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Textkritik: Nacht – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Nacht

von Michael Bolz
Textart: Lyrik
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Nacht
Michael Bolz

Es tut noch nicht weh
Dass Du aufgehört hast
Mich zu lieben
Es tut noch nicht weh

Vielleicht aber kann ich
Es nur nicht fühlen
Weil ich dich auch
Nicht lieben kann

© 2007 by Michael Bolz. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Aufgeblasener Firlefanz
Warum veröffentlicht jemand so etwas? Ich stelle mir vor, dass derlei Ausflüsse nur aufgeschrieben werden von Menschen, die entweder überhaupt keine Gedichte lesen oder nur solche, denen sie zufällig in Hausfrauenmagazinen und 08/15-Tageszeitungen begegnen oder in Lebensratgebern. Dort ist nichts interessant: Form & Inhalt haben nichts miteinander zu tun, ausgelutschteste Floskeln stolpern wichtigtuerisch auf verkrüppelten Versfüßen herum, Liebesdefekte und Jahreszeitenkitsch fressen sich, wenn sie sich nicht gar reimen, und sollen die Gedichte ganz »modern« sein wie zu Zeiten des Sturm und Drang (grob zwischen 1760-1790, zugegeben: nach Christi Geburt), wird weltmännisch auf Reime verzichtet und werden bedeutungslastigste Zeilentrennungen kreiert: Voilà, fertig ist das Kunstwerk, drei Minuten wertvollster Lebenszeit wurden dafür ohne Rücksicht auf Verluste geopfert bzw. in die Pfanne gehauen.
Man darf seinen Liebsten, seinem Tagebuch, seinen engsten Freunden nach Seelenschmerz und Herzenslust Weisheiten und Belehrungen und Wahrheiten zusammendichten und zusammenreimen, die wissen es zu schätzen (»Ist ja rührend« oder »Der gute Wille zählt« oder »Gut getroffen« oder »Das reimt sich ja sogar«) – aber allerhöchste Obacht, wenn Liebste und Freunde und Tagebücher raten: »Mensch, mach da doch ein Buch draus« (oder heute, ganz modern: »Stell es doch ins Internet, damit es alle Menschen lesen können!«). Dass viele bedauerlicherweise auf dieses Geschwätz reinfallen, kann man im Internet nachlesen: Man suche nur einmal nach »Liebesgedicht«; da bietet Google über 230.000 Treffer an, von denen viele zudem ganze Deponien von Liebesgedichten verstecken; man kann sich sogar Liebesgedichte basteln lassen, und die sind bestimmt nicht schlechter als die eigenen Ergüsse …

Die Kritik im Einzelnen

Stimmt! Bislang ist alles eitel Sonnenschein, auch wenn das Gedicht Nacht heißen zu müssen die feste Überzeugung hegt. zurück
Jetzt bin ich aber mal gespannt, womit die Nacht noch nicht aufgehört hat: mit dem Verdunkeln? Dem Kuscheln? Dem Auspeitschen? Jedenfalls ist es nett, dass mal jemand mit der Nacht spricht! zurück
Na sowas, da bin ich aber platt: Die Nacht ist/war philantrop (ich wollte – gelahrt als ich bin – zunächst homophil schreiben, aber der Begriff engt zu sehr ein), zumindest das lyrische Ich (hier ist es Empfänger der Liebe, nicht Sender (um grammatische Missverständnisse zu verhindern)) hat sie arg lieb gehabt. zurück
Was noch nicht ist, kann immerhin werden; das wäre für die Nacht zumindest ein kleiner Trost. zurück
Jetzt wird es dank dem Enjambement erneut ungeheuer spannend: Was mag wohl folgen? Was könnte das lyrische Ich können? Der Nacht die doppelte Ration Liebe einschenken? Licht anmachen, um sie zu ärgern? Rollläden runter lassen und sie im Schlafzimmer einsperren? zurück
Logisch: Wenn das lyrische Ich Es nicht fühlen kann, kann Es auch nicht wehtun; was aber ist mit dem Über-Ich? Hat das gar nichts dazu zu sagen, z. B. »Lass endlich die Finger von der Nacht, freu dich doch, dass die geschnallt hat, dass sie dich immer viel zu finster angeschaut hat!« zurück
Was ist das für ein kümmerlich-kleines d im dich? Wo ist persönliche Anrede Du geblieben? Ist die Nacht auf und davon, also nicht mehr direkt ansprechbar? Handelt es sich gar um zwei verschiedene Ansprechpartner, nämlich ein menschlich-lebendiges Du und das Nacht-dich (oder umgekehrt)? Liebt das lyrische Ich zwar die Nacht, nicht aber den anderen Menschen (gewiss, das Du bzw. dich könnte ein Kaugummi sein, das hat sogar etwas Sinniges, da in dem Skiffle-Song Does your chewing gum lose its flavour on the bedpost over night Kaugummi und Nacht in einen engen Zusammenhang gebracht werden!)? Ich befürchte jedoch, dass hier schlicht und einfach ein Rechtschreibfehler vorliegt! Auch der – unfreiwillige – Humor, der hier anklingt (»Du mich auch!«), hülft dem Text nüscht! Und dass hier erneut via Enjambement zumindest Spannung zu erzeugen versucht wird, war zu erwarten; klappt aber irgendwie so gar nicht! zurück
Gefreut hätte ich mich, wenn die Zeile gelautet hätte: Nicht fühlen kann, denn die Nacht ist schlechterdings nicht zu begrabschen:
Vielleicht aber kann ich
Es nur nicht fühlen
Weil ich dich auch
Nicht fühlen kann

auch nicht lieben hingegen ist blödsinnig, denn die Nacht oder das Kaugummi oder das menschliche Wesen hat das lyrische Ich geliebt, sonst hätten die drei damit nicht aufhören können. Aber das steht satte 6 Zeilen vorher, und man kann sich schließlich nicht an alles erinnern, was man so im Laufe seines Lebens geschrieben hat! zurück

© 2007 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.