StartseiteLiterarisches LebenProblematische Schullektüre: Es geht um die Zukunft, nicht um die Vergangenheit

Problematische Schullektüre: Es geht um die Zukunft, nicht um die Vergangenheit

Wolfgang Koeppen blickt auf Tauben im Gras (Symbolbild)
Wolfgang Koeppen blickt auf Tauben im Gras (Symbolbild)

Der Roman »Tauben im Gras« ist Pflichtlektüre an einigen Schulen. Doch eine Lehrerin weigert sich, den Roman im Unterricht zu behandeln, da er rassistische Begriffe enthält. Eine Kultusministerin sieht darin kein Problem, eine Professorin schon. Anmerkungen von Bernhard Horwatitsch.

Problematische Triggerwarnungen

Gewalt, Rauchen, Alkohol, Schimpfwörter. So sieht man es auf der linken Seite oben, wenn man zum Beispiel auf Amazon Prime Filme anschaut. Das suggeriert die undifferenzierte Vorstellung, Raucher seien zugleich gewalttätig, würden ständig saufen und fluchen. Zugegeben in meinem Fall trifft das ja zu, ich prügele mich täglich fluchend durch die öffentlichen Verkehrsnetze, und endlich zu Hause angekommen, Bier aus dem Kühlschrank und Kippe in den Mund.

Aber nicht jeder Raucher neigt zu Gewalt und nicht jeder Gewalttätige raucht. Da nun nicht jeder Raucher böse und moralisch defekt ist und nicht jeder Alkoholiker zu einem unflätigen Wortschatz neigt, wird diese sogenannte Triggerwarnung problematisch. Sie diskriminiert Süchtige. Und es diskriminiert Menschen mit eingeschränktem Wortschatz.

Mit dem berühmten N-Wort ist das womöglich anders. Aber ich vermute starke Parallelen. Dass sich ein Mensch mit durch den Zufall der Natur dunkler Hautfarbe geschockt fühlt, wenn er in einem deutschen Klassiker der Literatur über hundert Mal das N-Wort liest und dazu von N-Musik die Rede ist, ist nachvollziehbar. Denn das Opfer hat immer Recht. Nicht der, der beleidigt, definiert, was eine Beleidigung ist, sondern der, der sich beleidigt fühlt.

Ein nicht unproblematischer Diskurs

Der aktuelle Diskurs über die Schullektüre »Tauben im Gras« ist daher nicht unproblematisch. Ausgelöst hat ihn eine schwarze Lehrerin, die sich geschockt fühlte und den Roman als Schullektüre verbieten lassen will. Ändern lässt sich der Roman wohl nicht mehr.

Wolfgang Koeppen, der 1906 in Greifswald geborene Autor des aktuell problematischen Buches »Tauben im Gras«, war politisch unverdächtig, kein Nazi, eher linksliberal, aber auch kein Widerstandskämpfer. Sein Roman ist im Bewusstseinsstrom geschrieben und knüpft an Werke wie »Ulysses« oder »Berlin Alexanderplatz« an. Der Roman zählt daher zu den klassischen Meisterwerken deutscher Literatur und wird bislang durchaus zu Recht an den Schulen besprochen.

Der Roman erschien im Jahr 1951, als der Jazz allgemein als N-Musik bezeichnet wurde, was damals wie heute rassistisch zu werten ist. Denn es gab natürlich genügend Weiße, die Jazz-Musik machten. Und selbst wenn nicht, ist das Wort selbst schlicht wertend. Aber in dem Roman wird ja nicht gewertet, sondern dargestellt (nicht vorgestellt). Es ist in gewisser Weise mimetisch zu sehen.

Doch wie immer bei jeder Buchlektüre von solchem Anspruch könnte man durchaus vom Autor ein empfindsameres Sprachverständnis erwarten, wenn dieser Anspruch doch sonst im Text deutlich spürbar ist.

Das Kultusministerium weist das Ansinnen zurück

Das Kultusministerium von Baden-Württemberg weist das Ansinnen allerdings zurück. Der Roman sei für den Unterricht geeignet. Er zähle zur bedeutenden deutschen Nachkriegsliteratur. Mit ihm könne man den jungen Menschen vermitteln, was Rassismus sei. »Genau dies begründet eine wesentliche Anforderung an Literaturunterricht, nämlich Literatur in ihrem jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext zu sehen«, antwortet das Ministerium.

Die Literaturwissenschaftlerin Prof. Magdalena Kißling von der Universität Paderborn hält dies dagegen für unrealistisch. Die Lehrkräfte seien oft nicht dafür ausgebildet, Rassismus in der Literatur zu erkennen: »Es gibt zu wenig Sensibilität dafür, was die Macht von Sprache ausmacht, und da werden Erfahrungsberichte zu wenig ernst genommen.« Außerdem seien entsprechende Konzepte für den Unterricht noch nicht ausgereift genug, so zitiert sie der SWR.

Was muss die Schule leisten?

Soweit die problematische Faktenlage. Junge Menschen im Alter von 17 oder 18 Jahren, die von der Professorin für zu unreif betrachtet werden, die nötige Differenzierung von Literatur und Realität nachzuvollziehen, und ein Ministerium, das darauf pocht, dass es gerade die Aufgabe der Schule sei, diese Differenzierungsfähigkeit zu lehren. Dagegen eine Professorin, die eins drauflegt: Nicht nur die Schüler, auch die Lehrer sind eigentlich unfähig. Die Lehrer verfügten nicht über die Ausbildung, Rassismus zu erkennen und die Differenz zwischen Literatur und Realität an undifferenzierte Schüler zu vermitteln.

Es kann einem schon schlecht werden dabei. Denn wie verfehlt ist dieser Diskurs. Ein Schwarzer, eine Schwarze liest hundert Mal das N-Wort in einem als genial bekannten Romans und fühlt sich völlig zu Recht schlecht dabei. Literatur darf man kritisieren. Egal ob der Roman gestern, vorgestern oder heute geschrieben wurde. Wir sind alle lebende Zeitgenossen. Wir lernen kulturelle Besonderheiten, erfahren, dass es mal eine nationalsozialistische Diktatur in Deutschland gab und dass sehr viele das gut fanden. Aber das muss man ja deswegen heute nicht mehr gut finden.

Es ist und war nicht in Ordnung

Man kann, soll und muss den Roman von Wolfgang Koeppen kritisieren, wenn er ideologisch problematische Inhalte weiter tradiert – ob gewollt oder ungewollt, weil unbewusst. Koeppen war ein Kind seiner Zeit. Das entschuldigt ihn nicht, relativiert allerdings unser Verständnis. Aber es ist nicht in Ordnung, und es war nicht in Ordnung. Und wir müssen, sollen, dürfen darüber mit aller Dissonanz streiten.

Das Problem entsteht, wenn dieser Streit zu einer formalistischen Sprachregelung wird. Dann sind wir mitten im Stalinismus und der Zensur angelangt. Und das darf auch nicht sein. Also fetzen wir uns und bleiben bei der Sache.

Die betroffene Lehrerin, die diesen Stein ins Rollen brachte, gilt es mit aller Sanftmut zu behandeln, und es ist ihr gutes Recht zu diesem Text »nein« zu sagen.

Unfähige Lehrer?

Aber in einem Federstrich Lehrer und Schüler für unfähig zu erklären, wie es die Literaturprofessorin machte, das erscheint mir viel schlimmer. Was passiert da? Was ist da mit der Bildung los?

Zensur ist immer dann verstärkt, wenn wir in einer Welt leben, der die nötige Anmut fehlt. Und dieser Mangel an Anmut ist kein natürlicher Mangel, sondern ein kulturelles und auch moralisches Defizit. Nicht Zensur, sondern den Bildungsauftrag wirklich ernst zu nehmen tut daher eher not.

So wie ich es in meiner Einleitung mit der Triggerwarnung illustrierte, gehört zur Sprache immer der Leib, und die Differenz zwischen Leib und Sprache darf man nicht vergessen.

So wurde jüngst die mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnete Lyrikerin Judith Zander Opfer eines Shitstorms, weil ein Gedicht von ihr auf Facebook scheinbar nicht den Massengeschmack traf. Sie verwendete ungewohnte Enjambements (Zeilenbrechungen) in ihrem Gedicht und spielte mit den Worten und ihrer Bedeutung. Das war einigen Lesern, die nicht gewohnt sind, Gedichte zu lesen, offenbar zu viel, und sie vermissten die Regeln der Grammatik.

Wir müssen und dürfen Regeln brechen

Nun. Regeln machen Menschen. Und Menschen machen Regeln. Wenn wir uns ändern wollen, dann müssen, sollen und dürfen wir Regeln brechen. Wir müssen, sollen und dürfen das immer kritisieren und vor allem dann, wenn es moralische Konsequenzen hat. Wenn das Prépon, das Quid deceat, das, was sich ziemt, nicht mehr funktioniert, sollten wir nicht am Alten kleben, sondern uns fragen, was sich geändert hat. Es geht um die Zukunft, nicht um die Vergangenheit.

Klar, Literatur konserviert Vergangenheit. Aber das dient uns zur Gestaltung der Zukunft. Und wenn unsere Lehrer und Lehrerinnen nicht mehr in der Lage sind, den Schülern den Unterschied zwischen früher und heute zu erklären (laut der Literaturprofessorin), dann fühle ich tiefstes Bedauern.

Entschlüsselung statt Absetzung

Schlussfolgernd stelle ich fest, dass der Diskurs über Sprache seinen Zweck verfehlt, wenn wir das durch Sprache Gemeinte nicht mehr entschlüsseln können.

Statt den Roman von Wolfgang Koeppen als Schullektüre abzusetzen (der einfache Weg), wäre es sinnvoller, den Literaturunterricht in den Schulen zu stärken. Durch mehr Zeit, mehr Gewicht.

So würde auch der Status von Literatur gegenüber den MINT-Fächern wieder an Bedeutung gewinnen, und wir würden unseren derzeitigen Mangel an Deutungsfähigkeit wieder kompensieren. Das könnte helfen.

Denn wenn wir nicht mehr deuten können, was wir sprechen, schreiben, verlieren wir alles.

Die Fähigkeit, Widersprüche und Unklarheiten auszuhalten, ist ein Teil unserer Resilienz. Wir Menschen sind alle uneindeutig. Wir sind immer mehrdeutig, vielschichtig und komplex im guten Sinne. Das ist ein wichtiger Teil der menschlichen Schönheit. Werden wir dagegen eindeutig, dann verlieren wir unsere Menschlichkeit.

Bernhard Horwatitsch

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11 Kommentare

  1. Offensichtlich ist selbst einigen (wenigen) Deutschlehreris nicht klar, was “personales Erzählen” ist: Darstellung des Denkens und Handelns aus der Sicht einer Perspektivfigur. Wenn z.B. anhand der Figur “Frau Behrend” die Intention ist, allgemeines rassistisches Fühlen, Denken, Handeln darzustellen und damit zu kritisieren, muss dieses eben “sichtbar” gemacht werden. Wenn dort “N….” steht, ist dies das Denken von Frau Behrend, nicht aber das des Autors! Mit einer Glättung durch Sprachzensur würde gerade die antirassistische Intention in Koeppens Roman völlig zunichte gemacht.

  2. Mein Urgroßvater entstammte einer Barchent-Weber-Familie, Menschen wie aus “den Webern” von Gerhard Hauptmann. Welche Literatur kann jungen Menschen also noch zugemutet werden, wenn keine Missstände mehr dargestellt werden dürfen.

  3. Hallo Herr Horwatitsch, man kann Ihren Artikel ohne zu zögern in ” die Runde “. Lehrer, Schüler und weitere Interessierte weiterreichen. Man kann auch wahlweise 1 Stunde Literatur Unterricht dazu verwenden um über die Sichtweisen von in der Vergangenheit geschriebenen Büchern zu diskutieren.
    Und, man kann einer Lehrkraft die sehr betroffen ist von Formulierungen und Meinungen respektvoll vermitteln, dass ein anderer Lehrer u. U. eben dieses Buch mit den Schülern bearbeitet.
    Schüler von ca. 17/ 18 Jahren sind nicht dumm, man kann ihnen eine persönliche sowie umfassende Problematik durchaus darlegen. Man muss es nur eben tun und den Mut, Verständnis und gegenseitigen Respekt haben für daraus entstehende Diskussionen.
    Alles in Allem, reden hilft und erweitert das Verständnis und die Sichtweise.

    • Danke. Reden auf Augenhöhe. Und genau, ich kenne junge Menschen in dem Alter die was zu sagen haben und die differenziert sind. Dummheit ist keine Altersbeschränkung und Klugheit auch nicht. Auch wenn ich oft denke, früher, als ich dümmer war, hielt ich mich für klüger. Aber das sind die Jahresringe.

  4. Vielen Dank für Ihren Artikel und die treffende Analyse. Es wäre zu wünschen, dass die betroffenen Personen und das Kultusministerium (und nicht nur diese) den Artikel lesen und verstehen …
    worauf es im Zusammenleben, bei Freiheit der Kunst, in der (Sprach-) Bildung – in einer mündigen Demokratie ankommt.
    (P.S.: Ich frage mich schon seit einiger Zeit, wenn in letzter Konsequenz von “Sprach-Diktatur” Bestrebungen einsetzen, die „Bibel“ zu verbieten oder umzuschreiben … )

  5. Sie schreiben abschließend: “Die Fähigkeit, Widersprüche und Unklarheiten auszuhalten, ist ein Teil unserer Resilienz.” Das gilt meiner Meinung auch für die klagende Lehrerin und widerspricht einem Ihrer Eingangssätze: “Denn das Opfer hat immer Recht. Nicht der, der beleidigt, definiert, was eine Beleidigung ist, sondern der, der sich beleidigt fühlt.” – Wenn sich jemand beleidigt fühlt, kann das Problem auch an und in dieser Person liegen: Mangelndes Selbstvertrauen, psychische Störungen, mangelnde Resilienz … Es ist nicht immer angebracht, jedem klagenden nach dem Mund zu reden.

    • Lieber Kay (wir kennen uns ja entfernt irgendwie), ja, ich gebe Ihnen da schon Recht. Es gibt auch Rechtsnormen darüber, was eine Beleidigung justiziabel macht und was nicht. Aber auch, oder gerade mit Menschen die traumatisiert sind (nach Jahrhunderten des Rassismus…) gilt es überrechtlich zu argumentieren. Das ist mein Humanismus-Verständnis. Vielleicht deshalb, weil ich von meinem Beruf her durch den Umgang mit benachteiligten, geschwächten Menschen sozialisiert wurde.
      Grüße Bernhard

      • Ja, das erklärt die unterschiedliche Sichtweise. Ich gehe ja eher juristisch an so eine Sache. Automatisiert, geprägt vom Hauptberuf in der Eingriffsverwaltung.
        (Klivuskante, Anthologie “Armut”. Daher kam mir Dein Name bekannt vor 😉 )
        Lieber Gruß zurück
        Kay

  6. ……. Jahrhunderte des Rassismus…….unbedingt erst mal überrechtlich argumentieren! Der positive Effekt des argumentierens ist u.a., dass man mit Glück entdecken kann, dass tief vergrabene eigene Reste von Rassismus zum Vorschein kommen können. Ich sag` mal, egal in welcher Richtung.
    Ich begleite in diesem Sinne zwei Menschen ( 0-50 J. und 0- 30 J. ). Daher mein Verständnis für die Problematik des Rassismus allgemein und im Einzelnen.

    …….. jedem klagenden nach dem Mund reden………das ist meiner Meinung nach sicherlich nicht notwendig…….. Aber……. ernst nehmen, sich Gedanken machen und offen sein.
    Rassismus ist eine schmerzhafte Geschichte, oft für alle Beteiligten, der nicht mit Theorien befriedigend beizukommen ist.

  7. Die Lehrerin Will den Oma nicht als Schule Lektüre verbieten lassen, sondern sie möchten ihn nicht als Pflichtlektüre Unterrichten müssen. Das ist ja schon mal peinlich genug, hört aber nicht damit auf, dass man die Trigger Warnung bei Amazon falsch versteht. Alles in allem kann man nur feststellen: Thema verfehlt, setzen sechs.

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