Es ist sehr enttäuschend, wenn jemand, den man schätzt, einem ein Buch zum Lesen ans Herz legt – und dann beim Lesen das Gesicht immer länger wird: So geschehen bei Hisham Matars »Geschichte eines Verschwindens«.
Dummerweise hatte ich zunächst den Umschlagtext gelesen, was ich eigentlich sonst vermeide, denn der soll ja vor allem werben und nicht etwa informieren.
Demnach erzählte der »Roman von der Verschleppung eines arabischen Dissidenten – und davon, wie diese Entführung das Leben derjenigen, die zurückbleiben, für immer überschattet und verändert.«
Donnerwetter! Wer hätte das gedacht? So etwas überschattet ein Leben! Und: Arabischer Dissident – das klingt doch mordsaktuell!
Noch eins drauf setzt The Independent: »Ein Zeugnis, welch schrecklichen Preis die Unrechtsregime in der arabischen Welt den Menschen abfordern.«
Kein Wort wahr, darum geht es überhaupt nicht: Das Buch handelt von der Mannwerdung des zwölfjährigen, hoch-pubertierenden Nuri el-Afi zum 25-Jährigen – und davon, wie er seinen Vater entdecken muss, der zwar tatsächlich im 17. Kapitel verschwindet – aber ob freiwillig oder unfreiwillig, bleibt offen.
Nuri weiß nicht, was seinen Vater um- bzw. antreibt, nicht, dass der neben seiner Frau immer Nebenfrauen hatte, nicht, dass seine verstorbene Mutter gar nicht seine Mutter ist (der Leser hingegen schon, denn dem wird das durch kitschig-geheimnisvolle Andeutungen schon sehr früh aufs Brot geschmiert).
Überhaupt: Diese Sprache! Was davon aufs Kerbholz des Übersetzers geht, wäre eine eigene Untersuchung wert, lohnt sich aber bei diesem Roman nicht: Dafür gibt es Lektoren, wenn es denn einen gäbe.
Unüberschaubare Konstruktionen und pseudophilosophisches Geschwafel
Ganz sicher auf sein Kerbholz gehen unüberschaubare Konstruktionen, bei denen das erlösende Verb nach mehrfach unterbrochenen Sätzen erst ganz am Ende auftaucht, so dass man sicherheitshalber nochmals von vorne beginnt: eine grässliche deutsche Spezialität, gewiss keine englische, aber die ließe sich mühelos vermeiden.
Pseudophilosophisches Geschwafel wie »Alles und jeder, die Existenz an sich, kann [den Vater] heraufbeschwören«, redundantes Geschwätz, wenn Nuri und Mutter auf einer Terrasse sitzen und dabei »auf die stahlblaue Fläche des Genfer Sees hinaus« (S.7) sahen, als ob auf allein nicht ausreichte (und sich die Frage aufdrängt, ob man auf einer Terrasse hinaus sehen kann, schließlich ist das ja kein geschlossener Raum!).
Oder diese überflüssigen Beschreibungen, etwa die »braunrote Farbe verwitternden Laubes« (S.9)  – und ich dachte immer, verwitterndes Laub sei grün-blau … oder seltsame Adjektive: ein angeblich »eindeutiges Lächeln« (S.15) wird dann in zweieinhalb Zeilen erläutert – warum nicht gleich die Erläuterung, die gar nichts Eindeutiges hat, statt dem drögen Adjektiv?
Das schleppt sich durch den ganzen Roman: Noch keinem Buch habe ich so viele Eselsohren geknifft!
Dieser Roman schlurt vor sich hin, uninspiriert, langatmig, umständlich, langweilig – und am Ende immer kitschiger und unglaubwürdiger. Das merkt der Ich-Erzähler sogar selbst:
»Mit jeder neuen Lektüre fand ich mehr Ausschweifungen« (S.68).
Vielleicht hätte er es noch häufiger lesen müssen …
Malte Bremer
Hisham Matar; Werner Löcher-Lawrence (Übersetzung): Geschichte eines Verschwindens: Roman. Gebundene Ausgabe. 2011. Luchterhand Literaturverlag. ISBN/EAN: 9783630872452. 14,99 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Hisham Matar; Werner Löcher-Lawrence (Übersetzung): Geschichte eines Verschwindens: Roman. Taschenbuch. 2013. btb Verlag. ISBN/EAN: 9783442745999. 9,99 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Hisham Matar; Werner Löcher-Lawrence (Übersetzung): Geschichte eines Verschwindens: Roman. Kindle Ausgabe. 2023. btb Verlag. 7,99 € » Herunterladen bei amazon.de Anzeige
Sehr geehrter Herr Malte Bremer,
wenn man von einem Buch so wenig verstanden hat, wie Sie von “Geschichte eines Verschwindens” von Hisham Matar, der sollte doch zunächst stutzig werden und nicht vorschnell über seine eigenen “Fehleinschätzungen” (was “hinaussehen auf…”, stilistische Mittel oder Einordnung von Klappentexten angeht; wer hat ihnen denn eine Dissidenten-Story, einen Kolportageroman versprochen, außer andere Rezensenten, die das Buch auch nicht verstanden haben?) ein selbst-entlarvendes Zeugnis in die Welt setzen. Ihr Verriss gibt nur ein Urteil über Ihr Nicht-Urteilsvermögen oder über Ihre falsch verstandene Aufgabe als Kritiker ab. Schreiben Sie doch nicht über Bücher, die Sie so nicht erwartet haben, wenn Sie doch so gern einen ganz anderen (Dissidenten-, Kolportage-)Roman gelesen hätten.
Solche “Kritiken” kann ich nicht ernst nehmen und werde zukünftig Ihren Rat beachten, dass schwache, hingeschmierte Rezensionen über nicht verstandene Bücher nicht wert sind, gelesen zu werden. Da schaue ich zukünftig lieber von meiner Terrasse aus auf unseren See hinaus! (Ob Ihnen das passt oder nicht!)
Ursula Winkler-Schmidt