StartseiteBuchkritiken und TippsDirk Mende: Miranda und die Wunderfeder – Eine literarische Wundertüte

Dirk Mende: Miranda und die Wunderfeder – Eine literarische Wundertüte

Dirk Mende: Miranda und die Wunderfeder - Buch mit SchutzumschlagWas war das? Was ist geschehen? Wohin hat uns dieses Werk katapultiert?

Wir haben uns gegenseitig aus diesem Buch vorgelesen, abwechselnd eines der 24 Kapitel (es hat aber nicht 24 Stunden gedauert, trotz der 386 Seiten).

Wir haben gelacht, waren erstaunt und glaubten uns zu erinnern (»He: Kenn’ wa doch! War so nicht Goethes Werther angezogen?«).

Wir erlebten mit und in diesem Buch Unerwartetes und Bizarres; mal betraf es die Form, dann die Sprache oder den Inhalt.

Miranda (heißt: die Bewundernswürdige), heranwachsende Tochter einer Bildungsbürger-Familie (im allerbesten Sinne) wird durch ihre Berührung mit der Wunderfeder (der Schreibfeder der Literatur, die »alles kann, was niemand kann«) in Fabel-, Märchen- und Zauberwelten entführt. Nach und nach finden sich sechs Gefährten unterschiedlichster Art und Herkunft, so dass sie schließlich zu siebt sind: Damit wäre die Woche komplett!

Irgendwie kommen sie einem bekannt vor: Gab es da nicht was Ähnliches bei »Alice im Wunderland«? Oder: Hießen der Däumling Daradiricribrifax und sein Bruder Horribilidatumtarides bei Gryphius nicht eigentlich ein bisschen anders?

Doch, aber macht nichts! Muss man auch nicht wissen, die beiden sind einfach herrlich schräg-schlau-gewitzt! Das genügt völlig.

Dirk Mende: Miranda und die Wunderfeder - Auflistung der ReferenzenZumal Dirk Mende freiwillig auflistet, wo er überall genascht hat: Auf den vorderen und hinteren Buchinnenseiten finden sich 176 Namen von bekannten und (mir) unbekannten Schriftstellern, Komponisten, weiteren Künstlern und Magazinen, und das endet mit den Worten:
»… benebst anderen Lieblingen der Vergangenheitsliteratur, die hier ihre Schatten geworfen haben und vor denen ich mich verneige, mal mehr, mal weniger tief …«

Die barocke Aufmachung des Buches passt dazu: In der Inhaltsangabe vollständig aufgelistet und später jedem Kapitel vorangestellt wird sowohl eine Vorausschau auf den Inhalt als auch Zitate, die in dem Kapitel vorkommen:

* Naturtheater * »Ich glaub, das wird der langweiligste Tag in meinem Leben!« * Welch liebliches Tal! * Miranda, ihr Vater und ihre Mutter * Die erwachende Zungenspitze * Rotes Haar, Gott bewahr! * Sommersprossen und Sternbilder * Ein Fluchalphabet von Angstarsch bis Zitterarsch * (…) Wie Hitze K zu G und T zu D schmelzen lässt *(…) (S.5)

Dirk Mende: Miranda und die Wunderfeder - Holzschnitte im Buch

Ebenso zur barocken Aufmachung gehören die vielen Stiche, die der Autor aus seiner umfangreichen Sammlung einfügt, z. B. diese »Hochprägungen« aus dem »Musterbuch B für pappene Sargverziehrungen«.

Was sich in Dirk Mendes Werk ereignet, sprengt notwendig alle Kategorien bzw. versammelt sie: Zitate, Anspielungen, Verfremdungen, Spiele mit sprachlich-formalen Strukturen – wie z. B. gleicher struktureller Aufbau von Nonsenstexten oder  Buchstabenvertauschungen, die zwar den eigentlich Sinn noch erahnen lassen, ihn aber auch ins Gegenteil verkehren können:

»Ich bin der Drahtsanwalt, Rohes Gerücht«, stellte sich ein Vogelkopf mit riesigem Hackschnabel vor. »Wo ist Verteigiger, ich mähe ihn nicht« fragte Miranda, die keinen Verteidiger sah. »Einen Verteigiger brauchen wir nicht, wir sind ein mordschrittliches Molk, Rohes Gerücht« (S.71)

Stilistisch gehört selbstverständlich dazu, dass der Erzähler höchstpersönlich auftritt, eingreift und – erstaunlich: Opfer eines seiner Geschöpfe wird!

Dirk Mende: Miranda und die Wunderfeder - Buch ohne SchutzumschlagWer sich verzaubern lassen möchte und entführen in zuvor nie gesehene Welten zu unglaublich glaubhaften Figuren und Menschen (auch das Böse hat dort seinen Platz!), dem sei diese Werk dringend anempfohlen, ja: ans Herz gelegt, damit er wie Miranda am Ende sagen kann:

»Seltsam, alles was geschieht, kennt man schon irgendwoher aus Büchern. Und was man noch nicht kennt, hat man bloß noch nicht gelesen. Ja, so wird es wohl sein!« (S.335).

PS: Den Frontdeckel des Buches ziert nicht von ungefähr ein Gingko-Blatt, denn in diesem Werk erwacht auch eine Liebe.

Zu diesem Blatt gehört folgendes Gedicht von Goethe (1815):

Ginkgo Biloba

Dieses Baumes Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie’s den Wissenden erbaut.

Ist es ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Dass man sie als eines kennt?

Solche Fragen zu erwidern
Fand ich wohl den rechten Sinn.
Fühlst du nicht an meinen Liedern,
Dass ich eins und doppelt bin?

Malte Bremer

Derzeit keine Titelinformationen vorhanden.

Weitere Beiträge zum Thema

2 Kommentare

  1. Lieber Malte Bremer,

    nicht immer bin ich Ihrer Meinung … (wäre ja auch schrecklich!) Diesmal aber vollkommen: Das ist ein fantastisches Buch. Und das würde ich mit Sicherheit auch sagen, wenn ich nicht vor fast unendlich langer Zeit mal bei Dirk Mende studiert hätte …
    Womit Sie ganz klar im Vorteil sind: Sie waren aktuell mit Ihrer Buchbesprechung, ich bin 6 Jahre zu spät dran … Aber was soll’s? So lange das Buch noch erhältlich ist, darf es auch empfohlen werden. Was ich zu sagen habe, tue ich hier: https://unruhewerk.de/dirk-mende/

    Herzliche Grüße
    Maria Al-Mana, die neben anderem auch die Texthandwerkerin ist.

  2. […] Die literarischen Zitate, die Mende dabei einbaut, kann selbst ich gar nicht alle identifizieren … Ist aber auch völlig egal, denn dieses Buch schafft sich seine eigene literarische Welt. Dafür muss man eigentlich kaum andere Literatur kennen. (Aber es schadet natürlich auch nichts …) Das sieht Malte Bremer ähnlich. Von dem (von manchen Autor/innen durchaus zu Recht gefürchteten) Kritiker des Literaturcafés stammt nämlich eine der (leider!) wenigen Rezensionen des Buchs, hier. […]

Schreiben Sie einen Kommentar

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein.
Bitte geben Sie Ihren Namen ein