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Textkritik: Der Tag an dem ich wieder zu leben begann – Prosa

Eine Textkritik von Malte Bremer

Der Tag an dem ich wieder zu leben begann

von André Kandzia
Textart: Prosa
Bewertung: 1 von 5 Brillen

Was man wissen sollte, ist, dass meine Ohren sehr eng an meinem Kopf anliegen, nicht mal ansatzweise Segelohrencharakter, ja, wenn ich mich manchmal im Spiegel betrachte, finde ich sogar, dass es so aussieht, als wären sie an meinem Schädel festgetackert. Naja, das musste jetzt erst einmal gesagt werden, nicht dass ich dann plötzlich als schmuddliger Kerl abgestempelt werde, weil es ja auch immer sehr schwer ist, aus dieser Schmuddelecke wieder raus zu kommen. Auf jeden Fall ging es mir den Großteil meines Lebens ziemlich beschissen, obwohl, das stimmt wieder nicht ganz, weil diese Apathie erst mit circa 15 Jahren kam, also wäre es richtig zu sagen, dass es mir fast mein halbes Leben beschissen ging. Den genauen Grund dafür kannte ich nicht, ich fühlte mich einfach schlecht, andere protestierten, kämpften für ihre Überzeugungen, und ich saß einfach nur da, es schien mir immer alles so weit weg, so als ob das alles gar nicht hier und jetzt geschehen würde. Krieg? Was Krieg, wo Krieg. Verdammt noch mal, wo liegt den Uganda, ist das morgen? Mit 18 suchte ich zum ersten Mal einen Arzt auf, irgendwie hatte ich das Gefühl, jedem auf die Nerven zu gehen, der Schreibmaschinenkraft hinter ihrem Tresen, »Na was hat den unser Kleiner, besonders krank sieht er ja nicht aus, will wohl blau machen«, den anderen Patienten im Wartezimmer, »Suuuper, wenn das jetzt n` Privatversicherter ist, können wir noch länger warten, der sieht ja schon so aus«, und schließlich dem Arzt, »Hoffentlich hat er eine Krankheit, die in meiner Abschlussprüfung vorkam«. Ich versuchte ihm mein Problem möglichst verständlich näher zu bringen.
»Mir geht es sehr schlecht.«
»Aha, was denn genau?«
»Wie was denn genau?«
»Was für Beschwerden haben sie denn?«
»Wie ich bereits sagte, mir geht es schlecht.«
»Dann sagen sie mir doch bitte, warum es ihnen schlecht geht.«
»Hmm, ich dachte eigentlich, dass sie mir das sagen würden
»Ich glaube, wir haben hier ein kleines Verständigungsproblem.«
»Das glaube ich allerdings auch.«
Wir sahen uns stumm in die Augen.
»Also,« begann ich von Neuem, »mir ist eigentlich immer übel, ich fühle mich wie unter einer Glaskuppel, ich nehme nichts richtig war, ich höre und sehe zum Beispiel nichts so wie es ist, aber vielleicht will ich das auch einfach nicht, ich weiß es nicht.«
»Also haben sie Wahrnehmungsstörungen?«
»Vereinfacht ausgedrückt, – ja.«
»Haben sie genug Schlaf?«
»Meistens ist mir zu übel um zu schlafen.«
Das Gespräch dauerte noch etwa 10 Minuten, dann zum Routinecheck, mir fehlte absolut überhaupt nichts, »kerngesund« war ich. Besser wurde es trotzdem nicht, dann kamen die Drogen, aber auch die halfen nicht, ich war ziemlich ratlos, und dann kam dieser Tag, als ich 26 war. Ich stand vor dem Spiegel und mein linkes Ohr juckte ganz fürchterlich. Ich klappte es nach vorne und sah da, in der engen Nische zwischen meinem Kopf und meinem Ohr vier dicke eitrige Pickel, die so aussahen, als würden sie jeden Moment aufplatzen. Als ich sie genauer betrachtete, fiel mir auf, dass sie pulsierten, als wären sie eigenständige Organismen. Gegen den Ratschlag vieler Ärzte versuchte ich den untersten auszudrücken, er platzte auf, Blut und Eiter schossen heraus, und dann fühlte ich irgendetwas Festes unter meiner Haut, ich drückte weiter, bis ich etwas Weißes sah, das offensichtlich zu groß war, um durch die kleine Wunde zu passen. Ich drückte weiter, dann begann es herauszutreten, ich musste unweigerlich an eine Geburt denken, dieses feste Ding, dass sich durch eine viel zu kleine Öffnung zu zwängen versucht. Spagetthi, kleine feste Stränge, etwa fünf an der Zahl, in sich gedreht wie ein Tau, drangen hinter meinem Ohr ins Licht. Schleimig wie Eiter, umsponnen von Blut. Ich drückte weiter, ein Zentimeter, drei, vier, es wollte gar nicht mehr aufhören, je mehr davon aus der Wunde quoll, desto kleiner wurden die übrig gebliebenen Pickel, ich drückte circa eineinhalb Meter von diesem Eiterseil aus meinem Kopf. Das Endstück flutschte mit einem lauten »Plopp« heraus, wie man es vom Öffnen einer Flasche kennt. Angewidert sah ich das Ding an und fühlte mich schlagartig besser, dieser graue Schleier vor meinen Augen, diese schalldämmende Wand vor meinen Ohren, wie weggeblasen. Ich konnte wieder atmen, mir war nicht mehr schlecht, meine Gedanken waren von einer unglaublichen Klarheit. Ich bekam mein Leben in den Griff, war endlich frei, niemand konnte mir sagen, was da geschehen war, aber das ist ja auch egal. Heute lebe ich glücklich in einem Bezirkskrankenhaus, und manchmal darf ich sogar spazieren gehen. Das Eiterseil fand ich nie wieder.

© 2006 by André Kandzia. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Erzwungene Witze statt Humor, schlampig und schluderig durchgeführt.
Was als einziges wirklich gut gelungen ist, ist das Motiv der Ohren; zu Beginn wurde so viel Wert auf sie gelegt, dennoch hatte man als Leser sie bereits wieder vergessen, als sie eine entscheidende Rolle spielen. Dafür gibt es eine Brille!

Die Kritik im Einzelnen

In der Regel bin ich für das korrekte »einmal« statt dem umgangssprachlichen mal – es sei denn, man lässt Leute einfach mal so reden. zurück
Gestöhne und Gejammer oder Illustratives wie »oh, ah, igitt, naja usw.« sind eigentlich prinzipiell verzichtbar: Das musste gesagt werden ist klar genug. zurück
Warum sollte jemand mit anliegenden Ohren als schmuddeliger Kerl bestempelt werden – schließlich lassen sich sogar solche Ohren waschen? Was sind das für seltsame Äußerungen? zurück
Diese drei Wörter sagen nichts aus – sie können getrost wegfallen. zurück
Eine typische umgangssprachlich-redundante Konstruktion, da sie aus überflüssigerweise zweimal enthält: aus der Schmuddelecke raus kommen. Vorschlag: (…) sehr schwer ist, wieder aus dieser Schmuddelecke zu kommen. zurück
Was hat denn zuvor nicht gestimmt? Das ist doch wohl das erste Mal, dass etwas nicht stimmt? Streichen! zurück
Nach schlecht sollte kein Komma folgen, sondern eher ein Strichpunkt oder besser noch: ein Doppelpunkt, alldieweil ein Erläuterung folgt. zurück
Auch hier empfehle ich eine Rückführung auf das normale Super – wie das bei solchen Gelegenheiten gesprochen wird, wissen wir alle! zurück
Ebenfalls ein weit verbreiteter Fehler: In der Umgangssprache wird aus ein häufig ein n. Das heißt, der ai-Laut vor dem n wird weggelassen. Warum sollte aber nach dem n eine Auslassung markiert werden? Denn ein Apostroph kennzeichnet Auslassungen. Allerdings wurde auch kein Apostroph verwendet, der so aussieht: , sondern fälschlicherweise ein Akzent (`). Der Apostroph befindet sich übrigens auf der Tastatur links unten neben der Return-Taste! zurück
Alle drei direkten Reden sollten mit Satzeichen beendet werden! Zudem wäre es besser, sie zu klammern, da sie gewissermaßen nachgereichte Beweise sind für des Protagonisten Gefühl, allen auf die Nerven zu gehen. zurück
Das ist ein zu uralter Witz, als dass man ihn nochmals bemühen sollte – zumal man geradezu darauf wartet! Funktioniert der Dialog ohne diesen den nicht? zurück
Die direkte Rede ist fast zu Ende, jedenfalls kommen keine Anredefürwörter mehr vor – also auch keine falschen: Sage und schreibe sechs Mal (häufiger wurde ein Gegenüber auch nicht angesprochen), also immer wird der wache Leser unnötig verunsichert! Was ist denn so schwierig daran, die höflichen Anredefürwörter groß zu schreiben? zurück
Gibt es jetzt auch für Gespräch einen Routinecheck? Nein? So lese ich aber den Zusammenhang – das kommt von unvollständigen Sätzen. Hier passt diese Ellipse nicht, besser wäre: Noch 10 Minuten Gespräch, dann der Routinecheck: mit Doppelpunkt, aus oben genanntem Grund. zurück
Jetzt wird es absurd! Hat der Protagonist zumindest 1 waschechtes Stielauge, das er aus dessen angestammter Höhle entfernen und hinter das Ohr führen kann? Oder hat er Spiegel raffiniert aufgestellt, um sich diesen Blick zu ermöglichen? zurück
Zum Einen sind Nischen von Haus aus eng, das Adjektiv darf folglich getrost entfallen; zum Anderen gibt es zwischen Ohr und Kopf keinerlei Nische; das heißt einfach Ansatz, auch Furche würde ich gelten lassen, da hier die Länge eine Rolle spielt – aber Nische? Niemals! zurück
Platzen genügt, es braucht hier kein auf! zurück
Exakt diese drei Wörter waren gerade verbraucht worden; besser: Ich ließ nicht nachzurück
Obwohl es heraustritt, hat es später weder Beine noch Füße! Flüssigkeiten können zwar austreten, aber keinesfalls heraustreten – und zudem handelt es sich bei dem Weißen um keine Flüssigkeit, sondern um etwas Festes. zurück
Das Ding heißt nicht dass Ding, sondern das Ding! Und genau so heißt das zugehörige Relativpronomen im gleichen Fall. zurück
Da schickt mir jemand ein Word-Dokument – und dann findet sich solch ein dumpfer Fehler im Text! Wozu gibt es eine automatische Rechtschreibhilfe? Die kann zwar beileibe nicht alles, aber Spagetthi lässt Word niemals ohne rote Wellenlinie, so wenig wie Spagethti oder Spagehtti– es sei denn, man hätte es aus Ignoranz dem Wörterbuch höchstpersönlich als richtig aufgezwungen. zurück
Wo – bitteschön – ist hinter dem Ohr, wenn das Ohr nach vorne geklappt war? Schon wieder vergessen? Tja, so geht’s, wenn man seine Fantasie die Zügel schleifen lässt, statt selbst etwas zu erzählen. zurück
Mit Flüssigkeiten kann man schlecht spinnen – dieses Partizip will nicht passen. Das weiße Etwas könnte vielleicht blutbesudelt sein – aber nicht zu sehr, schließlich ist es ja weiß! Außerdem zu schreiben, dass diese Stränge schleimig wie Eiter sind, nachdem gerade erst Eiter herausgeschossen ist, das will nicht so recht zueinander finden. Sinnvollerweise lässt man diese sechs Wörter einfach weg, niemand wird sie ernsthaft vermissen. zurück
Und wieder wird weiter gedrückt, dabei quoll es doch schon! Wenn das schleimige Nicht-Sätzlein sowie dieses wiederholte Drücken wegfiele und nach dem letzten vollständigen Satz ein Komma folgte, könnte direkt nach ins Licht angeschlossen werden: (…) drangen ins Licht, ein Zentimeter, (…) zurück
Warum nicht! Ein Eiterseil ist zwar sehr viel dicker als ein Spaghetti, es ist auch nicht weiß, das Von-Blut-Umsponnensein ist inzwischen ebenfalls vergessen, dafür wurde ein superer Wortwitz abgesondert. Wem’s behagt …zurück
Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, folgt am Schluss jetzt noch eine ausgelutschte Pointe! Warum es nicht dabei belassen, dass es dem Protagonisten besser geht? Was ist daran so schlimm? Aber nein: Er muss im Irrenhaus geparkt werden! Falls dies die Schlampereien und Schludereien rechtfertigen sollte: Der Schuss geht nach hinten los! Wenn ein Erzähler die Ich-Perspektive wählt, sollte er sich vor dem Schreiben über den seelischen Zustand seines Protagonisten kundig machen, damit er auch aus dessen Sicht schreiben kann. Warum sollte der Protagonist im Irrenhaus sein? Wo sind seine Fehlleistungen? Wo gefährdet er Mitmenschen? Wo ist er nicht in der Lage, selbstständig zu handeln oder sich selbst zu versorgen? zurück

© 2006 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.