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Textkritik: Entlang – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Entlang

von Ilir Ferra
Textart: Lyrik
Bewertung: 5 von 5 Brillen

für C.

unserer beider Namen spurenähnliches
Glistern, winzige Funken aus Dunkel,
rieselt Myriaden von Sphären herab;
wie ein großer Fluss und still
atmest du in mein Herz hinein

© 2004 by Ilir Ferra. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Ein herausragendes Liebesgedicht, jenseits aller ausgetrampelten Pfade: es geht doch! Es lässt sich für das Immergleiche auch immer ein ganz persönlicher Ausdruck finden – Sprache ist dafür reich genug, noch auf Jahrtausende hin…
Die Stimmung in diesem Gedicht erinnert mich an Hölderlins Wunsch: Eins sein mit Allem! Hier ist der Wunsch in Erfüllung gegangen…

Die Kritik im Einzelnen

Dieses Wort beschäftigt mich, denn ich kenne es nicht; es könnte etwas Österreichisches sein – schließlich lebt der Autor dort -, aber auch mein österreichisches Wörterbuch schweigt dazu!  Finde auch nichts Brauchbares im Internet (es kann sich schließlich nicht um Zahnkrem oder eine Art Skiwachs handeln), nichts im 24-bändigen Brockhaus, wissen.de weiß nichts, die Mailbox des Autors ist zugestopft, nimmt keine Mails mehr an – da hätte ich doch Auskunft kriegen können; allein der 4-bändige Brockhaus aus Nazi-Tagen erwähnt unter »glinstern« auch noch die Schreibweise »glistern« in der Bedeutung »glitzern«: fein, so etwas Ähnliches habe ich schon vermutet, denn beim ersten Lesen verstand ich glistern als eine Kombination aus »glitzern« und »knistern«, eine Art behutsam-zärtliches Minifeuerwerk; dabei mag es auch bleiben! (Nachtrag: Vielen Dank an Bert Wendt für diesen Auszug aus dem Grimmschen Wörterbuch zu »glistern«: GLISTERN, vb. glänzen. Zur basis glis in afr. Glisis ´schimmer´u.s.w., s. Persson beitr. 877; WALDE-POKORNY 1, 626f.; vgl. glinstern. dazu auch mnd. glister(e)n, me. glistre, ne. Glister. Glisteren scintillare (in einem obd. Voc. von 1502) DIEFENBACH voc. Gloss. 330; glisteren irridare, vibrare (in einem md. voc. D. 15. jahrh.) DIEFENBACH gl. 309. 617.; als veraltet angeführt: glistern stark glänzen CAMPE 2, 404)
Zurück zum Gedicht: der Titel Entlang verweist auf Bewegung und eine Bewegungsrichtung, z.B. auf einen Spaziergang entlang eines Flusses. Unterstützt wird das Gehen durch das Adjektiv spurenähnlich. Vor meinem inneren Auge sehe ich ein Paar gehen, einen Mann und eine Frau, deren Namen helle Laute enthalten (wie glitzern und knistern und glistern): Illir und Mire z.B. Und diese Gemeinsamkeit in den Namen steht symbolisch für die innige Verbindung zwischen den beiden: es hat gewissermaßen »gefunkt«, und es funkt immer noch! zurück
Das Glistern erfährt eine nähere Erläuterung: winzige (wieder die hellen Vokale) Funken aus Dunkel wird es genannt. Unvermittelt wird ein lautlicher Kontrast gesetzt: Funken aus Dunkel (was lautlich auf die Spuren verweist). Dunkle Funken ist ein Widerspruch: solche sind eigentlich nicht sichtbar, als Funken nicht erkennbar, und diese können natürlich auch keine realen Spuren hinterlassen – aber es heißt ja auch spurenähnlich. Für mich bedeutet das: die Spuren sind für andere nicht wahrnehmbar, wohl aber für die beiden; das Dunkle, Düstere wird aufgehoben durch die winzigen Funken – da ist kein Raum für dunkle Gefühle wie Traurigkeit
Obwohl der Satz erst angefangen hat (wir betrachten die ganze Zeit nur das Subjekt!), entdecke ich hier schon eine sehr intensive Harmonie und ein großes Glück, sowohl sprachlich wie auch inhaltlich: so mag ich das! zurück
Wieder die i-Laute (rieseln, Myriaden) und das Leichte (rieseln), wieder eine Bewegung (rieseln herab) – und wieder ein starker Kontrast: das Glistern rieselt (durch) Myriaden von Sphären herab: das sind also nicht nur die acht Sphären des Ptolemäus (die das ganze damals dem Abendland bekannte Weltall umfassten), das sind wesentlich mehr: die Langsamkeit dieser Bewegung und die unvorstellbare Zeitdauer widerspiegeln die subjektive Zeitwahrnehmung des Paares: das objektiv so kurze, intensive Glück, das ewig zu währen scheint, hat hier erneut ein schönes Bild bekommen. zurück
Der Vergleich wie ein großer Fluss (dieses Wort ist die Ursache dafür, dass ich an einen Spaziergang an einem Flussufer entlang gedacht habe und denke, s.o.) steht in einem starken Kontrast zu rieseln, denn bei einem großen Fluss assoziiert man Wassermassen und Mächtigkeit, bei rieseln Weniges, das leicht und zart seinen Weg sich sucht bzw. fällt. Zwei Bedeutungen hat still (Fehlen von akustischen Ereignissen und/oder Bewegungslosigkeit), und beide Bedeutungen passen: es gibt nichts zu reden, vielleicht auch steht das Paar jetzt bewegungslos, und das lyrische Ich spürt die lebendige Stärke von der anderen Person: du atmest (Stärke und Leben) in mein Herz hinein – eine weitere Bewegung: von außen nach innen. Ein wunderschönes Liebesgedicht! zurück

© 2004 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.