickelige Studentin (Sie sprechen mit Frau Lange stand auf ihrem Namensschild) errötete heftig. Statt Haller ins Gesicht zu gucken, blätterte sie nervös in dem Fragebogen, der vor ihr auf dem Tisch lag. »Im zwölften Semester Philosophie - hm?« Haller nickte. »Eigentlich wollte ich auch mal Philo studieren, hab' ich mir dann aber doch noch anders überlegt.« Sie schien mit ihrer Entscheidung sehr zufrieden zu sein.
     Als Haller die Zeitungsannonce im Anzeiger las, (Angehende Akademiker für eine Umfrage gesucht. Einhundertzwanzig Mark Aufwandsentschädigung) zögerte er keine Sekunde. Leicht verdientes Geld. Dass er eigentlich kein angehender, sondern eher ein abgebrochener Akademiker war, sollte wohl keine große Rolle spielen.
     »Sie haben von vierzig Fragen dreiunddreißig Mal das d angekreuzt, das war nun wirklich nicht Sinn der Sache.« Die rote Gesichtsfarbe brachte ihre Pickel sehr unvorteilhaft zur Geltung. »Zwei Fragen haben sie gar nicht beantwortet und…« »Was hätten sie denn angekreuzt?«, unterbrach Haller die Pickelige, »Südostasien ist nicht gerade mein Steckenpferd.«
     Wie hoch schätzen sie das Jahreseinkommen einer Arbeiterfamilie in China ein? Zwischen einhundert und einhundertfünfzig US Dollar (a). Zwischen einhundertfünfzig und dreihundert US Dollar (b). Über dreihundert US Dollar (c). Weiß nicht (d).
     »Ich glaube nicht, dass ich so so oft d angekreuzt hätte, wenn ich ehrlich sein soll. Aber sie scheinen sich zumindest Mühe gegeben zu haben.« Der Raum, in dem vor einer guten halben Stunde noch etwa zwei Dutzend angehende Akademiker saßen, war wie leergefegt. Haller war der Letzte. Zwanzig Minuten nachdem der vorletzte Gelehrte verschwunden war, hatte ihn Frau Lange aufmunternd angelächelt und gerufen: »Na, klappt's?«
     Eine weitere Viertelstunde später musste auch Haller seinen Bogen abgeben (»Na, dann wollen wir mal sehen, Herr Haller«). Nach den ersten zehn d's begann Frau Lange langsam zu erröten.
     Wem würden sie bei einem Fußballspiel zwischen China und Taiwan die Daumen drücken? China (a). Taiwan (b). Unentschieden (c). Haller hatte keine Ahnung. Also: d.
     Wie hoch schätzen sie die Kindersterblichkeitsrate in Südkorea ein ? Etwa fünf Prozent (a). Zwischen zehn und fünfzehn Prozent (b). Über zwanzig Prozent (c). Weiß nicht (d).
     D, wie Dumm, dachte sich Frau Lange.

© 1998 by Olaf Steinacker. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

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