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Textkritik: Betrug – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Betrug

von Margarete Wandersleb
Textart: Lyrik
Bewertung: 1 von 5 Brillen

Wir fischten
zusammen im Morgentau
im
klaren Wasser des Sees
als Dein Betrug
unser Netz in Stücke riss
und mich
in den Abgrund stürzte
fingen andere mich auf
hielten mich
knüpften ein Freundschaftsband

Und doch
tauche ich
nächtens im Schlaf
im trüben Wasser des Sees
nach
Deinem Bild

© 2008 by Margarete Wandersleb. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Schon die Überschrift spricht die Warnung aus: Ja nicht weiter lesen! Ein lyrisches Ich kommt mit einer Trennung nicht zurecht und pappt verschiedene Sprachbilder zusammen, womit es noch weniger zurecht kommt.
Das stimmige Anfangsbild wird verschenkt, stattdessen wird unvermittelt hochdosierter Trennungskitsch verabreicht (Abgrund, Absturz, Auffangen, ungestilltes Sehnen trotz Betrogen-worden-Seins) – hach, jammer, Elend!

Die Kritik im Einzelnen

Bis hier haben wir ein klares Bild: Ein frischer Morgen, ein klarer See, eine gemeinsames Fischen; oder: Ein Beginn, eine klarer Blick in die Zukunft, denn beide wollen füreinander da sein, miteinander leben. Das alles liegt allerdings in der Vergangenheit. zurück
Jetzt wird die Bildebene völlig unvermittelt zerstört, indem Dein Betrug als Netzzerfetzer das Gedicht betritt. Betrug hat nichts mit Fischen zu tun. Folglich stellt sich heraus, dass es bei diesem Text in erster Linie gar nicht um ein Gedicht geht, sondern um eine mit schrägen Bildern verbrämte Schuldzuweisung: »Dein böser Betrug hat unser schönes Netz zerrissen!« Wie aber kann welcher Betrug auch immer ein Netz zerreißen? Haben sie gemeinsamen einen zu sperrigen Betrug gefischt? Hat das angefeindete Du seinen Teil des Netzes zerrissen, so dass das lyrische Ich mit dem Rest allein fischen musste? Schade um den schönen Anfang! zurück
Wie tief lag der See unter ihnen, als sie gemeinsam mit einem Netz fischten, damit das lyrische Ich auch nur die geringste Chance hat, in den Abgrund zu stürzen? Und warum stürzt es darein, wenn das Du das Netz zerrissen hat? Ist hier ein ganz anderes Netz gemeint, nämlich das, in dem man sich geborgen fühlt, z. B. das soziale? Das Zwischennetz, auch unter dem Pseudonym Internet bekannt? Hat das Du nach dem lyrischen Ich gefischt, und wir fischten zusammen ist nichts als ein Euphemismus dafür, das sich jemand jemanden geangelt bzw. an Land gezogen hat und die geangelte Person das im Nachhinein als eine gemeinschaftliche Glanzleistung betrachtet?
Es ist halt nicht so einfach, bei 1 Bild zu bleiben, wenn man vor allem eine Botschaft loswerden will – und dann kommt jede beliebige Assoziation offenbar gerade recht! Noch schaderer um den schönen Anfang!
Gelungen ist die grammatische Verschränkung des Nebensatzes mit riss und stürzte, da er zum ersten Satz gehören könnte, obwohl er zum letzten dieses Abschnittes gehört, was man aber erst beim Weiterlesen bemerkt. zurück
Falls der Abgrund jetzt doch der See sein sollte, müssen die Auffänger Seejungfrauen oder Seejungmänner sein; sollte sich der See in einen Abgrund verwandelt haben, sind das bestenfalls Trolle oder – eine Etage tiefer – allerlei Teufelszeug. Wer auch immer diesen ominösen Absturz behindert hat, sie alle knüpften jedenfalls 1 Freundschaftsband; das ist zwar dünner als ein Netz, aber immerhin geknüpft! Es existiert übrigens ein abschreckendes lebendes Beispiel dafür, was passiert, wenn sich einzelne Freundschaftsbänder zusammenrotten. zurück
Jetzt sind wir in der Gegenwart angekommen, und was geschieht? Nix Betrug, nix Abgrund! Dafür ist der See wieder See, aber inzwischen trübe geworden (da schwimmen wohl zu viele Netzteile drin), und das lyrische Ich taucht trübselig nicht nach dem Betrüger oder der Betrügerin, sondern nach dem Bild des/der Betreffenden. Wie dieses Bild in den See kommt, weiß allein der Geier, Träume sind bekanntlich Schäume. zurück

© 2008 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.