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Textkritik: Am Abend – Lyrik

Eine Textkritik von Malte Bremer

Am Abend

von Verena Gipfl
Textart: Lyrik
Bewertung: 2 von 5 Brillen

Schuhe gebunden
Zum Gehen bereit,
Auf, nur auf
Es ist höchste Zeit!

Graffiti an der Mauer
Beim Nachbarhaus,
Ich will gehen
Raus, nur raus!

Ich lieb’ dich, Conny!
Grell steht’s geschrieben.
Wie sehr können Menschen
Einander lieben?

Moosbehangen
Die Nachbarmauer,
Des Liebenden Liebe
Nur von kurzer Dauer.

Neonlicht des Abends
Grell auf meiner Haut,
Einst geliebte Conny
Durchs Fenster schaut.

Ich gehe zurück
Zu unserem Haus,
Ziehe die Schuhe
Wieder aus.

© 2005 by Verena Gipfl. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe - gleich welcher Art - verboten.

Zusammenfassende Bewertung

Gute handwerkliche Ansätze, inhaltlich banal und sprachlich einiger Verbesserung harrend

Die Kritik im Einzelnen

Bei einem Gedicht, das »Am Abend« heißt, erwartet man nicht, dass von Schuhen die Rede ist – damit wird ein Leser zunächst überrascht. Doch schon frage ich mich, ob die Person, die die Schuhe gebunden hat, sie nicht deshalb gebunden hat, weil sie zum Gehen bereit war? Schwer vorstellbar, dass jemand einfach so seine Schuhe zubindet und dann feststellt, dass er ja eigentlich auch weg gehen könnte. Immerhin: So bereit ist die Person ja noch nicht, denn sie muss aufgefordert werden, weil es höchste Zeit sei. Sie zögert also noch.
Warum wird auf die Satzzeichen am Ende der ersten und dritten Zeile verzichtet? Zumindest die beiden ersten Zeilen ließen sich auch anders lesen, nämlich dass die Schuhe höchstpersönlich zum Gehen bereit wären ohne Dazutun eines Menschen.zurück
Das lyrische Ich befindet sich also noch im Haus (denn es will »raus, nur raus!«), schaut wohl durch ein Fenster und sieht ein Graffiti – aber wo? Es steht »an der Mauer beim Nachbarhaus«. Stünde es auf der Mauer vom Nachbarhaus oder einfach auf einer Mauer, wäre alles klar. Richtig an diesem »an« ist, dass ein Graffiti an eine Mauer und Vergleichbares gesprühdost wird, sofern es gesprühdost wird.
Könnte es in der ersten Strophe noch die Verfasserin gewesen sein, die die Person zum gehen auffordert, so ist es jetzt das lyrische Ich selbst, das sich energisch auffordert, endlich in die Gänge zu kommen mit einer schönen Parallelführung zu »Auf, nur auf«! zurück
Boah, was ein Schmuckstück von Graffiti! Mit korrektem Apostrof nach lieb’!!! Ob das der oder die Conny überhaupt zu schätzen wusste/weiß? Erst heut’ hab’ ich auf einer Wand gelesen: Hauab, Basdart! Das liest sich doch gleich viel authentischer.
Sei’s drum! Es dräut also am Abend offenbar ein Liebesdrama. Und damit der Leser das merkt, kommt es »grell«. Jetzt wird’s gefährlich, denn gemeinhin sollen Graffitis auffallen, warum soll man sie sonst anfertigen? Grell ist also überflüssig; zudem wären mögliche Varianten wie So steht es geschrieben oder Es steht so geschrieben sinnvoller, da durch die biblischen Anklänge das Graffiti ins rechte Licht gerückt würde; etwas Distanz nach »auf auf« und »raus raus« wäre durchaus angebracht!
So aber folgt eine der zahllosen Fragen aller Fragen: »Wie sehr können Menschen einander lieben?« Also, wenn man MICH fragte (aber mich fragt ja keiner), würde ich antworten: Ganz schön doll, meiner Treu! Man bedenke nur das apostrophierte e nach lieb!
Schade! Die ersten beiden Strophen ließen noch allerlei Wendungen und Windungen offen, jetzt droht das Gedicht auf ausgetretene Pfade zu geraten. zurück
Jetzt rächt sich die Unentschiedenheit bei der Verortung der grell beschrifteten Mauer: Es ist durch »Nachbarmauer« ein Mischmasch entstanden aus »Nachbarhaus« und der »Mauer beim Nachbarhaus«. Wenn sie »moosbehangen« ist, haben Graffiteure und -tricen äußerst schlechte Karten, was die Haltbarkeit ihrer Werke angeht; vielleicht aber wurde ein Streifen in mühevollster Feinstarbeit entmoost und grundiert und und und – wer solche feinen Apostrophe setzt, dem ist derlei durchaus zuzutrauen!
Auf ausgetretenen Pfaden finden wir die breitgetretene Bilder: Moos = alt & ehrwürdig.und die Liebe? Richtig! Qualitativ ganz schön doll und ansonsten von kurzer Dauer. Da ham wir den Salat und dazu noch »des Liebenden Liebe« – Schauder! »Eines Liebenden Liebe bleibt Stückwerk, wenn sich nicht die des anderen hinzufügt.« hat jemand Walther von der Vogelweide übersetzt, und das wohl korrekt, denn in der Zeit waren Stabreimungen hohe Kunst!
Interessant: Gegen »kurze Dauer« spricht, dass diese Zeile als erste ein dreihebiges Metrum hat (sofern man nicht mit aller Gewalt das »von« betonen will). zurück
Besitzt der Abend das Neonlicht? Oder ist das Abendlicht wie Neonlicht? Und egal welches spiegelt sich egal grell auf lyrischen Ichs Haut? So als Widerspiegelung des grellen Graffitis? So schön die Wiederaufnahme der Motive aus anderen Strophen ist, inhaltlich findet sich keine Entsprechung.
Das setzt sich in den nächsten beiden Zeilen fort: Da wird um des Reimes Willen der Satz invertiert, weil ein Reimwort zu »Haut« gesucht wird. Schon der alte Steputat bietet für »-aut« 32 verschiedene Reimwörter an, und der Pössiger immerhin noch 90 (wenn man alle Häute weglässt) .
Wir lernen zudem, dass das lyrische Ich die Frau namens Conny nicht mehr liebt, die »durchs Fenster schaut«. Frage: wo befindet sich das lyrische Ich? Hinter Conny im selben Zimmer? Oder draußen beim Graffiti, wo es dann feststellen könnte, dass Conny aus dem Fenster schaut, aber nicht es an? Kleinigkeiten, gewiss, aber es geht bei Texten um jedes Wort.
Die letzte Strophe endete mit einem dreihebigen Metrum (was inhaltlich passt), aber in dieser Strophe haben die ersten drei Verse jeweils drei Hebungen, ohne dass ich dafür einen Grund finde, während sich »Durchs Fenster schaut« wieder mit zwei Hebungen begnügt. zurück
Einiges klärt sich jetzt: Das lyrische Ich hatte abhauen wollen, dann aber fällt sein Blick auf das eigenhändig angebrachte Graffiti, von da aus der Blick auf das eigene Haus, an dessen einem Fenster die einst geliebte Conny steht und hinaus schaut, was zur Folge hat, dass das lyrische Ich zum Haus zurück geht (es kann sich nur um ein paar Schritte handeln) und draußen vor der Tür (doch doch: es hat sich ja nicht ins Haus gewagt) die Schuhe wieder auszieht. Und das ganze trägt den Titel: »Am Abend«. Vielleicht ist damit dieses Nicht-Ende einer Nicht-Beziehung gemeint, es ist schließlich noch nicht aller Tage Abend, es kann noch ganz schön finster werden. zurück

© 2005 by Malte Bremer. Unerlaubte Vervielfältigung oder Weitergabe – gleich welcher Art – verboten.

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