Letzte Woche sind sie bekannt gegeben worden: die fünf nominierten Bücher für den Preis der Leipziger Buchmesse 2017 in der Rubrik Belletristik.
Unser Kritiker Malte Bremer greift zu den ersten drei Titeln und macht den Buchhandelstest: Was lassen die ersten Seiten der Bücher erkennen? Will man sie weiterlesen?
Im ersten Teil geht es um eine provisorische Biografie, ein offenbar konkurrenzloses Buch und Gedichte mit Gebrauchsanweisung.
Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol
Eine Art provisorische Biografie
Ich stutze schon bei den ersten beiden Zeilen: »Nachdem ich den Namen meiner Mutter in die Suchmaschine des russischen Internets eintippte (…)«
Wie bitte? Die Russen haben ein eigenes Internet mit einer eigenen Suchmaschine? Seit wann denn das? Google liefert mir für Iwaschtschenko immerhin 237 Treffer, einige davon in »russischen Buchstaben«, darunter auch der für die Tochter so entscheidende Link, der später im Text genannt wird.
Zudem müsste es korrekt »eingetippt hatte« heißen.
Also: Eine Tochter sucht nach ihrer Mutter, weil diese das Haus verlassen hatte, als jene gerade mal 10 Jahre alt war. Von der Mutter war eine Äußerung in der Erinnerung, nämlich: »Wenn du gesehen hättest, was ich gesehen habe …«
Die Tochter will verständlicherweise mehr wissen vom Leben ihrer Mutter – und hat endlich eine Quelle gefunden im »russischen Internet«, nachdem sie zuvor »nie auch nur die Spur einer Spur« gefunden hatte.
Was macht eigentlich gute Literatur aus? Der Inhalt? Nein, denn es geht immer nur um Tod & Leid & Liebe & Schmerz usw. Es ist in erster Linie die sprachliche Gestaltung!
Und da sieht es in diesem Text mau aus, denn der liest sich eher wie ein dröger Erlebnisaufsatz, dazu kommen inhaltliche Ungereimtheiten: »Inzwischen hatte ich meine Suche längst aufgegeben.« Und dann entdeckte sie das »russische Internet«? Hatte also doch nicht aufgegeben? Hmm.
Jedenfalls war es ihr und trotz aller Bemühungen »nie in den Sinn gekommen,« nach dem Ort Mariupol zu suchen, wo ihre Mutter geboren war.
Soweit zu den Bemühungen! Und dann fragte sie sich und ihr schien und sie versprach sich nichts davon und zweifelte und geht spazieren und dann stürzten sich »riesige Wolken hungriger Stechmücken« auf sie: Meiner Treu – wollten die sie etwa fressen? Ich wusste gar nicht, dass die kannibalisch veranlagt sind, dachte immer, die weiblichen Exemplare brauchten das Blut, aber nicht für sich, sondern für ihre Brut.
Hier habe ich aufgehört zu lesen. Das ist kein »literarisches Ereignis«, wie irgendwo zu lesen war – obwohl: schließlich ist jeder Unfall ein Ereignis, zumindest für die lokale Presse.
Dieses Werk gehört bestenfalls in die Rubrik »Sachbuch«, so als eine Art provisorische Biografie.
Malte Bremer
Natascha Wodin: Sie kam aus Mariupol. Gebundene Ausgabe. 2017. Rowohlt Buchverlag. ISBN/EAN: 9783498073893
Brigitte Kronauer: Der Scheik von Aachen
Ein sprachlich-inhaltliches Feuerwerk
Die Grande Dame der deutschen Literatur hat schon eine Menge Preise auf sich versammelt – und das mit Fug und Recht! Bereits Eckhart Henscheid schwelgte seinerzeit: »Hier stellt Sprache Überraschendes mit sich an und wird, gleichsam unverhofft, jünger dabei!« (Merkur, 6/1984)
Dass das immer noch stimmt, zeigt ein Blick ins Buch: Wie hier der Unfall – nämlich der »fatale Ausflug Richtung Baumspitze« – eines Kindes namens Wolfgang eine ganze Sippe lähmt, da hinfort dieser Name nicht mehr ausgesprochen werden darf, ja sogar alle zweisilbigen Wörter vermieden werden müssen, die vorne A und hinten O enthalten wie z. B »Hofgang« oder auch nur zwei A, also etwa »Walfang« – das macht einen selbst sprachlos!
Wer um Himmels willen redet denn über Hofgang? Oder kennt dieses Wort? Das gibt es nicht einmal im Duden (25. Auflage).
Die Erzählerin wendet sich immer wieder an die Leserschaft oder kommentiert: So sei der Tod »kein Knochenmann«, sondern geformt zu einem »etwas dicken menschlichen Kind«, das »den Tag und den Frühling erstickte«.
Oder gleich der Anfang: Da fürchte sich eine Frau – behauptet die Erzählerin – und fragt, ob das sofort ins Auge springe, weil diese Frau weiß, schlank und dünnhäutig sei bis hin zu den nackten Füßen, sie also ihren Gemütszustand nicht »unter purer Fleischesbehaglichkeit« verbergen könne? Was und wie sollen jemand darauf antworten? Relativiert die Erzählerin damit die Aussagekraft ihrer Wahrnehmung?
Und dann werden wir aufgefordert, uns diese »fast magere Frau nicht als allzu ängstliches Geschöpf« vorzustellen.
Fazit: Ein sprachlich-inhaltliches Feuerwerk, das Vergleichbares nur bei Brigitte Kronauer findet: Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mitbewerber um diesen Preis da eine ernsthafte Chance hat!
Aber: Wer weiß?
Malte Bremer
Brigitte Kronauer: Der Scheik von Aachen: Roman. Gebundene Ausgabe. 2016. Klett-Cotta. ISBN/EAN: 9783608983142. 22,95 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Steffen Popp: 118
Gedichte mit Gebrauchsanweisung
Gibt es Gedichte, die einer Gebrauchsanweisung bedürfen?
Die gibt es, dank Steffen Popp! Auf so etwas mussten wir Leser lange warten, und hier bekommen wir sie endlich frei Haus!
So schreibt er höchsteigen, dass im Jahre 2016 das Periodensystem der Elemente 118 benannte, nachgewiesene chemische Elemente ausweise, dieser streng-schönen Ordnung der materiellen Grundbausteine jedoch eine unüberschaubar-verworrene Vielfalt von Gegenständen und Lebewesen, Phänomenen und Prozessen gegenüberstehe, an deren Bestimmung und Vermittlung sich Sprache abarbeitet, sie in ihren Vokabularen spiegelt und verwandelt. Ziel und Spiel seines Buches sei es also, eine »elementare« Auswahl dieser Gegenstände poetisch zu fassen!
Alles klar? Nein? Hier drei Beispiele:
Beispiel 1 aus dem Gedicht, das untergetitelt ist mit »Tritte | Küsse«:
Abrupt, an einem Schmetterlingspunkt
endet die Schiene, Zerfall übernimmt
schließ die Augen: man sieht sich
Haben Sie gemerkt, wie sich Sprache hier abarbeitet an der Bestimmung der Prozesse? Nein?
Vielleicht klappt’s ja hier: Beispiel 2 aus dem Gedicht, das untergetitelt ist mit »Monster | Rendite«:
Wuchern und Dunkel, zwei Schwestern
ein Puls. Alles wächst innen, unendlich
in einem unendlichen Pool.
Na? Dämmert’s im wuchernden Dunkel? Immer noch nicht? Also noch ein letztes Beispiel aus dem Werk mit dem Untertitel »Mutabor«:
Doku Orkus Mutabor Zickzack Tamtam
ruckzuck so sick solo Zahn Niete Cash
Fazit: Intellektuell verquastes Salbadern!
Malte Bremer
Steffen Popp; Andreas Töpfer (Illustration): 118: Gedichte (Reihe Lyrik). Taschenbuch. 2017. kookbooks. ISBN/EAN: 9783937445847. 19,90 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Na, das macht ja Hoffnung auf einen würdigen Sieger. Danke für den Text, ich habe mich gut amüsiert.
Viele Grüße
Ina Degenaar