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Textkritik: Primavera schreitet durch das Land – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Primavera schreitet durch das Land

von Heidrun Schaller
Textart: Lyrik
Bewertung: 4 von 5 Brillen

lilasamtener Duft
schmeichelt
dem Vogelsang

feucht
kriecht es
aus dem weichen Grund
der Vorjahreswiese

hungrig
summt die Hummel
ihren Befruchtungstanz

in den Knospen
klopfen
zarte Blütenblätter
zum Aufbruch

ich
Mensch
häute meine
Winterstarre
befreie
die wollenen Gefühle
zu wacher
Zartheit

© 2000 by Heidrun Schaller. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Eine zärtlich-leichte Hommage an den Frühlingsbeginn, mit viel Gespür und Erfahrung und Kenntnis und Wissen wunderbar gestaltet! Ich schätze dieses Gedicht!
Sicher: Es gibt Legionen Frühlings- und Frühlingsanfangs-Gedichte – und ich selbst kenne eine Menge hervorragender. Langweilig aber wird es nie: Denn die Gestaltung setzt den Reiz, nicht das Thema!

Die Kritik im Einzelnen

Gleich in der ersten Strophe wird das Sensorium aktiviert, gewissermaßen erweckt durch die Primavera (da will der Artikel vom deutschen Frühling nicht so recht passen): Sehen, Fühlen, Riechen in der Synästhesie lilasamtener Duft, Zartheit klingt an in Samt und schmeicheln; dass dieses Gedicht zentriert gesetzt ist und alle Satzzeichen fehlen, unterstützt diese schwebende Leichtigkeit. zurück
Die erste, langsame Bewegung findet statt: etwas kriecht feucht; genauer wird es nicht benannt. Der Schnee ist geschmolzen, die Wiesen liegen feucht. zurück
Der Tanz der Hummel wird quasi hörbar durch die Alliteration summ-humm-hun (dazu noch der doppelte u-laut in Befruchtung); Befruchtung lässt werdendes Leben bzw. Neubeginn assoziieren, der Tanz involviert Freude. Was braucht es mehr?
Beim Wiederlesen von »summt die Hummel« tauchte die entsprechende Zeile aus Jandls »Bestiarium« im Gedächtnis auf (in Schrift und Ton): »Hummummummummeln brummummummummen.« In seinem Gedicht treibt er die Lautmalerei augenzwinkernd auf die Spitze – vor allem, wenn man ihn selber seine Texte lesen hört. Ich werde ihn vermissen: mit Ernst Jandl starb ein ganz Großer! zurück
Auch hier eine feine Alliteration: Knospen-klopfen; zunächst schien mir klopfen eine zu laute Aktion der – ausgesprochen – zarten Blütenblätter, dann aber sah ich eher die Ungeduld: wenn Zartes klopft, kann das nicht laut sein, sondern allenfalls drängend: die Blütenblätter wollen raus!
Im Zusammenhang zur vorangegangenen Strophe taucht eine Frage auf: wovon ernährt sich eine Hummel, wenn es nur Knospen gibt? Als Nichtbiologe gehe ich davon aus, dass Hummeln sich mit irgendetwas aus offenen Blüten ernähren – doch genau diese Nahrungsquelle fehlt. Wecken die Hummeln mit ihren Lauten und ihrem Tanz die Blüten? Dazu gehört, dass ich Primavera die Zeitachse lang schreiten sehe, in dem Gedicht also auch eine Chronologie finde! zurück
Die Strophe fällt allein schon durch ihre Länge aus dem Rahmen: es kommt also etwas besonderes: hier ist es das lyrische Ich, das sich selbst befreit nach Empfang der Sinneseindrücke; durch die Wiederholung des zart aus der vorausgegangenen Strophe wird eine starke inhaltliche Parallele zu dieser gezogen: der Ausbruch aus der Winterstarre wird in eins gesetzt mit dem Knospen: die Selbstständigkeit des Ich ist also nur trügerisch, denn Primavera hatte ihre Hand im Spiel.
befreie die wollenen Gefühle ist eine grandiose Metapher, dazu fällt mir so viel ein, dass ich lieber gar nicht erst anfange zu schreiben: lesen und genießen und seine Gedanken, Erinnerungen und Gefühle schweifen lassen, von den mutterseitig selbstgestrickten wollenen Unterhosen bis – jetzt habe ich doch damit angefangen, dabei wollte ich eigentlich nicht; also höre ich besser hier auf! zurück

© 2000 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.