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Textkritik: Verpackt in dichte Sprache

Nichts – naja: fast nichts – hat Textkritiker Malte Bremer an diesem Prosagedicht über die Großmutter auszusetzen. Vieles nur angedeutet, uns Lesern überlassen: Perfekt!

Großmutter

von Veronika Bauer
Textart: Prosagedicht
Bewertung: 5 von 5 Brillen

Felsenfest schweigen die Mauern.
Durch die Ritzen sickert
klamme Feuchte. Sonst nichts.
Oben im Dachstuhl hustet der Wind.

Die morschen Dielen, ausgetreten
am immergleichen rechten Weg.
Rüschen verschleiern die beschlagenen Fenster.
Müde, nie gewaschene Fetzen.

In der Waschküche tropft Selbstmitleid
aus dem verkalkten Wasserhahn.
Dort werden tapfer die bitteren Pillen
hinuntergespült. Pflichtschuldig.

Die Uhr tickt dumpf. Die Zeit vergeht –
Gott sei Dank. Gottgewollt.
Der Fernseher plaudert fröhlich
seine Monologe. Wie immer zu laut.

Hinten in der stillen Kammer
blüht der Schimmel,
wo sich weggeschobene Erinnerungen
bis unter die Decke stapeln.

© 2019 by Veronika Bauer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Ein sprachlich herausragendes Prosagedicht! Was das ist? Vom Aufbau her ein Gedicht, von der Sprache her Prosa: Es geht um Bilder, Stimmungen, Gefühle, verpackt in dichte Sprache. Vieles nur angedeutet, uns Lesern überlassen: Perfekt!

Die Kritik im Einzelnen

Das nenne ich einen starken Anfang: Hier wird eine Erwartung geweckt, die sofort wieder zerstört wird, denn beschrieben wird nicht etwa eine Großmutter, sondern offenbar der Ort, wo sie wohnt! Oder gewohnt hat? Zurück

Jetzt sind wir bei der Großmutter, die sich offenbar immer auf dem rechten Weg bewegt hat, gewissermaßen Vorbild war. Zurück

Es keinen klaren Ausblick bzw. Durchblick: Großmutters Haus ist mit ihr gealtert. Zurück

Das passt: Großmutter hat immer ihre Pflicht erfüllt. Das war ihre Aufgabe, ihr Lebensinhalt, das wird am und im Haus deutlich. Zurück

Das ist das einzige Mal, dass ich einen Einwand vorbringe: TICKEN ist hell – das sagt schon der I-Laut! Ein dumpfes Ticken ist zu konstruiert – das hat dieses Gedicht nicht nötig! Ich würde dumpfes einfach streichen! Zudem passt es dann besser zum Rhythmus der folgenden Zeilen: Die Zeit vergeht / Gott sei Dank / Gottgewollt. Zurück

Hier entsteht ein starker Kontrast zur bisherigen verhaltenen Stimmung, denn jetzt kommt urplötzlich Farbe und Fröhlichkeit ins Spiel: Der zu laut monologisierende Fernsehapparat! Zurück

© 2019 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.