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Dystopie oder Realität? »Eine amerikanische Familie« von Lionel Shriver

Dystopie oder Realität? »Eine amerikanische Familie« von Lionel Shriver

Lionel Shriver nähert sich heiklen Themen schonungslos. Im Roman »Wir müssen über Kevin reden« schreibt sie über eine Familie, deren Kind zum Amokläufer wird. In »Liebespaarungen« stellt sie zwei Lebenswege einer Frau mit jeweils unterschiedlichen Partnern gegenüber. »Dieses Leben, das wir haben« wirft einen mitleidlosen Blick auf eine krebskranke, chemotherapie-gebeutelte Frau und deren Ehe.

Im Jahre 2016 kam Shrivers Roman »The Mandibles: A Family, 2029 – 2047« auf Englisch heraus. Der Roman erschien hierzulande 2018 im Piper Verlag unter dem Titel »Eine amerikanische Familie«, übersetzt von Werner Löcher-Lawrence. Der englische Titel verrät im Gegensatz zum deutschen, über welchen Zeitraum sich die Familiengeschichte erstreckt.

Der Leser des Buches wird zunächst zehn Jahre in die Zukunft versetzt. Eigentlich gar nicht weit weg. Wir befinden uns inmitten einer Wirtschaftskrise. Die USA sind bankrott. Der amerikanische Dollar verliert durch eine Inflation immer mehr an Wert. Wasser, Nahrung sowie sämtliche Wirtschaftsgüter sind knapp, und der Wohlstand geht massiv zurück. Die Lage spitzt sich zu. Ein Großteil der Bevölkerung gerät in existenzielle Not. Es kommt zu Überlebenskämpfen, bei denen die archaische Natur der Menschen zu Tage tritt. Doch damit endet das Buch nicht. Abrupt folgen ein Sprung in der Erzählung sowie weitere unerwartete Wendungen, die den Roman bis zum Schluss spannend und vielschichtig machen – von der Datenspeicherung und Überwachung durch den Staat bis hin zur Entstehung eines neuen »Wilden Westens« wird vieles abgehandelt.

Eine Familie aus mehreren Generationen liefert die Hauptfiguren der Erzählung. Zwar rücken einzelne Familienmitglieder zeitweise stärker in den Blickpunkt als andere, doch die Figuren bleiben relativ leere, charakterlose Gestalten. Erzählerisch besteht der Roman größtenteils aus Dialogen, und die Figuren scheinen dem alleinigen Zweck zu dienen, dem Leser Informationen, Theorien und Meinungen durch Dialoge zu vermitteln. Die knapp 500 Seiten dicke Taschenbuchausgabe liest sich jedoch leicht und flüssig. Lediglich die Figur des Wirtschaftsprofessors wirkt allzu naiv und realitätsfern, sodass sie bisweilen nervt.

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Bücher von Lionel Shriver

Shrivers Schreibstil ist gewohnt direkt, ehrlich und ungeschönt. Ihre Romane erschrecken, überraschen und ekeln einen manchmal auch an. Und gleichzeitig amüsieren sie – Shrivers Sarkasmus sei Dank. Zudem lassen beiläufig eingestreute Details schmunzeln und machen die Lektüre trotz des ernsten Grundtenors vergnüglich. Beispielsweise die wohlüberlegten Namen der Familienmitglieder oder eine Szene, in der ein intelligentes Küchensystem sich verselbstständigt. Die Geräte, die auf unsere Smartphones folgen könnten, werden ideenreich beschrieben – auch ohne genaue Erklärungen der Autorin hat man den Eindruck, dass es genau so kommen könnte.

Es geht um den Niedergang einer amerikanischen Familie. In Shrivers Zukunft werden viele us-amerikanische Selbstverständlichkeiten umgedreht: Der Dollar ist nicht mehr die Leitwährung, ein Latino ist Präsident, Mexiko wird zum attraktiven Ziel für Auswanderer und asiatische Investoren erobern die vereinigten Staaten von Amerika. Beim Lesen verspürt man leichte Schadenfreude. Doch dass eine zukünftige Wirtschaftskrise im Zeitalter der Globalisierung nur die USA treffen wird, wirkt eher unwahrscheinlich.

Volkswirtschaftliche Zusammenhänge und insbesondere die Geldpolitik werden in den Dialogen ausführlich behandelt. Ökonomen und Ökonomie-Interessierten wird bei der Lektüre das Herz aufgehen – man möchte sich am liebsten einmischen und mit den Protagonisten diskutieren (ohne sich jedoch in den USA zehn Jahre in der Zukunft befinden zu wollen). Ob der Durchschnittsleser den durchaus gut erklärten und lehrreichen Exkursen über die wirtschaftlichen Vorgänge folgen kann und will, ist fraglich.

Shrivers düsteres Zukunftsszenario kann man satirisch verstehen und als überzogen bezeichnen. Der Roman wirft dennoch aktuelle Fragen auf. Und macht Angst. Wie wird sich unsere Erde in den nächsten Jahren verändern? Wie stark werden wir die Ressourcenknappheit zu spüren bekommen? Welche Rolle spielt der Klimawandel? Ist unser Wirtschaftssystem wirklich stabil? Wird es zu einem Kampf um unsere Besitztümer kommen? Wie schnell kann der Staat zu unserem Feind werden? Ist Shrivers Roman nicht doch real? Sind die ersten Anzeichen nicht schon zu sehen? Das Buch entführt in eine beängstigende Welt in der nahen Zukunft, es unterhält, hinterfragt aber auch unser gegenwärtiges Gesellschafts- und Wirtschaftssystem. Eine ideale Grundlage zum selbst weiterdenken.

Juliane Hartmann

Lionel Shriver; Werner Löcher-Lawrence (Übersetzung): Eine amerikanische Familie: Roman. Gebundene Ausgabe. 2018. Piper. ISBN/EAN: 9783492058216
Lionel Shriver; Werner Löcher-Lawrence (Übersetzung): Eine amerikanische Familie: Roman. Taschenbuch. 2019. Piper Taschenbuch. ISBN/EAN: 9783492314008. 14,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Lionel Shriver; Werner Löcher-Lawrence (Übersetzung): Eine amerikanische Familie: Roman. Taschenbuch. 2019. Piper Taschenbuch. ISBN/EAN: 9783492314008. 14,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel

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