Vielleicht liegen alle Antworten schon im ersten Satz. Denn bei vielen Lesern dürfte der Roman »Weit über das Land« von Peter Stamm einige Fragen aufwerfen. Was verdammt noch mal ist da los?
Die 223 Seiten sind etwas größer und mit etwas mehr Zeilenabstand gedruckt. Eigentlich ist Peter Stamms Roman eine Novelle, denn es passiert Unerhörtes.
Ein Mann steht auf und geht, das ist das Thema. Er heißt Thomas und ist Familienvater. Aber es ist nicht die Geschichte des »Ich geh mal kurz Zigaretten holen«. Bei Peter Stamm ist das Motiv reiner und unmittelbarer – und daher umso seltsamer.
Die vierköpfige Familie ist gerade aus dem Spanienurlaub ins Einfamilienhaus zurückgekehrt. Als die Mutter abends nach dem quengelnden Sohn schaut, bleibt der Vater allein mit einem Glas Wein auf der Gartenbank vor dem Haus zurück. Minuten später steht er auf und geht – und geht und geht und geht.
Als Leser bekommen wir das Folgende aus zwei Perspektiven erzählt, der von Thomas und der von Astrid, Thomas‘ Frau.
Wie bei Peter Stamm üblich wird jede Perspektive wertneutral geschildert. Man wird kein Urteil des Erzählers finden, keine Ironie und keinen Humor. Wir werfen einen vorsichtigen und fast höflichen Blick in die Köpfe der Figuren, doch wir bleiben im Grunde genommen draußen.
Warum geht Thomas fort? Wohin will er?
Klar, könnte man sagen, ein Eigenheim mit Garten, eine Frau und zwei Kinder, ein guter Job. Das ist die Hölle. Das Leben ist vorbei. Danach kommt nur noch der Tod.
Von einem »dunklen Verlies« ist im ersten Satz die Rede. Die Hecken des quadratischen Gartengrundstücks werden nachts zu einer Mauer.
Doch nach New York will Thomas nicht. Er läuft in Richtung Alpen. Er legt es nicht darauf an, seine Spur gänzlich zu verwischen, und dennoch will er nicht unbedingt erkannt werden. Liebevoll denkt er bisweilen an seine Familie zurück.
Man ist in Versuchung, etwas über das Ende zu schreiben, doch dann nimmt man dem Buch vieles weg. Und dennoch wird das Ende für viele Leserinnen und Leser zum Problem werden. Denn Stamm, der Meister der Kommasätze, arbeitet in »Weit über das Land« wieder mit erzählerischen Möglichkeiten und unterschiedlichen Wirklichkeiten. Hier knüpft er deutlicher an Werke wie »Agnes« an.
Peter Stamm löst die Geschichte in einem wunderbar poetischen Ende auf – wenn man sich darauf einlassen will, wenn man keine genauen Fragen stellt, wenn man nicht alles wissen will, wenn vorrangig eine Stimmung bleiben darf und keine Erklärung.
Der Rest der Leserschaft sagt: »Hä?«
Wolfgang Tischer
Peter Stamm: Weit über das Land: Roman. Gebundene Ausgabe. 2018. FISCHER Taschenbuch. ISBN/EAN: 9783596521746. 12,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Peter Stamm: Weit über das Land: Roman. Kindle Ausgabe. 2016. FISCHER Taschenbuch. 9,99 € » Herunterladen bei amazon.de Anzeige
Tipp: Erleben Sie Peter Stamm im Gespräch
mit Wolfgang Tischer am Donnerstag, 17. März 2016 um 16:30 Uhr, auf der Leipziger Buchmesse, Forum autoren@leipzig: Halle 5, Stand D600
Den Mitschnitt des Gespräches können Sie hier nachhören.
Meiner Meinung nach ist Peter Stamm völlig überbewertet.
Und: Danke für Ihren Artikel, lieber Wolfgang Tischer. Ich liebe Ihren Schreibstil!
Viele Grüße vom Ammersee – Renate Blaes
Kann kaum sagen warum, aber das Ende des Buches hat mich zutiefst angerührt.