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Textkritik: Klosterkonzert in Bebenhausen – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Klosterkonzert in Bebenhausen

von Cornelia Lotter
Textart: Lyrik
Bewertung: 1 von 5 Brillen

Hineinhorchen
in längst verschüttete Klangräume
Zugeschüttet
mit dem Dröhnen der Bässe
dem Kreischen
der Nervensägen
dem Smalltalk der Oberflächlichen.

Heraustreten
aus meinen Befindlichkeiten
Das Wort »Bedeutung«
neu definieren
Der Geschwätzigkeit entsagen
Die Töne verfolgen,
bis sie sich am steinernen Gewölbe
brechen.

Entzweibrechen
den Panzer aus Gleichgültigkeit
den Kokon aus Selbstmitleid
das Eis der Lieblosigkeit.

Entschwinden
in uralte Zeiten,
die ich plötzlich rieche
schmecke
fühle.

Hinabtauchen
in die Stille in mir
Sie begrüßen
wie einen alten Freund
Längst vergessene Zuflucht finden
Die Augen schließen,
um wieder sehen zu können.
Dem Klang folgen
durch Zeiten
Räume
Erinnerungen.

Aufsteigen
in die Kühle der Nacht
Im Sternenlichtmantel
der Scham entsagend
Die Angst, das gefräßige Tier,
zurücklassend
Grenzen hautnah spüren,
mich daran reiben,
sie überschreiten
Vertrauen
Riskieren
Erkennen.

© 2001 by Cornelia Lotter. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Brauchbarer Anfang, katastrophales Ende: das Ziel ging unterwegs flöten – ließe sich aber wieder finden!
Dank der Autorin, die ermöglich hat, vieles für Schreibende vielleicht Brauchbare exemplarisch zu demonstrieren; deswegen reut mich die Arbeitszeit auch nicht. Und nochmals und zum wiederholten Male und immer wieder: Meine Vorschläge sind niemals die besten und einzigen: Sie dienen allein dazu, mögliche Wege zu zeigen, die beschritten werden könnten!

Die Kritik im Einzelnen

Ausgehend von der Überschrift Klosterkonzert betrachte ich den ersten Abschnitt gewissermaßen als Thema dieses Gedichtes: es klingen an Bässe, Kreischen, Smalltalk; von der Lautstärke her fällt das letzte aus dem Rahmen, entwickelt sich aber aus den Nervensägen. Schwierigkeiten bereiten mir die dröhnenden Bässe: ist das jetzt schon das Klosterkonzert, denn Orgelbässe dröhnen gewaltig (wobei allein ich für die Assoziation Orgel verantwortlich bin: vermutlich über die Kette Kloster > Kirche > Konzert > Bässe > Orgel)? Oder meint das einfallslos-basslastige Dröhnmusik funsüchtiger Gehörgeschädigter? Erinnern die Orgelbässe gar an die gesampelten?
Mich stört das zweimalige schütten, weil verschüttet und zugeschüttet durchaus nicht das Gleiche ist! Offenbar wurden die Klangräume des lyrischen Ich zugeschüttet von dreierlei: von einem Bassgedröhne (ich möchte es mal so nennen), vom Kreischen der Nervensägen und von Smalltalk; von Oberflächlichen sollten gestrichen werden, denn mir scheint es hier um Smalltalk prinzipiell zu gehen, egal ob von Oberflächlichen oder Tiefbohrern!
Um das falsch gedoppelte schütten zu vermeiden, möchte ich verschüttete Klangräume durch vergessene Klangräume ersetzen; die sind vergessen worden, weil sie zugeschüttet wurden und darum nicht mehr zugänglich waren. Mir ist klar, dass ich hier tief eingreife, aber das letzte Wort hat sowieso die Autorin: es ist schließlich ihr Gedicht und soll das auch bleiben. Mein Vorschlag:
Hineinhorchen
in vergessene Klangräume
zugeschüttet mit
Bassgedröhne
Nervensägen
Smalltalk
Zufrieden bin damit noch lange nicht: zwar hätte auch die Form gewonnen: die drei Themen sind auf jeweils 1 Wort reduziert, das reicht, denn das lyrische Ich braucht sich nicht lange mit den Umständen auseinander setzen und sie erläutern; es nähme sichtbar sogar vorweg, was erst in der folgenden Strophe anklingt: Bedeutung neu definieren (dazu später mehr); das Kreischen habe ich entfernt, weil es bei Sägen automatisch hörbar wird (wohingegen singende Sägen doch eher überraschen; habe mich letztes Jahr bei einem Straßenmusiker in Wien wieder einmal daran erfreuen dürfen).
Doch ärgert mich, dass Smalltalk nur zwei Silben hat, während die anderen beiden Themen jeweils vier aufweisen! Smallgetalke wäre zu sehr Karikatur (es sei denn, ironische Distanz wäre in diesem Gedicht durchgängig, das ist aber nicht der Fall), Wortgewäsche gehörte eher zum Dummschwätz eines Einzelnen, WortgeklingelWortgeklingel? Passte zwar wegen –geklingel wunderbar in den Klangraum, hat aber ebenfalls nichts mit der Kommunikationssituation von Smalltalk gemein, ist eindimensional (Politikerreden, Texte in dem zurecht berüchtigten sehr pseudowissenschaftlichen Fachjargon); Wortgeplänkel wiederum hat mit Streit um Worte zu tun, wenig mit Smalltalk. Nein: ich finde hier und auf die Schnelle keine Lösung! Vielleicht wird dafür deutlich, was Dichten für eine Knochenarbeit ist bzw. sein sollte, wenn man es ernst nimmt!
Ob diese Zeileneinteilung durchzuhalten ist, ob daraus eine Gedichtstruktur sich entwickeln lässt, vermag ich noch nicht abzusehen. zurück
Das darf aus zwei ganz wichtigen Gründen nicht heraustreten heißen: 1.) Wenn jemand irgendwo drin ist, kann er nur hinaus; nur als Außenstehender kann ich sagen, dass das lyrische Ich aus seinen Befindlichkeiten heraustreten will! 2.) Das Gedicht hat vier Richtungen: Hinein, Hinaus, Hinab, Hinauf (da steht bislang lediglich auf, das sollte aber nicht so bleiben). Das lyrische ich ist (noch) drinnen und will irgendwo hin: dann soll es das auch, und es muss sichtbar werden! zurück
Ich würde aus meinen Befindlichkeiten kürzen und meinen streichen, denn in dem gewünschten hinaustreten wird deutlich, dass es die eigenen sind. Dieser Spagat war nur nötig wegen des falschen heraustreten.
Die drei Themen waren (in dieser Reihenfolge): Billigmusik, Penetranz, Smalltalk. In welche Richtung soll hinausgetreten werden? Bedeutung, Zurückhaltung, Töne. Die Reihenfolge scheint genau umgekehrt, die beiden Reihen werden umrahmt durch die Musik (Klosterkonzert). Soweit ist das gelungen, es treten aber inhaltliche Probleme auf:
Das Wort »Bedeutung« muss keineswegs neu definiert werden, es kann nur darum gehen, die eigentliche Wortbedeutung zu finden, zu suchen, aufzusuchen, wieder zu finden, auszugraben usw. usw.: hier wage ich keinen völlig ernst zu nehmenden Vorschlag; der wäre in jedem Falle problematisch, denn beim so genannten Smalltalk werden eigentlich keine Inhalte ausgetauscht, sondern geht es vorwiegend um Befindlichkeiten und Hierarchien (genau wie bei Begrüßungsfloskeln und sonstigen Beziehungsritualen): insofern ist ein Suchen nach Inhalten nicht unbedingt der Gegenpol zum Smalltalk.
Das Gedicht stellt die Geschwätzigkeit gegen die Nervensägen; das ist soweit in Ordnung, auch wenn es sehr wortkarge Nervensägen gibt; aber warum heißt es entsagen? Ist Geschwätzigkeit wirklich so des Teufels und man so von ihr besessen, dass ihr entsagt werden muss? Reichte ein vermeiden z.B. nicht aus (das beinhaltet beides: eigenen Verzicht und Aus-dem-Weg-gehen)?
Dem temporeichen Bassdröhnen ein langsames Verfolgen von Tönen entgegen zu setzen ist auf Anhieb einleuchtend; das steinerne kann entfallen, denn kein Mensch denkt bei Gewölbe an Polyvinylchlorid oder Holz!
Zur Form bieten sich spontan zwei Möglichkeiten: für jeden Gegenpol entweder 1 Langzeile oder 2 kurze; allerdings gefällt mir sehr die formale Unterstützung des langsamen Verfolgens durch mehrere Zeilen in der Vorlage; und da in der ersten Strophe nach der Überschrift zwei Zeilen zu den verschütteten Klangräumen folgen, so kann die zweite Strophe ebenfalls mit dem zwei Zeilen zum Klangraum enden; ich wage folgenden Versuch:
Hinaustreten
aus Befindlichkeiten
Wortbedeutungen wieder finden
Geschwätzigkeit zurück lassen
Tönen folgen, bis sie am
Gewölbe brechen
Ich betone nochmals: inhaltlich stellt mich das nicht zufrieden (s.o.), formal könnte ich mich damit anfreunden, zumal die Strophenlängen jetzt auch noch identisch sind. Dass ich auch die letzten beiden Zeilen stärker verändert habe, hat mit der rhythmischen Gestaltung zu tun: die beiden vorhergehenden Zeilen sind sehr unruhig, durch die beiden letzten Zeilen läuft jetzt ein gleichmäßigen Trochäus, was die Ruhe und die Langsamkeit des Töne-Verfolgens unterstützt (deswegen auch folgen; verfolgen klingt sehr nach Action-Filmen…) zurück
Diese Strophe würde ich ersatzlos streichen!
Erstens lassen sich die drei genannten Defizite so nicht nebeneinander stellen: Gleichgültigkeit schließt sowohl Selbstmitleid als auch Lieblosigkeit aus, während Selbstmitleid durchaus zu Lieblosigkeit gegenüber anderen führen kann.
Zweitens werden diese drei angezogen: mit Panzer, Kokon und Eis(panzer) und zusätzlich miteinander verkitscht: das stört ungemein und bringt nichts außer Befremden! Was soll dieser angeschwollene So-ist-es-Moralapostel-Zeigefinger? Lassen wir doch die Befindlichkeiten des lyrischen Ichs auf sich beruhen: jeder hat seine eigenen, aus denen hinauszutreten sich immer wieder gewisslich und fürwahr lohnt!
Drittens haben diese drei Befindlichkeiten nur ganz, ganz allgemein mit den in der ersten Strophe angespielten Themen zu tun! Nein, nein und dreimal nein: weg mit dieser Strophe, ganz weg und gar weg, und beim Thema bleiben! zurück
Auch diese Strophe würde ich ersatzlos streichen: Was sollen das für uralte Zeiten sein? Etwa die in der Romantik gesuchte Einheit mit allem? Und warum sind da nur drei Sinne beteiligt? Wo ist der Bezug zum Thema? Gewiss fängt auch diese Strophe mit »ent« an wie die von mir bereits verworfene, und sowieso spräche nichts dagegen, mitten ins Gedicht ein Strophe mit anderem Beginn zu platzieren: das müsste dann aber Sinn machen! Diese Strophe stört nur, denn sie verwendet ausgeleiertste Symbolik in ausgeleiertsten Bezügen: 08/15-Breitreifen-Kitsch. Weg damit! zurück
Jetzt taucht das Gedicht noch tiefer in den Kitsch hinab! Wohin denn hinabtauchen, wenn nicht in sich selbst? Warum die Stille nur begrüßen wie einen alten Freund: ist sie denn kein alter Freund, muss das lyrische Ich so tun als ob? Und was gibt es in diesem Gefühlssumpf an vergessener Zuflucht außer dem alten Freund noch? Das schmalzt alles ach so herrlich ach so schön, Herzilein möcht herzen gehn! zurück
Spätestens seit dem ollen Oidipos gehört derlei Erkenntnis zum Standardrepertoire jedes Lebenshilfebreviers und sonstiger Sprüchesammlungen. Jeder im abendländischen Sprachraum kennt sie! Warum muss dieser alte Quark hier aufgetischt werden? Darum:
Das Gras ist grün, die Erde rund, Banane krumm, Salat gesund: das muss immer wieder mal gesagt werden, sonst weiß das ja keiner! Alle verschließen die Augen vor diesen Wahrheiten, weil sie glauben, sie nur so sehen zu können. Ach, es ist ein Elend sondergleichen mit den Augen: wie man’s macht, ist es verkehrt! »Wohin ich immer sehe, wie weh, wie weh, wie wehe!« (frei nach Faust, V.3612f) zurück
Oben wurde Töne verfolgt, jetzt wird dem Klang gefolgt, der offenbar als Echo des Brechens innerlich weiterwirkt, selbstverständlich durch Zeit und Raum und Erinnerung: Scotty, übernehmen Sie: total recall!
Die drei glorreichen Begriffe haben nichts mit den Eingangsthemen zu tun, und vor allem meinen sie sich auch nicht (wollte vorhin sich nicht jemand um Wortbedeutungen bemühen? Hier wäre jemandes Hilfe förderlich und dringend höchstnotwendig!), abgesehen von unter Umständen vielleicht beinahe ansatzweise und unter größtem Vorbehalt: die Erinnerung – aber die wurde freventlich an die uralten Zeiten genagelt (siehe vorhergehende Strophe), fällt also totaliter aus dem Raumrahmen.
Was tun (Lenin)? Mir tut es eigentlich schon Leid um dieses Gedicht, es begann doch ganz brauchbar; sicherlich ließe sich irgendwie retten:
Hinabtauchen
in Erinnerung
begrüßen
Stille
den alten Freund
Geborgenheit
Aber hat das noch was mit der Vorlage zu tun? Ich spinne hier einfach den angefangenen Faden weiter: das ist höchst billig, denn es ist nach wie vor nicht mein Gedicht, nicht einmal die Einfälle stammen von mir;
Ich nehme den in meiner Verbesserung von Strophe 1 angefangene Faden wieder auf: zunächst die Bewegungsrichtung. Dann zwei Zeilen, die den Bewegungsraum bzw. die Bewegungsrichtung kennzeichnen (deswegen kein Artikel bei Erinnerung!), dann zur Themenfolge der ersten Strophe (Billigmusik, Penetranz, Smalltalk) die Parallelführung: Stille, alter Freund, Geborgenheit (wobei die letzten beiden sich vermutlich auch vertauschen ließen, aber hier hat das Original Vorrang); Länge ebenfalls 5 Zeilen, dazu entsprechen die letzten drei Zeilen in der Anzahl ihrer Silben denen der ersten Strophe. zurück
Zu Beginn habe ich bereits dafür plädiert, dass diese Strophe aus inhaltlichen und formalen Gründen mit Hinaufsteigen beginnen muss! Und ich wiederhole das jetzt. Zudem würde ich sie nicht besonders hervorheben (wie es das Original durch die zusätzliche Einrückung vormacht – sofern das nicht ein Übermittlungsfehler gewesen ist): Hoffnung richtet sich üblicherweise nach oben, und damit hört das Gedicht zu Recht auf! zurück
Es ist wieder das Gleiche: es wird herumposaunt (=Dröhnen der Bässe), an Lesernerven gesägt (Kreischen der Nervensägen) und flaches Zeug erzählt (= Smalltalk der Oberflächlichen): Die Angst zurücklassend!!! Wo war denn bislang von einem Angsttier, einem wahrhaft gefräßigen noch dazu, die Rede? Betretenes Schweigen! Oder von Grenzen? Immerhin sind in zumindest drei Richtungen ohne Reibereien dank der Musik völlig selbstverständlich die Grenzen überschritten worden! Oder von Scham – der zu entsagen nebenbei erneut nach feierlich gelogenem Gelöbnis stinkt: denn entsagen hat schon im Hinblick auf Geschwätzigkeit überhaupt nicht funktioniert, wie man an allen vier nach diesem Gelöbnis entstandenen Strophen feststellen kann, durch die der Leser mit Kitschgeschwätz nachgeradezu zugeschüttet wird? Eben! Und weil dem lyrischen Ich halt irgendwie plötzlich und überflüssigerweise noch auffiel, dass es so elementar menschliche Befindlichkeiten wie Angst und Scham und Grenzreibereien noch überhaupt nicht erwähnt hat, werden die jetzt aber mit Pauken und Trompeten mir nichts dir nichts und holterdipolter eifrig drangepappt, dass der Dünn(sch)leim aus allen Buchstaben trieft! Wenn dieses Verfahren sichtbares Ergebnis von Das Wort »Bedeutung« neu definieren sein soll, dann ziehe ich jedwedes Bassgedröhne allemal und jederzeit vor – und echten Smalltalk: denn da weiß ich, woran ich bin und was ich habe!
Was ist zu retten? Ich weiß nicht; formal fände ich drei Verben (wie am Ende der Strophe) nicht schlecht. Warum? Begründung: die erste Strophe hatte (in meiner Fassung) ein Partizip Perfekt und anschließend drei Nomen; die zweite ein Nomen und drei Infinitivkonstruktionen mit Nomen; die dritte wieder eine Verbform (Infinitiv statt Partizip) und anschließend drei Nomen (annähernd parallel zur ersten Strophe). Die letzte nun könnte gut auf Nomen verzichten, brauchte aber wieder Verben, da es sich bei Hinaufsteigen um eine Bewegung handelt (im Gegensatz zum Horchen in der ersten Strophe).
Ich werde jedoch keinen Versuch unternehmen: ich habe keine Lust nach Verben zu forschen, die zu den Themen taugen, denn die in der Strophe vorhandenen taugen nichts! Ich vermisse in dieser Strophe zudem jeder Bezug zum Klosterkonzert, aber der müsste unbedingt gewahrt werden (Thema Klang); ich weiß nicht, wohin hinaufsteigen: vielleicht ins Crescendo? Ist nur eine Idee, habe kein Konzert vor Ohren! Nein: das sind zu viele Unwägbarkeiten! Schließlich hat auch das lyrische Ich alle Fäden verloren oder weggeworfen oder aufgefressen und sich spontanen Einfälltigkeiten hingegeben. Das vermag ich nicht zu retten, ist eigentlich auch nicht meine Aufgabe! zurück.

© 2001 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.