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Wie privilegiert wir uns da fühlen dürfen! – »Vom Himmel die Sterne« von Jeannette Walls

Buch: »Vom Himmel die Sterne« von Jeannette Walls
Buch: »Vom Himmel die Sterne« von Jeannette Walls

Mehrere Neuerscheinungen im Herbst 2023 beschäftigen sich mit dem Verhältnis von Töchtern und Vätern. Isa Tschierschke seziert Jeannette Walls’ »Vom Himmel die Sterne«, den neuesten Fang des Übersetzerpaars Wasel & Timmermann (»Eine Frage der Chemie« und »Gesang der Flusskrebse«).

Der Unscharfe

Wichtiges Konstruktionsmerkmal in Vater-Tochter-Romanen ist das Geheimnisvolle an der Vaterfigur. Nicht nur vertritt er das andere, unbekannte Geschlecht, sondern er ist oft auch abwesend. In »Paradise Garden« dem Debütroman von Elena Fischer, der es im ersten Anlauf gleich auf die Longlist des deutschen Buchpreises schaffte, geht es um die roadtripmäßige Suche nach einem abwesenden Vater. In Tanja Schwarz’ »Vaters Stimme« kommen die selbstgestrickten Narrative eines wiedergefundenen Vaters auf den Prüfstand. Auch in »Vom Himmel die Sterne« von Jeannette Walls ist der Vater ein schillerndes, lange fehlendes, Puzzleteil der Mädchenidentität. Die Versuchung, Töchter-Väter-Romane als gedruckte Ödipus-Komplexe zu lesen, ist groß, aber es steckt mehr in ihnen. Im Falle von »Vom Himmel die Sterne« ein rückwärtsgewandtes Bild von Emanzipation als bloße Aneignung männlicher Eigenschaften und Privilegien.

»Was soll aus mir werden?« ist die bange Frage, die »Vom Himmel die Sterne« durchzieht, und obwohl die Geschichte vor rund hundert Jahren in den USA spielt, ist das Thema auch hier und heute für Heranwachsende präsent. Für Jungs war es (bis vor Kurzem) selbstverständlich, was aus ihnen wird: ein Mann natürlich. Für Mädchen gibt es seit einigen Jahrzehnten zusätzlich zur traditionellen Frauenrolle die Option, ein besserer Mann zu werden. Eine anstrengende, aber lohnende Variante des Coming of Age und – im Falle von Sallie Kincaid – ihre einzige Chance, sich ein paar Inselchen der Selbstbestimmung zu erkämpfen.

Werbewirksam in den Buchhandlungen platziert: »Vom Himmel die Sterne« wird, wie »Eine Frage der Chemie«, schon bei Erscheinen als Bestseller vermarktet.

»Was soll aus mir werden?«

Sallie hat sich früh vorgenommen, das »schnellste Mädchen der Welt« zu werden, ganz so, wie es der Vater ihr vermittelt, den alle nur respektvoll den »Duke« nennen. Ihre Mutter hat sie früh verloren und während der jüngere Bruder empfindlich und ängstlich ist, ist Sallie der Junge, den »der Duke«, sich immer gewünscht hat. Schon auf den ersten Seiten wird die Ausgangssituation gezimmert: eine ausgesprochen simple Familienlaube aus Vater, Tochter aus vorheriger Ehe, Stiefmutter und dem jüngeren, gemeinsamen Sohn beider Eltern. Als Sallie ihren kleinen Bruder lebensbedrohlicher Gefahr aussetzt, um ihn abzuhärten, muss sie verschwinden und wird zu einer verarmten Tante verbannt. »Bloß, bis sich die Lage beruhigt hat«, verspricht Daddy ihr, aber Sallie weiß, dass sich »der Duke« nicht gegen seine Ehefrau (die böse Stiefmutter) durchsetzen kann. Was zu Beginn klischeehaft daherkommt, bekommt im Verlaufe der Geschichte durch das Virginia-Lokalkolorit des amerikanischen Südens und diverse Plot-Twists etwas mehr Individualität.

Empowerment sells

Mädchen, die eigentlich lieber Jungs wären, im Englischen Tomboys genannt, eignen sich seit Jahrzehnten hervorragend als Identifikationsfigur. Ein beeindruckendes Beispiel ist das  Phänomen »Little Women«. Der Roman, ursprünglich von Louisa May Alcott 1868/69(!) verfasst, erlebt ein Revival nach dem anderen, zuletzt 2018 als Film von Greta Gerwick. Aber die Geschichte von vier heranwachsenden Schwestern und ihren Schicksalen funktioniert sogar als südkoreanische Serienadaption. Der Grund: die burschikose Jo, die in jeder Leserinnengeneration von »Little Women« in jedem Land die Lieblingsfigur ist. Sie strebt nach Unabhängigkeit statt von Ehe zu träumen, wird berufstätig, verdient ihr eigenes Geld und könnte glücklich sein. Auch Greta Gerwick gibt in Interviews zu, dass Jo ihre Vorbildfigur ist. Aber der Preis fürs unabhängige Tomboy-Dasein ist hoch. Damit die Zuschauerinnen merken, dass auch eine Filmheldin ihre Freiheit nicht zum Nulltarif haben kann, gibt Jo, die in New York Karriere gemacht hat, zu, »verdammt einsam« zu sein und damit sind dann alle wieder zufrieden.

Genau so funktioniert auch die Figur der Sallie in »Vom Himmel die Sterne«. Ihre störrische Weigerung die traditionelle Frauenrolle auszufüllen, bringt ihr Einsamkeit und Erschöpfung. Jeannette Walls schildert ein Frauenschicksal aus der Zeit der Prohibition und könnte damit an ihren Bestseller »Ein ungezähmtes Leben« (»Half Broke Horses«) anknüpfen, der ebenfalls zu Beginn des 20. Jahrhunderts spielt. Ich finde diese Rückwärtsgewandtheit schade, denn ihr erfolgreicher Erstling, das Memoir »Schloss aus Glas« (2005), wirkte besonders durch die zeitgenössischen Schilderungen einer amerikanischen Kindheit in extremer Armut. Man erinnere sich nur an die grandiose Eingangsszene, in der die Ich-Erzählerin vom New Yorker Taxi aus einer alten Frau beim Durchwühlen einer Mülltonne zuguckt. Es ist ihre Mutter.

Um Längen besser: Walls’ Memoir von 2005

Aber im Moment kommen bei den Leserinnen Emanzipationsgeschichten aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts besonders gut an. Vielleicht, weil sie uns das gute Gefühl geben, in einer wesentlich besseren Zeit, wenn nicht gar der besten aller Zeiten für Frauen, gelandet zu sein. Und da nun mal in Amerika, wie in Europa, die Leserinnen den Markt quantitativ lenken, häufen sich Empowerment-Geschichten im Stil von »Eine Frage der Chemie«. Die Heldin ist ihrer Zeit voraus und kämpft doch nur für etwas, was wir längst haben. Wie privilegiert wir uns da fühlen dürfen!

Frausein als Risiko

Ihre Positionen in Familie und Gesellschaft zu verteidigen, ist für alle Beteiligten in »Vom Himmel die Sterne« ausgesprochen anstrengend und für manche auch tödlich. »Aber warum willst du denn trotzdem das Sagen haben?«, fragt Sallie daher einmal ihren Vater. »Weil es nichts Besseres gibt. Absolut nichts.« Anders als bei Daddy, dem es hauptsächlich um die Lust am Herrschen geht, geht es bei den Frauen, auch bei Sallie, um die Verteidigung der nackten Existenz. Sich männliche Verhaltensweisen anzueignen (z. B. den Gebrauch von Schusswaffen) und im richtigen Moment die weibliche Rolle zu umgehen (Stichwort Schwangerschaft und Tod im Kindbett) ist in der Gesellschaft, die Walls konstruiert, kein Luxus freier Lebensgestaltung, sondern eine Überlebensstrategie.

»Behalte das.«

Gegen Ende darf’s sogar ein bisschen matrilinear werden, wenn Sallie glaubt, sich daran zu erinnern, dass ihre Mutter ihr einst den »Auftrag« gab zu kämpfen. Das soll wohl eine Art feministischer Hoffnungsschimmer im Roman sein: dass Sallie insgeheim gar nicht, wie alle glauben, die Kincaid-Gene ihres Vaters repräsentiert, dessen Schwächen nach und nach ans Licht kommen, sondern dass Muttern, die mysteriös ums Leben kam und über die nicht geredet werden darf, die eigentlich Starke war. Die, die ihr sagt, wofür es sich zu kämpfen lohnt und was es zu bewahren gilt (»Behalte das.«)

Schade nur, dass es in Familien, wie in der Politik, nicht um Stärke geht, sondern um Macht. Und beim Patriarchat nicht um die Blockade des Zugangs zu männlichen Berufsfeldern, sondern um die Verachtung von Weiblichkeit. Beides wird von Männern und Frauen in gesellschaftlicher Übereinkunft praktiziert, so auch in »Vom Himmel die Sterne«. Sallie ist die Tochter einer als viel zu »wild« beschriebenen Mutter und wird deshalb seit ihrer Kindheit gemobbt. Diejenigen Frauenfiguren, die sie begleiten, werden entweder von ihren Männern verlassen oder sterben. Kein Wunder, dass Sallie instinkthaft dem Heiraten und Kinderkriegen nichts abgewinnen kann.

Immer dabei: ein Mann, der es gut meint

In vielen der aktuellen Empowerment-Geschichten, wie z. B. »Der Gesang der Flusskrebse«, gibt es eine stereotype Männerfigur, die ich den »sympathischen Steigbügelhalter« nenne. Er bringt dem »wilden« Mädchen wesentliche Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben bei oder den Umgang mit Pferden, Fahrzeugen und Schusswaffen. Außerdem fungiert er als Türöffner zu seinen eigenen Kreisen und ist daher in brenzligen Situationen nicht nur in physischer Hinsicht ein wichtiger Beschützer, sondern vor allem in gesellschaftlicher.

Nun ist Autofahren zu dürfen noch kein feministischer Paradigmenwechsel – das kann man als Frau mittlerweile sogar in Saudi Arabien –, aber offensichtlich sind diese kleinen Errungenschaften für heutige Leserinnen besser als gar nichts. Und dass sich Sallies Kindheitsfreund Tom, den die Leserinnen sofort als perfekten Ehemann identifizieren, zunächst andere Partnerinnen suchen muss, geschieht Sallie ganz recht. So spröde, wie sie sich anstellt. Sie ist einfach noch nicht so weit, aber die Verhältnisse werden sie schon weichklopfen.

Der immer gleiche US-amerikanische Mythenzyklus

In anderer Hinsicht ist die Figur des Tom durchaus ein Zugeständnis an moderne Lesarten. Er leidet unter Flashbacks, ein Zeichen seiner posttraumatischen Belastungsstörung, die sich der sensible Soldat auf den Schlachtfeldern Europas zugezogen hat. So wird mit seiner Figur wenigstens transportiert, dass Kriege immer alle beschädigen. Auch die Sieger. Das verschafft dem Narrativ von Urgroßvaters Feldzug gegen die »Krauts« einen etwas moderneren Twist.

Den ur-amerikanischen Themen aus ihren früheren Romanen, wie z. B. »Ein ungezähmtes Leben« (»Half Broke Horses« von 2009, unvergessen als Abi-Sternchenthema in Baden-Württemberg) bleibt Jeannette Walls ansonsten treu. Prohibition und evangelikale Doppelmoral, protestantische Arbeitsethik (»Wir sind nicht faul« wehren sich die schwarzen Bootlegger) und Naturverbundenheit (»Tom erzählt mir, wie sehr er diesen Fluss liebt«) dürfen als Charakterisierungshelfer natürlich nicht fehlen. Besonders lieblos und mechanisch gerät das obligatorische Foreshadowing (»Es könnte aber auch an dem liegen, was passiert ist, als ich drei Jahre alt war«).

Vertieftes Verständnis US-amerikanischer Landeskunde. Schülerzeichnung während der Lektürebesprechung von »Half Broke Horses«

Klischees dominieren das »Upmarket-Segment«

Mit Klischees wird nicht gespart, aber das hat bei »Eine Frage der Chemie« (in der 80. Woche auf der Spiegel-Bestsellerliste) oder »Der Gesang der Flusskrebse« weder Rezensent:innen noch Leser:innen gestört. Wie die genannten Titel und die anderen Romane von Jeannette Walls, ist auch »Vom Himmel die Sterne« wieder von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann übersetzt worden. Die gehobene Mittelklasse, im Verlegerjargon »Upmarket« genannt, kommt eben auch nur vom Band. Ich frage mich, ob Wasel & Timmermann mittlerweile bereits an der Entstehung der Bücher mitwirken, repräsentieren sie doch den größten, nämlich den deutschsprachigen Verkaufsraum in Europa.

Bitte nicht wieder Pflichtlektüre!

Als Antwort auf die Frage »Was soll aus mir werden?« würde ich »Vom Himmel die Sterne« keinem Teenager in die Hand drücken. Da halte ich es eher mit der baden-württembergischen Auswahlkommission fürs Fachabitur 2023. In der Deutschprüfung wurden Fragen zu Jan Weilers »Der Markisenmann« gestellt, seit »Tschick« die beste Pflichtlektüre, wie ich finde. Der weibliche Ödipuskomplex wird bei Weiler anders verhandelt, obwohl die Ausgangssituation der von Sallie Kincaid verblüffend ähnelt. Die weibliche Ich-Erzählerin wird in die Verbannung zu ihrem leiblichen Vater ins Ruhrgebiet geschickt, weil sie einen Unfall provoziert, der für ihren kleinen Bruder, dem gemeinsamen Kind von Mutter und Stiefvater, lebensbedrohliche Folgen hat.

Nach einem enttäuschenden ersten Eindruck nimmt sie die Sache sportlich und richtet sich in den folgenden 6 ½ Wochen so geschickt in der Situation ein, wie nur Kinder das können. »Und gerade weil man dieser Lagerhalle keine Hoffnung, keine Spannung und rein gar nichts Vielversprechendes ansah, interessierte mich das Leben meines Vaters auf dieselbe Weise, wie es einen Wissenschaftler interessiert, warum sich eine Fliege den Kopf putzt.«

Die Alternative: Empowerment in Gelsenkirchen

Bei Mädchenversteher Weiler wird die töchterliche Kreativität stärker in den Vordergrund gerückt als Sehnsucht und Abhängigkeit. Es geht aber auch nicht um die bloße Imitation männlicher Verhaltensweisen, sondern um echte Individualität. In »Der Markisenmann« gibt es jemanden, der in »Vom Himmel die Sterne« nur ersehnt wird: einen Vater, der nicht durch strahlende Maskulinität wirkt, sondern dadurch, dass er die Kraft seiner Tochter aktiviert und dann auch Manns genug ist, sie wirken zu lassen.

Isa Tschierschke

Jeannette Walls; Ulrike Wasel (Übersetzung); Klaus Timmermann (Übersetzung): Vom Himmel die Sterne: Roman. Gebundene Ausgabe. 2023. HOFFMANN UND CAMPE VERLAG GmbH. ISBN/EAN: 9783455016284. 25,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
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2 Kommentare

  1. Herzlichen Dank für diese tolle Besprechung! Ich fand sowohl “Der Gesang der Flusskrebse” als auch “Eine Frage der Chemie” unerträglich klischiert, stand damit aber ziemlich alleine da. “Der Markisenmann” steht schon lange auf meiner Leseliste, den hol ich mir jetzt! 🙂

    • Das freut mich, liebe Sabina, und ich kenne das Gefühl, die Bestseller-Spielverderberin zu sein! Der Markisenmann ist übrigens nicht nur optisch, sondern auch haptisch eine Reise in die späten Siebziger/frühen Achtziger. Der Riffelumschlag kommt so grob daher, wie meine Kinderbücher früher. Viel Spaß!

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