Was will uns der Dichter damit sagen? Gelegentlich zu viel. Zu Klares, zu Eindeutiges lässt oft wenig Raum für die Gedanken des Lesers und für seine eigenen Bilder im Kopf.
Textkritiker Malte Bremer macht sich diesmal Gedanken und Vorschläge, wie man einem Gedicht und seiner Lesart mehr Raum geben könnte.
er (norden)
er riecht nach meer
er führt nach, und
er ist weit,
der weg
und am ende eben
dort, wo man schon
die möwen hört
er ist warm als sommer
und rau als winter
aber niemals
herbst oder frühling
ist er frei
ist er aufbruch
ist er das letzte stück land
unter meinen füßen
ist er bug
ist er plattform
da wo der kontinent endet
und ich mich dem meer entgegenstrecke
dort wo am horizont nichts als wasser ist
und weil alt ein mythos.
norden, er
Zusammenfassende Bewertung
Gute Ansätze, aber zu eng geführt und zu überfrachtet
Das ließe sich aber leicht verbessern. Wer Lyrik schreibt, sollte vor allem viel gute Lyrik lesen und daran sein Handwerk schulen.
Die Kritik im Einzelnen
Das Problem beginnt mit der Überschrift er (norden): Hier wird das Ziel einer Sehnsucht explizit genannt, der Leser bekommt also schon von vornherein eine Lesart aufgedrückt – doch die braucht er nicht: Leser jedweden Geschlechts sollten sich eigene Gedanken machen können! Schließlich ist es egal, ob der reale Norden gemeint ist … Es ist also eine anderer Titel vonnöten (dazu am Ende ein Vorschlag).
Die ersten drei Zeilen beziehen sich gar nicht auf den Norden, sondern auf den Weg: das irritiert!
Das und in der folgenden Zeile darf getrost weg sowie alle Kommas am Zeilenende, denn später folgen keine mehr, sie sind auch nicht notwendig fürs Verständnis.
Durch das dreimalige er ist eine Struktur vorgegeben, die hinfort zu beachten wäre (und durchaus vorhanden ist). Es ist schön, dass er führt nach nicht weiter ausgeführt ist, denn das lässt Raum für eigene Ziele! zurück
Das und am Anfang dieser drei Zeilen kann entfallen. Gut gelungen ist das zweideutige eben: Ist es das Adjektiv, das eine Fläche meint, oder ist es das Adverb, weil es eben halt so ist am Ende des Weges? Oder beides, weil es dort eben eben ist?
So läse sich dann der erste Abschnitt:
er riecht nach meer
er führt nach
er ist weit
der weg
am ende eben
dort, wo man schon
die möven hört
Der Weg war im letzten Abschnitt zunächst beendet, es folgen Feststellungen: Darum muss er ist entfernt werden. Um die Drei-Zeilen-Blöcke einzuhalten, sollte herbst oder frühling in eine Zeile gepackt werden. Schön ist, dass der logischen Reihenfolge Sommer-Winter das rückwärtsgewandte Herbst-Frühling entgegengestellt wird und auf warm kein kalt folgt!
Das er kann nicht der Weg sein! Es kann aber auch nicht der Norden sein: Den gibt es weder als Sommer noch als Winter! Deswegen ersetze ich als durch im. Aus klanglichen Gründen tausche ich oder durch ein weiters niemals – wer will, kann das ja mal laut lesen.
warm im sommer
rau im winter
niemals herbst, niemals frühling
Das ist der problematischste Teil: Fünfmal heißt es ist er; es heißt da wo statt dort, wo wie im ersten Abschnitt – das wirkt im Gedicht höchst beliebig! Der endende Kontinent sowie Plattform und das letzte stück land/unter meinen füßen sind inhaltlich ähnlich – das wirkt, als sei da absichtlich Tiefsinn reingestopft! Dabei braucht es diese Wörter gar nicht …
Frei, Aufbruch und Bug hingegen geben eine Entwicklung an, z. B. eine Weiterfahrt auf dem Meer! Deswegen habe ich heftig gekürzt, und so ergeben sich erneut drei Zeilen, die sich wiederholen wie im ersten Abschnitt.
Wohin die Reise geht, hat das lyrische Ich für sich entschieden, und nur für sich! Zu diesem Zwecke habe ich auch er durch es ersetzt:
ist es frei
ist es aufbruch
ist es bug
Hier verändere ich dieses da wo des vorangegangenen Abschnitts in ein dort, wo analog zu dem im ersten Abschnitt und zu dem in der folgenden Zeile.
Ausgehend von dem ursprünglichen Titel und dem Schluss-Satz mit diesem norden frage ich mich, was denn Norden für ein Mythos sein soll? Etwa der nordische von dem Zwerg Nor∂i, einem der vier Träger des Himmelgewölbes, von denen die Himmelsrichtungen ihre Namen haben? Zudem ist ein Mythos in der Regel immer alt: Das muss nicht noch betont werden.
Stattdessen empfehle ich eine dritte Zeile, die nur noch dort, wo lautet – und damit sollte das Gedicht enden (es könnte sogar der Titel sein.) Das Gedicht wäre inhaltlich und formal rund, Leser oder Leserin wird nichts vorgeschrieben, kann stattdessen eigenen Gedanken oder Gefühlen nachgehen …
So sieht das Gedicht dann aus:
dort, wo
er riecht nach meer
er führt nach
er ist weit
der weg
am ende eben
dort, wo man schon
die möven hört
warm im sommer
rau im winter
niemals herbst, niemals frühling
ist es frei
ist es aufbruch
ist es bug
dort, wo ich mich dem meer entgegenstrecke
dort, wo am horizont nichts als wasser ist
dort, wo
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