Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht. Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus!
Die letzten Worte im Abschiedsbrief von Stefan Zweig. Am 22. Februar 1942 nahm sich der Schriftsteller gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau Lotte im brasilianischen Exil das Leben.
Maria Schrader hat die letzten Stationen des österreichischen Schriftstellers unter dem Titel »Vor der Morgenröte« verfilmt. Josef Hader spielt Stefan Zweig beeindruckend verloren.
Stefan Zweig (Josef Hader) steht mit Ernst Feder (Matthias Brandt) auf dem Balkon seines Hauses in Brasilien. Selbst die üppige Dschungelvegetation erinnert Zweig an daheim, an Österreich. So redet er es sich ein. Seit Jahren lebt der berühmte Schriftsteller Stefan Zweig im Exil. Vor den Nazis ist er aus Salzburg geflohen. Zunächst nach England, dann nach Brasilien. Schon immer hat er das südamerikanische Land bewundert.
Maria Schrader (Regie und Drehbuch, zusammen mit Jan Schomburg) erzählt von Stefan Zweigs Leben im Exil bis zu seinem Tod. Sie geht dabei nicht klein-klein dokumentarisch vor, sondern wählt exemplarische Szenen und Situationen aus. Das Fotografieren und Fotos spielen immer wieder eine Rolle, gleichsam drumherum wird die Filmhandlung erschaffen. Es gibt sie wirklich, diese Fotos: Der Empfang im Jockey-Club von Rio de Janeiro 1936, der internationale PEN-Kongress in Buenos Aires im gleichen Jahr. Aber auch die privaten Schnappschüsse, die Zweig zusammen mit seiner ersten Frau Friderike zeigen.
Während man in einer Kritik vermeiden sollte, zu viel vom Inhalt zu verraten, gilt bei diesem Film: Lesen Sie vor dem Kinobesuch in Ruhe den Wikipedia-Eintrag über Stefan Zweig durch. Ohne Hintergrundwissen lässt Sie der Film etwas allein. Sie wundern sich vielleicht, wer die junge Frau Zweig ist, mit der Stefan durch brasilianische Zuckerrohrplantagen läuft. Seine Tochter? Und warum lebt die andere Frau Zweig in New York? Und sind das dort in der Wohnung die gemeinsamen Kinder? Vieles lässt sich aus den Dialogen erschließen, aber nicht immer alles im Detail. Glücklicherweise, denn so werden nicht Dinge und Selbstverständlichkeiten nur für den Zuschauer erwähnt. Die starken Momente des Filmes sind die, in denen nichts gesagt wird.
Da steht er im Dickicht des Urwalds, kaum zu erkennen: »Herr Zweig?« Immer wieder fordert man von ihm eindeutige Worte gegen das Hitler-Regime. Doch sein entschiedener Pazifismus kann den Krieg selbst dann nicht gutheißen, wenn er sich gegen die Bösen richtet.
Josef Hader spielt Stefan Zweig. Der Kabarettist und Schauspieler war bislang mit ironischen Charakteren bekannt geworden, hat den Brenner in den Wolf-Haas-Verfilmungen gespielt (»Der Knochenmann«) oder den Gasthaus-Tester in der Theater-Verfilmung »Indien«. Er sei jetzt schon so alt, sagt Hader, dass er keine Angst mehr vor Niederlagen habe. Und so habe er die ernste Rolle angenommen und sei das Risiko eingegangen. Man kann sich keine bessere Besetzung vorstellen. Hader ist Zweig geworden (siehe Interview unten). Durch die vielen Sprachen und Untertitel wirkt der Film stets ein wenig dokumentarisch und Haders Zweig umso glaubhafter.
Stefan Zweig war der bekannteste Schriftsteller seiner Zeit, doch nun ist er weit weg von Europa und der Heimat. Stattdessen verlangt man von ihm eindeutige politische Aussagen oder Hilfe oder Geld. Mit allem kommt Stefan Zweig nicht zurecht. Das Land Brasilien, fĂĽr das sich der Schriftsteller bereits vor seinem Exil-Aufenthalt begeisterte, kann keine wirkliche Heimat werden.
Das akribische Szenenbild von Silke Fischer und die Kamera von Wolfgang Thaler verstärken die erdrückende Ruhe des Nicht-Gesagten und die Melancholie des Verlorenen. Die erste und die letzte Szene des Films sind ohne Schnitt an einem Stück und mit nahezu unbewegter Kamera gefilmt. Da ist das letzte Bild von Stefan Zweig: Zusammen mit seiner zweiten Frau Lotte liegt er wie schlafend auf dem Bett. Auch im Film sehen wir es kurz und beeindruckend inszeniert. Genauso wie das Original des Abschiedsbriefs, den Matthias Brandt als Ernst Feder liest. Die Menschen sind bestürzt und in Aufruhr, doch wie Stefan Zweig können wir als Zuschauer nichts unternehmen und nur entsetzt, berührt beobachten.
Wolfgang Tischer
KINOSTART: 2. Juni 2016
Drei Fragen an Dr. Klemens Renoldner, Direktor des Stefan Zweig Centre der Universität Salzburg
Herr Dr. Renoldner, wie nah ist Josef Hader mit seiner Darstellung dem wirklichen Stefan Zweig?
Hader wurde gewiss nicht wegen seiner physiognomischen Ähnlichkeit mit Stefan Zweig besetzt. Natürlich, was die Maskenbildner da leisten, ist phantastisch, die Ähnlichkeit mit Zweig ist verblüffend. Aber das entscheidende ist natürlich der Habitus, die Körpersprache, die Gestik, die Mimik – da helfen Perücke und Schnurrbart nicht viel. Wie Josef Hader diese Figur darstellt, ist für mich überzeugend – man sehe nur die Verzweiflung in seinem Gesicht, die Trauer, die Angespanntheit, die Nervosität, ja und auch die Souveränität, oder seine Verlorenheit in dem Zuckerrohrfeld … Josef Hader ist, was wir ja schon wussten, eben ein grandioser Schauspieler!
Der Film versucht nicht, das Leben von Stefan Zweig aufzuarbeiten, sondern setzt auf sehr wenige Szenen, Orte und Stimmungen, fast so, als wären es lebendig gewordene Fotografien. Ist das für Sie eine gelungene Form, oder hätten Sie sich mehr Hintergrund gewünscht?
Mir gefällt diese Auswahl von besonderen Augenblicken aus Zweigs Exiljahren sehr gut. Niemand kann ja behaupten, dass man die Lebensgeschichte eines Menschen in einem Film von eineinhalb Stunden umfassend erzählen kann. Man muss ja immer auswählen und seine subjektive Akzente setzen, das ist ja die Verantwortung des Künstlers, also beim Film eben Drehbuch und Regie. Da ich aber mit Zweigs Lebensgeschichte sehr gut vertraut bin, kann ich nicht beurteilen, wie Kinobesucher, die nur wenig über Zweig wissen, diese besonderen »short cuts« aufnehmen. Aber es hat ja jeder die Möglichkeit mehr über Zweig in Erfahrung zu bringen.
Sternstunden der Menschheit oder Die Schachnovelle – viele Zweig-Titel kennt man auch heute noch, hat sie vielleicht nicht immer gelesen. Wer nach dem Film Zweig im Original lesen möchte: Was würden Sie zum Einstieg empfehlen?
Es gibt mehrere Möglichkeiten: Man kann mit Zweigs großen Novellen anfangen (Angst, Brennendes Geheimnis, Amok, Brief einer Unbekannten, Buchmendel, Verwirrung der Gefühle, 24 Stunden aus dem Leben einer Frau etc.), mit den Romanen (Ungeduld des Herzens, auch den beiden Roman-Fragmenten Rausch der Verwandlung und Clarissa), mit seinen sehr gut lesbaren, spannend geschriebenen historischen Biographien (Joseph Fouché, Marie Antoinette, Maria Stuart, Magellan etc.) aber natürlich auch mit seinen Lebenserinnerungen Die Welt von Gestern.
Stefan Zweig zählt zu meinen Lieblingsschriftstellern. Ich erinnere mich noch gut an seine Novelle “Untergang eines Herzens”, die ich vor vielen Jahren gelesen habe. Die Weise, mit der er erzählt, wie das Herz eines Mannes “zerbricht”, ist bewunderswert! Muss ich unbedingt demnächst mal wieder aus dem Regal ziehen …