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Textkritik: Karina – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

Karina

von Erika Röhrbach
Textart: Prosa
Bewertung: 3 von 5 Brillen

Karina saß auf dem Gartenzaun und langweilte sich. So, jetzt war sie also schon zwölf. Fühlte sich so alt werden an?
Gestern an ihrem Geburtstag hatte sie sich ihre Haare schwarz gefärbt. Durch ihr Ohrloch hatte sie eine Büroklammer gesteckt und sich ihre Fingernägel dunkelrot lackiert. Ihre Mutter hatte vor Schreck die Suppenschüssel fallen gelassen und ihr Stiefvater hatte ihr eine Ohrfeige verpasst. Bernhard fand es cool. Bei dem Gedanken daran musste sie schmunzeln.
»So, so, wird meine kleine Nachbarin also erwachsen.« Herr Kleine blieb mit dem Auto vor ihr stehen. Er war mindestens schon dreißig, also uralt.
»Leck mich«.
Er grinste. »Nein, doch ganz die Alte. Du sitzt hier wie bestellt und nicht abgeholt. Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?«
Sie rekelte sich gelangweilt. »Ne, danke.«
Als Herr Kleine zwei Stunden später vom Einkaufen zurückkehrte, schwang sie mit dem Gartentörchen hin und her.
Er kam auf sie zu. »Ich habe dir was mitgebracht.«
Sie war gespannt. Herr Kleine war wie ein offenes Buch vor ihr, sie kannte ihn ohne ihn zu kennen. Sie wusste, was in seinem Kopf vorging, wenn er sie sah. Er konnte sich nicht vor ihr verstecken. Sie war ja schließlich kein kleines Kind mehr.
Er griff umständlich in seine Jackentasche und holte einen Lippenstift hervor »Ich dachte, der passt ganz hervorragend zu deiner neuen Haarfarbe.«
Karina drehte den Stift vorsichtig auf. Purpurrot, wie nasse Kirschen.
Herr Kleine war etwas verlegen, wie er so vor ihr stand. Da sie auf dem Gartentor saß, war sie größer als er und blickte auf ihn herab.
»Trägt deine Frau auch so einen?« fragte sie.
»Naja …« Herr Kleine hatte es plötzlich eilig »Ich muss jetzt mal wieder … Ich bin übrigens der Markus.«
Abends vor dem Badezimmerspiegel musste Karina den Lippenstift unbedingt ausprobieren. Sie sah sich lange an. Kirschmund. Danke, Markus.Auf dem Gartenzaun lag sie auf der Lauer. Markus war in seiner Garage.
»Hast du ein neues Auto?« Sie hatte sich angeschlichen.
Er zuckte kurz zusammen. »Ja. Gefällt’s dir?«
»Nein … es ist so … grün. Ich mag lieber schwarze Autos«.
»Und rote Lippen. Steht dir gut, der Lippenstift.«
»Danke.« Sie strich an der Garagenwand entlang. Das Auto zwischen sich und ihrem Nachbarn.
Markus wurde unruhig. »O.k., weswegen bist du hier?«
»Ich … weiß nicht«, stotterte sie, »einfach so halt.«
Er sah sie an. Dann drehte er sich um und schaute, ob jemand in der Nähe war. »Würdest du für mich tanzen?« fragte er leise.
Tanzen … der hat sie doch nicht mehr alle.
»Tanzen? Ne. Ich kann meine Klamotten für dich ausziehen, aber ohne tanzen« bot sie an.
»Nein, nein!« beeilte sich Markus »um Gottes Willen. Nur tanzen. Bitte.«
Spinnt der? »Du bist ja krank!« Schnell lief sie nach Hause.
Er hatte zuerst geblinzelt.

© 2010 by Erika Röhrbach. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Spannung knistert gehörig in diesem Romanausschnitt.
Lässliche Sünden sind es, die diesen Text verunzieren, und sie sind leicht zu beheben!

Die Kritik im Einzelnen

Also: Karina ist 12 geworden und denkt nach – und wenn jemand nachdenkt, hat der offenbar Langeweile: Sonst müsste ja nicht betont werden, dass Karina Langeweile hat. Warum darf Karina dann nicht einfach auf dem Gartenzaun sitzen und nachdenken? Hinfort mit der Langeweile! zurück
Da bricht eine Ladung unfreiwilliger Komik über die Leserin beiderlei Geschlechts herein: Durch ihr Ohrloch hatte sie (…) sich ihre Fingernägel dunkelrot lackiert. Eine einfache Umstellung verhindert dieses grammatisch aufdringliche Missverständnis: Sie hatte sich ihre Fingernägel dunkelrot lackiert und durch ihr Ohrloch eine Büroklammer gesteckt. zurück
Das hört sich an, als trüge Herr Kleine ein Spielzeugauto mit sich herum … Es wäre weitaus besser, wenn er sein Auto vor ihr anhielte. zurück
Arme Karina: Sie denkt nach, sie unterhält sich – und das alles aus Langeweile! Warum darf sie sich nicht einfach mal so rekeln? Schließlich ist Herumhocken auf einem Gartenzaun in der Regel nicht allzu bequem, da schreit ein Körper von ganz allein nach zusätzlicher Bewegung! Zudem gäbe es noch ganz andere Gründe, warum Karina sich vor Herrn Kleine rekeln könnte, wie man später erfährt! Folglich sollte sich Karina besser einfach nur rekeln, und den Grund dafür dürfte sich ein Leser beiderlei Geschlechts selbst ausdenken – er wird im weiteren Verlauf dann schon sehen, ob er richtig gelegen hat! zurück
Da ist Zeit vergangen – Warum dann keinen Abschnitt machen wie später auch? Schließlich beginnt etwas Neues! zurück
Da drängeln sich gleich mehrere Fragen auf, keine wichtiger als die andere:
Was ist das Besondere an Herrn Kleine, dass er ein offenes Buch vor ihr war? Ist denn ein offenes Buch jeweils anders offen, wenn es vor, neben, hinter, über, unter, um oder in einem liegt?
Lugt hier ein umgangssprachlicher Fehler oder ein Dialekt herfür, wo vor und für immer mal wieder vertauscht werden, der Satz also korrekt lauten müsste: (…) wie ein offenes Buch für sie?
Oder ist dieses schlaffe Verb Herr Kleine war wie (…) Ursach vor all dem Missverständnis, denn alle bisherigen Fragen hätten sich nicht gestellt, hieße es: Herr Kleine lag wie ein offenes Buch vor ihr. heißa, wie man da ins Grübeln gerät, also Ausdruck von Langeweile pur, sollte man dem Erzähler einerlei Geschlechts trauen.
Ein Problem bleibt jedoch bestehen: Wieso in aller Welt ist Karina gespannt, wenn sie doch weiß, was geschehen wird, schließlich kann sie in Herrn Kleine lesen wie in einem offenen Buch?! Gespannt auf Rechtschreibfehler und unglückliche Sätze? Folge: Entweder sie war gespannt, dann müsste der Rest des Absatzes entfallen. Oder Herr Kleine war wie ein offenes Buch für sie – dann sollte das erste Sätzlein entfernt werden: für mich die eindeutig beste Lösung! zurück
Dickes Lob! Ohne überflüssige Erläuterungen, was jetzt durch Hirn und Blut der Zwölfjährigen tobt, wird Herrn Kleine schlicht zu einem Markus (und bleibt es bis zum Ende dieses Textes)! So soll es sein! zurück
Warum blickt jemand, der auf einem Gartentor sitzt, auf einen herab? Erraten! Warum also muss das nochmals betont werden: »Ey, wenn jemand auf einem Gartentor sitzt, ist er normalerweise größer als einer, der nicht auf dem Gartentor sitzt, sondern davor steht! Haste das getscheckt?« – » Echt nich, kriegste voll die Krise!« Weg mit dem Unfug! zurück
Nur eine Frage: Wieso liegt sie auf der Lauer, wenn Markus in seiner Garage war? Hat sie das nicht einfach so sehen können? Oder hat sie Markus aufgelauert, und der tauchte endlich in der Garage auf? Dann sollte das auch so zu lesen sein, z. B. »Markus erschien in seiner Garage«. Ansonsten ist das Lauern sinnlos! zurück
Nanu? Was heißt so grün? So grün wie Espenlaub? Zu grün? Warum nicht einfach nur grün, warum überhaupt? Wie wäre es mit der karinaschnippischen Art »Ich mag schwarz lieber« Das ist nicht Gravierendes, vielleicht spielt grün für Karina eine ganz besondere Rolle, was in diesem Ausschnitt nicht zur Geltung kommen kann: Es ist ja ein Ausschnitt aus einem Roman! zurück
Das Stottern ist schon im Text durch die Auflösungszeichen angedeutet, brauchte also nicht noch erläutert werden – ließe sich aber noch verstärken: »Ich … Weiß nicht … Einfach so halt.« Zudem geht es auch nicht um ein echtes Stottern, sondern um ein stockendes Sprechen. zurück
Wenn Markus Karina anschaut, muss er ihr nicht frontal gegenüberstehen, folglich ist sein Umdrehen keine lebenswichtige Information zum Verständnis des Textes, zumal er nach dem Umschauen sich auch nicht wieder zurückdreht … Es geht einfacher: Dann schaute er sich um, ob jemand in der Nähe war. zurück
Ich verstehe den Satz, aber nicht den inhaltlichen Zusammenhang: Es gab keinen Wer-zuerst-blinzelt-Wettbewerb, den Markus verloren hätte; Markus hat auch nicht zunächst (in einem anderen Sinne von zuerst) geblinzelt und dann etwas anderes getan. Dieser Satz hängt in der Luft – vermutlich müsste man den Rest des Romans kennen, um ihn zu verstehen. zurück

© 2010 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.