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Textkritik: Die Verschwörung – Prosa

Textkritik von Malte Bremer

Die Verschwörung

von Max Pluta
Textart: Prosa
Bewertung: 1 von 5 Brillen

Otto legte die alte Abba-Scheibe auf und blickte durch die nikotingelben Vorhänge düster in die verregnete Straße. Dancing Queen, dancing queen, only seventeen, mein Leben ist schwanger mit einer Bedeutung, einem Kind ohne Namen, einem Monster von Sinn, vor dem die Welt erschreckt. Er nahm die fast leere Bierflasche und goss ein bisschen die Blumen, die ihre Blüten erhoben wie in der Wüste klagende Mütter ihre dürren Hände. Tod und Verderben, hier seid ihr zu Hause, irgendwo in einer grauen grausigen Großstadt in dem Teil der Erde, der Westen genannt wird. Betet! Das Ende ist nahe. Theatralisch fiel Otto auf die Knie und summte die Melodei mit, die in seine schmutzigen Ohren drang. Er warf sein langes Haar in den Nacken und begann zu singen.

Der Schuss fiel um 15:45 nachmittags und unterbrach sein bescheidenes Lied. Wer war es gewesen? Es gab nur einen Mann mit Gewehr und nur ein Fenster, aus dem in dem bestimmten Winkel die Kugel abgefeuert werden konnte, die diagonal in Ottos Gehirn drang. Dennoch hörte die Polizei auf Verschwörungstheorien, die auf ein geheimnisvolles Zusammenwirken des ganzen Viertels hindeuteten. Sie ermittelte und schloss die Akten erst dreißig Jahre später. Der zuständige Kommissar wippte im hohen Alter auf seinem Schaukelstuhl und erzählte seinen Enkeln von dem weit zurückliegenden Fall, der so geheimnisvoll der Lösung harrte. Er pflegte dabei an seiner Pfeife zu schmauchen und sich an der Nase zu kratzen. Sein künstlerisch veranlagter jüngster Enkel mit tiefschwarzem Haar und Wohnsitz in Berlin machte einen Film daraus und wurde ins Fernsehen eingeladen.

© 2004 by Max Pluta. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Einzelne Lichtblicke vermögen nicht, den trüben Gesamteindruck entscheidend aufzuhellen. Dazu ist mir insgesamt viel zu unklar, worum es eigentlich geht.

Ist Otto Opfer? Handelt der Gewehrschütze in Gottes Auftrag? Welche Verschwörung ist da im Gange? Was ist das für ein Viertel? Was haben die Menschen in dem Viertel mit Otto und Otto mit den genannten zu tun? Ist Otto Haustürprediger? Zu welchem Zweck also verschwört sich da wer oder was – schließlich heißt das Geschriebene ja Die Verschwörung!? Hat sich die Obrigkeit gegen Otto verschworen, da der sie mit penetranten Forderungen nervte à la »Seid nicht mehr so böse zum Rest der Welt« oder »Lasst die Sonne scheinen, malt die Großstädte schön bunt an«?
Ich gestehe freimütig: für diese Geschichte bin ich zu dumm … Und sollte es – man kann ja nie wissen – einen Film geben, der Anlass zu diesem Text gegeben haben könnte: der wäre mir unbekannt; und egal wäre mir es darüberhinaus – ein Kritiker muss nicht alles wissen.

Die Kritik im Einzelnen

Ein Musterbeispiel für einen Anfang, wie er nicht sein soll: Ohne Veranlassung glotzt da ein Otto in eine Straße (Steht das Haus am Ende einer Sackgasse, sodass man in eine Straße sehen könnte?) – und zur grenzenlosen Überraschung dieses Mal nicht durch das ansonsten obligatorische Fenster, durch das Protagonisten allerlei Geschlechts zu Erzählbeginn sonst ihre Augen zu werfen pflegen auf die wie-auch-immere Außenwelt, sondern durch – potzblitz – nikotingelbe Vorhänge … Was nur treibt Geschichtenschreibende dazu, beständig mit diesem nervtötenden Klischee herumzufuchteln? Zu allem Überfluss schaut Otto auch noch düster – und wie zu Werthers Zeiten stimmt draußen die Natur natürlich mit ein: Die Straße, auf die er schaut, wird nämlich gerade verregnet, wie nach düster zu befürchten war. Und freilich muss Otto eine alte Abbascheibe auflegen, es gibt keine neuen. Statt eine Stimmung aufzubauen, wird sie hier mit überflüssigen Adjektiven geschreddert: eigentlich brauchte man gar nicht mehr weiter zu lesen, das kann ja eh nicht gut ausgehen … Fazit: Man streiche den Anfangssatz komplett und beginne mit dem Lied, das zunächst eine ganz andere Stimmung aufbaut! zurück
Wir befinden uns nun im Kopf des (noch namenlosen, der erste Satz ist ja entfernt worden) Protagonisten, der ziemlich eingebildet zu sein scheint, da er ein Monster von Sinn ausbrütet, vor dem die Welt jetzt schon erschreckt, obwohl sie eigentlich gar nicht wissen kann, dass da was im Gange ist … leidet der Protagonist unter Verfolgungswahn? Ist er der angekündigte Erlöser, der der Welt dermaleinst den Monstersinn FriedeFreudeEierkuchen mit einem gewaltigen Schuss Egoismus predigen will (»You’re a teaser, you turn ’em on, Leave them burning and then you’re gone, Looking out for another, anyone will do. You’re in the mood for a dance)? zurück
Jetzt müsste wegen dem gestrichenen ersten Satz Otto erwähnt werden – ein Name ist wichtig, denn dieser unterscheidet den Protagonisten von den namenlosen Personen. zurück
Alkohol ist schon seit jeher auch eine Abschottungsdroge der Armen – und dazu gehören wohl ebenso die Blumen und Otto, der zumindest noch ein Herz für seine Blumen hat; die Stimmung kippt durch den Vergleich mit den dürren Händen in der Wüste. zurück
Dachte ich bei hier noch an Ottos Zimmer mit den kaum lebendig zu erhaltenden Blumen – schließlich geht das Bier zur Neige -, werde ich jetzt rausgerissen und in irgendeine Großstadt (die sind ja auch alle irgendwie gleich, nämlich groß und grau) verfrachtet – schon wird Tor und Tür aufgerissen für die geliebten Klischees: im Dorf, in der Kleinstadt, da ist alles heileheilesegen und furchtbar lieb, aber in der grauen (da haben wir dieses abgedroschenste Großstadtanhängsel: würg! ) Großstadt, da grauselt das Böse an sich! Ich wäre weitaus lieber in dem Zimmer geblieben.zurück
Nicht genug damit, jetzt muss noch der Westen sein Fett wegkriegen: Otto leidet nämlich bedauerlicherweise im Westen vor sich hin, würde viel lieber in der Wüste leiden oder in einem ärmlichen Lehmhüttchen südöstlich von Ahváz, den Blick anklagend gen Böser Westen gerichtet, der bekanntlich an wirklich Allem Schuld ist. Tjaja, das Leben in einer grauen Großstadt im bösen Westen ist ein grausames Zuckerschlecken, das kann einen schon ganz schön fertig machen. zurück
Also: ein Weltuntergangprophet! Wieder einmal ist das Ende nahe, das ist es bekanntlich alle naslang, und irgendwann einmal in ein paar hunderttausend Jahren oder so wird tatsächlich einer dieser Weltuntergangpropheten Recht behalten haben, auch wenn dann niemand mehr da wäre, der diesem anschließend Recht geben könnte: das zumindest tröstet erheblich! Und es folgt auch die übliche Aufforderung: betet. Wer fordert hier eigentlich wen auf? Ist doch niemand da außer Otto und den Blumen! zurück
Otto übertreibt maßlos – das bedeutet ja theatralisch: doch vor wem und für wen? Will er Gott lästern? Wenn ja: warum? Wenn nein: warum dann diese Schau? zurück
Schön: die schmutzigen Ohren – denn es werden nicht nur die Ohren schmutzig gewesen sein, genauso wenig wie die Bierflasche sich ohne fremdes Zutun geleert haben wird. Otto bekommt allmählich Konturen: versiffter Alkoholiker, mit sich und der westlichen Welt unzufrieden. Überraschend die Verballhornung von Melodie: die altertümelnde Form Melodei passt in ihrer Verlogenheit zu theatralisch; so wiederholt sich die Frage: wem macht Otto hier etwas vor? Sich selbst? Erkennt er eine Verlogenheit des Abbasongs angesichts des Elends in der nichtwestlichen Welt? Begreift er, dass auch Abba zu grauer Städte Mauern nichts Buntes und Gutes hinzuzuziehen kann trotz allem beschworenen Getanze? Oder hofft er, dass Gott endlich eingreift und wie in den guten alttestamentarischen Zeiten böse Teile der Menschheit einfach ausradiert – also mindestens die grauen Städte, am besten aber den Westen? Und da Gott halt wie üblich gar nichts tut, will er ihn jetzt provozieren, indem er ihn durch Veralbern (Melodei) eines Abba-Liedes verhöhnt? Irgendwie reimt sich das allmählich zusammen. zurück
Eine weitere Kontur: langhaariger, versiffter Alkoholiker und Gottestlästerer gröhlt in kniender Gebetsstellung Abbalied. Wenn das man gut geht! zurück
Ach was? 15:45 nachmittags? Nicht 15:45 morgens? Auch nicht 15:45 abends? Ganz sicher nicht 15:45 nachts? Aber jetzt mal im Ernst, ohne Witz, ganz ehrlich: 15:45 nachmittags??? Boooaahhh!!! zurück
Ich habe nicht den geringsten Schimmer, wieso Ottos Lied bescheiden gewesen sein soll – das war es spätestens dann nicht mehr, als er laut mitgesungen hat in theatralischer Haltung und gotteslästerlicher Absicht! zurück
Blöde Frage, wird doch eh unmittelbar beantwortet – also weG wEG WEG! zurück
Beides liegt abgeschlossen in der Vergangenheit, also ist die Zeitstufe grammatisch-sprachlich einfach nur falsch! Heißen muss es: [.] aus dem in dem bestimmten Winkel die Kugel hatte abgefeuert werden können, die diagonal in Ottos Gehirn gedrungen war. zurück
Den zuständigen Kommissar gibt es nicht mehr, die Akte wurde geschlossen. Wer aber ist das denn dann, der da wippt? Na? Genau: der damals zuständige Kommissar! Geht doch. zurück
Erstaunliche Bilder penetrieren mein Hirn, wenn ich mir das konkret vorstelle: da gibt es jemanden, der wippt auf seinem Schaukelstuhl, nicht etwa mit demselben – sieht nach akrobatischer Höchstleistung aus, denn von einer Bewegung des Schaukelstuhls erfahren wir nichts . zurück
Das kann kein Mensch, auch kein Wippakrobat: an einer Pfeife schmauchen – das geht so wenig wie »an einer Pfeife rauchen«; man kann jedoch »bei einer Pfeife« rauchen oder schmauchen, dann wäre bei Ortsangabe, und der potenzielle Frühsterbler würde bei einer Pfeife liegen oder neben einem Politiker stehen … unser Kommissar muss die Pfeife schon direkt schmauchen, d.h. an ihrem Mundstück saugen, wenn er Genuss davon haben will bzw. seinen Nikotinspiegel auffrischen muss! zurück
Das hat was! Enkels Haarfarbe und Wohnsitz sind so etwas von überflüssig, dass die Nennung einfach nur noch witzig ist – ich jedenfalls musste spontan lachen: toll! zurück
Dann hat Ottos Tod ja doch noch etwas Gutes: der schwarzhaarige Enkel wird berühmt! Und vielleicht wird in dem Film ja gezeigt, wie dumm Weltungergangprediger sind, und daraus könnten willige Weltuntergangpredigeraspiranten den Schluss ziehen, dass sie das dann lieber doch lassen, und sich stattdessen im Fernseh als Astrolog verdingen, um Menschen glücklich zu machen, indem sie Sonne & Farbe in den grau verregneten Alltag bringen, und dabei auch noch ganz schön verdienen: Voilà! zurück

© 2004 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.