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»Vernichten« von Michel Houellebecq: Mächtig und berührend

In Text und Video: Wolfgang Tischer bespricht den Roman »Vernichten« von Michel Houellebecq
In Text und Video: Wolfgang Tischer bespricht den Roman »Vernichten« von Michel Houellebecq

Michel Houellebecq gilt als Skandalautor und Liebling des Feuilletons. Selbst wenn man nie etwas von ihm gelesen hat, scheint man ihn zu kennen. Spätestens da sollte man seinen Roman »Vernichten« aufschlagen. Besser, berührender und wuchtiger kann man die Gegenwart nicht einfangen, die bei Houellebecq in der Zukunft liegt.

»Elementarteilchen« oder »Die Ausweitung der Kampfzone«, die ersten seiner Romane, haben bei vielen das Bild geprägt, das wir von Michel Houellebecq und seinen Büchern haben. Männliche und egoistische Hauptpersonen, die an der Gesellschaft leiden. Texte durchsetzt mit Sex-Szenen, frauenfeindlich. Die Frage »Wie viel Autor steckt in seinen Figuren?« stellt das Feuilleton bis heute, und Houellebecq feuert die Diskussion mit kontroversen und provokanten Aussagen immer wieder an. Selbst da wird Kalkül vermutet, denn Skandalbücher verkaufen sich besser.

Wer Michel Houellebecqs frühe Romane nicht kennt und erst bei »Unterwerfung« (2015) eingestiegen ist oder gar jetzt mit »Vernichten« zum ersten Mal einen Roman des französischen Autors liest, mag sich wundern. Oder man wundert sich, wenn man die frühen Romane kennt.

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Schon immer war Houellebecq ein präziser Beobachter unserer Gegenwart, zumindest aus dem Blickwinkel seiner Protagonisten.

In »Vernichten« erleben wir einen Autor mit einer sachlichen, fast nüchternen Sprache. Was dort beschrieben wird, berührt. Es ist die hohe Politik, und es ist das Private. Es ist die Vernichtung der Gesellschaft und des Individuums. Und ganz im Sinne des Apostels Paulus kann uns am Ende nur die Liebe retten.

Dabei beginnt »Vernichten« zunächst wie ein Polit-Thriller. Im Netz tauchen Videos auf, die die Enthauptung des französischen Wirtschaftsministers zeigen. Doch der lebt noch, die Videos sind perfekte Fälschungen wie sie selbst Hollywoods Trickspezialisten nicht hinbekommen. Später dann zeigen die Videos echte terroristische Anschläge. Wer, so scheint die Frage zu sein, steckt hinter den Aktionen?

Aber es ist nicht die Antwort, die Michel Houellebecq interessiert, weil er eben keinen Polit-Thriller geschrieben hat. Wir lernen die Hauptfigur Paul Raison kennen. Dieser arbeitet im Wirtschaftsministerium und ist der engste Berater des scheinbar geköpften Ministers. Paul ist um die 50. Seit 10 Jahren geht er seiner Frau in der gemeinsamen Wohnung aus dem Weg. Die säuberlich getrennten Nahrungsmittel im Kühlschrank sind ein starkes Bild. Fertiggerichte gegen gesunde vegane Ernährung. Der Ehekrieg beginnt im Gefrierfach.

Michel Houellebecq: Vernichten

In »Vernichten« begleiten wir Paul nahezu ein Jahr lang. Houellebecq hat in seinen Romanen einen erzählerischen Kniff perfektioniert: Seine letzten Romane spielen immer ein klein wenig in der Zukunft. Der Roman »Unterwerfung« aus dem Jahre 2015 spielte im Jahre 2022. »Vernichten« aus dem Jahre 2022 setzt kurz vor dem Jahreswechsel 2026/27 ein. Auf diese Weise kann Houellebecq ein klein wenig Zukunftsvision mit Namen und Ereignissen der Gegenwart verbringen. Bisweilen wurden ihm prophetische Fähigkeiten zugesprochen. Allerdings sind die von Houellebecq beschriebenen Entwicklungen absehbar. In »Vernichten« ist es die Spaltung in reich und arm und das Erstarken der Rechten. Wir erleben den Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 2027, bei dem der Wirtschaftsminister als einer der möglichen Kandidaten gilt, wäre er nur bei der Bevölkerung beliebter. Als Bürokrat und Aktenmensch hat er gute Arbeit geleistet, Frankreich ist wirtschaftlich stark, sogar die Autoindustrie hat die Deutschlands überflügelt. Dass es viele Arbeitslose gibt, hat der Wirtschaftsminister fast übersehen.

Als Leserin und Leser bekommen wir all diese Einblicke aus dem Zentrum der Macht, weil wir mit Paul ganz nah dran sind.

»Vernichten« gliedert sich jedoch in zwei, man könnte auch sagen in drei Teile. Da ist das Politisch-Gesellschaftliche, da ist aber auch Pauls privates Leben. Sein Vater hat einen Infarkt und liegt im Koma. Paul muss Paris verlassen und zu seinem Vater nach Burgund aufs Land reisen. Ein typisches Houellebecq-Motiv: Wenn die Charaktere aus ihrer Bahn geworfen werden, landen sie nicht selten in den ländlichen Gegenden Frankreichs. Im Landhaus seines Vaters, der für den Geheimdienst gearbeitet hat, trifft Paul auf seine Schwester und seinen Bruder. Michel Houellebecq beweist auch hier, dass er literarisch nicht nur die große Politik beherrscht, sondern auch die Beziehungen der kleinen Menschen. Hier erleben wir einen kurzfristigen Perspektivwechsel, wenn das Leben von Pauls Bruder ins Wanken gerät. Einer der emotional stärksten Momente, in denen das Private in unglaublicher Weise vom Politischen beeinflusst wird.

Das Große im Kleinen zu zeigen, ist der Kern vieler Romane, doch keiner verknüpft die Ebenen so souverän und komplex wie Houellebecq. Zusätzlich sind Houellebecqs Texte durchdrungen von Überlegungen und Betrachtungen der Protagonisten, die in keiner Weise langweilen oder die Handlung abbremsen.

Was also kann uns vor der Vernichtung retten? Houellebecqs Antwort ist eindeutig: die Liebe. Der dritte Teil des Romans mag pathetisch wirken, einiges diskussionswürdig sein. Dennoch bleiben die Betrachtungen des Protagonisten in Houellebecqs Welt stimmig, der Roman stark bis zum Schluss.

Ist es Michel Houellebecqs letztes Werk? In der Danksagung spricht der Autor davon, dass es für ihn Zeit sei aufzuhören. Wieder eine Provokation? Houellebecqs Schaffenskraft am Ende ebenfalls vernichtet? Wenn, dann für ihn im Guten, denn, so schreibt es der Autor, er sei zu einer positiven Erkenntnis gelangt.

Welche? Ebenfalls Offen.

Wolfgang Tischer

Michel Houellebecq; Stephan Kleiner (Übersetzung); Bernd Wilczek (Übersetzung): Vernichten: Roman. Gebundene Ausgabe. 2022. DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG. ISBN/EAN: 9783832181932. 27,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Michel Houellebecq; Stephan Kleiner (Übersetzung); Bernd Wilczek (Übersetzung): Vernichten: Roman. Taschenbuch. 2023. DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG. ISBN/EAN: 9783832166724. 17,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

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4 Kommentare

  1. “Bisweilen wurden ihm prophetische Fähigkeiten zugesprochen. ”

    Gibt es eine “Prophezeihung” des Propheten, die eingetreten ist? Oder kann man ihn so ernst nehmen, wie alle anderen Propheten?

    Ich meine wir haben jetzt 2022: Kein muslimischer französischer Präsident, der Front National verliert seit 2014 Wähler und Stimmen, keine Scharia, keine Polygamie.
    Das schlimme: So nachvollziehbar die Houellebecq Charaktere sind, so irrelevant ist diese Nachvollziehbarkeit, wenn wenn die Welt um sie herum eben nicht so ist, wie der Autor prophezeite. Fiktion, die sich nicht im Geringsten bewahrheitet hat.

  2. Das ist das schlimmste Buch, dass ich in meinen gesamten 42 Jahren jemals gelesen habe.
    Die Story ist zu Anfangs spannend als es um die Hackerangriffe geht. Insgegesamt hätte man damit ein 1000 Seiten Krimi machen können. Statt dessen hat man es um die privaten Verhältnisse des Vater, Bruders, Schwester, und was weiß ich noch wen alles aufgeblasen. Und als ob das nicht reicht, dann baut man noch eine tragische Krankheitsgeschichre des Erzählers mit ein. Das Scheint als würde der Autor jämmerlich versuchen die Seitenanzahl einer seichten Story einfach künstlich zu erhöhen.
    Es gibt doch so ein schönes Sprichwort:
    Wenn du es nicht kannst, hol dir Hilfe oder lass es.

    Das Buch ist eine Zeit- und Geldverschwendung.
    Ich habe dann doch eine Sinnvolle Verwendung dafür gefunden, als ich es zum Heizen in den Kamin gefeuert habe!

  3. Zum Glück sind Geschmäcker verschieden….
    Habe erst jetzt die Besprechung von Herrn Tischer gehört und bin mächtig gespannt auf das Hörbuch welches jetzt in Audible angeboten ist.
    Vieles was ich von Holloubeque gelesen habe finde ich um Klassen besser als manches langweilige und sinnlos gehypte Geseiere auf dem „Literatur“ – Markt.
    Ich freue mich auf das Buch, falls ich enttäuscht bin melde ich mich noch mal.

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