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Die Rückverzauberung der Welt: Arno Geiger mit »Die Reise nach Laredo« im Literaturhaus Hannover

»Er fühlt sich jetzt besser als in der Früh, es hat damit zu tun, dass ein Mensch, wenn er gebadet ist, für einige Zeit von sich eine bessere Meinung hat.«Arno Geiger (li.) und Moderator Jan Ehlert
»Er fühlt sich jetzt besser als in der Früh, es hat damit zu tun, dass ein Mensch, wenn er gebadet ist, für einige Zeit von sich eine bessere Meinung hat.« Arno Geiger (li.) und Moderator Jan Ehlert am 25.09.2025 im Literaturhaus Hannover.

Isa Tschierschke schnappt ihren Pelikan-Füller, übernachtet im Pelikan-Viertel und schreibt zu laut bei der Lesung von Arno Geiger im Literaturhaus Hannover mit. Ins Digitale übertragen ist hier ihr Bericht von der Lesung und Buchvorstellung von »Die Reise nach Laredo«. Den Abend am 25.09.2024 moderierte Jan Ehlert.

Übernachten im Tintengraben

Seit Kurzem, genauer, seit ich Elke Heidenreichs »Altern« gelesen habe, ist meine kindliche Passion für bunte Füllerpatronen wieder erwacht. Darum übernachte ich diesmal im Pelikanviertel in Hannover mit seinem Gästehaus im Herzen des alten Firmengeländes. Nach einem langen, sportlichen Fußmarsch zur Arno-Geiger-Lesung ins Literaturhaus in der Sophienstraße lasse ich mich angenehm erschöpft auf einen Stuhl in der ersten Reihe sinken.

Tatsächlich Rosa!
»Mit Rosa hätte ich noch in der neunten Klasse nicht ankommen brauchen. Weil es nämlich in der Schule verboten war, etwas anderes als Königsblau zu verwenden.« (aus der Rezension zu Elke Heidenreichs »Altern«. Heidenreich verwendet zum Signieren übrigens immer Füller. Mit breiter Feder und elegantem Navy-Blau).

Es geht auch gleich weiter mit körperlicher Anstrengung, denn Geiger wählt als erste Leseprobe aus »Die Reise nach Laredo« die Badeszene, in der Karl V. von Spanien mithilfe einer meterhohen Hebevorrichtung nackt in die Wanne geholfen wird. Eine Rezension zu »Die Reise nach Laredo« finden Sie hier im literaturcafe.de.

»Mich interessiert der Privatmann«

»Mich interessiert der Privatmann.« So kommentiert Geiger seine Auswahl, als Moderator Jan Ehlert vom NDR ihn auf die »geballte Körperlichkeit« der Szene anspricht. Die historische Gestalt Karl V., Habsburger Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und spanischer König (mit allen Kolonien des 16. Jahrhunderts) ist so beladen mit Titeln, berühmten Begleitern und Verantwortung, dass der Mensch darunter kaum eine Chance hat, sichtbar zu werden. In Karls Reich geht die Sonne nie unter, sein Lehrer ist Erasmus von Rotterdam, sein Hofmaler Tizian und sein Onkel Heinrich VIII. von England.

»Wer bin ich?«

»Karl sei »ein Versehrter«, erklärt Geiger. Sein Körper sei zwar mit Mitte 50 »abgekämpft und verbraucht« und habe »an Bedeutung verloren«, aber diese Gebrechlichkeit bilde die Emotionen ab, die ihn in der Zeit zwischen seiner freiwilligen Abdankung und seinem Tod kennzeichnen.

Karls Mutter war Johanna die Wahnsinnige und er ist ein Leben lang besorgt, er könne auch verrückt werden. Seine Abdankung halten manche bereits als ein Zeichen hierfür. Karl zieht sich zurück ins Kloster Yuste und will etwas machen, das er nie gelernt hat: »Sich mit sich selbst beschäftigen«. Eine Geschichte, so Geiger, sei erst zu Ende, wenn die Wahrheit geschrieben sei. Also nie. Karls Autobiografie wird von Nachfolger Philipp II. sofort konfisziert.

Matthias Claudius als emotionale Inspiration

Auf seinen Touren als Papiermüllsammler, die er in »Das glückliche Geheimnis« beschrieben hat, fand Geiger einen Matthias-Claudius-Band und spürte: »Das hat jetzt mit dir zu tun«. Das Buch enthält biografische Notizen zu Karl V. und lieferte Geiger die »emotionale Inspiration« zu diesem Roman. Karl sei »ein nach Erlösung suchender Mensch« gewesen und entsagte allem, um sich vor dem Tod seiner nackten Existenz zu stellen.

Die Freiheiten der Kindheit

Was ein König nie besitzt, ist die Freiheit, ein Kind zu sein. Daher war die historische Gestalt des illegitimen Sohnes Geronimo, zur Zeit der Erzählung elf Jahre alt, ein »glücklicher Zufall« für den Autor. »Elf ist ein herrliches Bubenalter«. Geronimo weiß nichts von seiner Abstammung und lebt unbekümmert ganz im Moment. Er ist das perfekte Gegenstück zu seinem Vater, der durch ihn Unbefangenheit lernen kann. Mit dem gemeinsamen Durchbrennen beginnt für Karl »der Abstieg hinunter zur Ehrlichkeit«. Symbolisiert werde dies durch den Maulesel, den er anstatt des Pferdes reiten müsse und der natürlich eine literarische Anspielung auf Don Quijote sei.

Cervantes war Zeitgenosse Karls V.. Es ist historisch belegt, dass der König Ritterromane gelesen hat und »Die Reise nach Laredo« nimmt uns mit auf Abenteuerreise im Stil der mittelalterlichen Aventüre. Es gibt aber auch Anspielungen auf das texanische Laredo und Westernelemente. Der Wirt in der »toten Stadt« sei zum Beispiel ein Vertreter einer »durchökonomisierten Existenz«.

Das Pelikan-Tintenherz vom Hotelfenster aus.

»Angelita, c’est moi«

Ehlert fragt, ob ihm eine Figur im Roman besonders nahe sei, aber Geiger sieht in allen Personen ein Stück von sich. Ähnlich Flauberts Nähe zu seiner berühmtesten Heldin (»Mme Bovary, c’est moi«) empfinde er Angelita als besonders tragend, denn sie fordere Karl zum Tanz auf. Das Ritual des gemeinsamen Tanzes könne als »soziales Zentrum« des Romans gelten. Als Feiern von Gemeinschaft, die Karl vitalisiert und in der er auch wieder freiwillig Verantwortung übernimmt. In einer Gruppe sei es wichtig, sich zusammenzuraufen, Konsens herzustellen. Das sei letztendlich unser aller gesellschaftliche Verantwortung. Und was machen wir? »Wir klammern uns an geringere Dinge als Kaiserkronen.«

Stilecht in Königsblau.

»Ich glaube nicht an den Rückzug«

»Die Tür zum Glück geht nach außen auf«, zitiert Geiger Kierkegaard und betont, dass Karl das Glück und das Lächeln im Außen findet. Durch die Hinwendung zur Welt, nicht die Abkehr von ihr. Er lächelt, wenn Geronimo sich schier überschlägt vor Freude über den gefangenen Greif, und Geiger weist auf die gemeinsame etymologische Wurzel von »Wunder« und »Lächeln« hin. Wobei »Wunder« auch Schönheit bedeuten kann, aber nicht muss.

Was ist Schönheit?

Literatur sei dem Verborgenen verpflichtet, dem »beinahe Schönen«, wie Isabel, Karls Frau, es nennt. Nicht dem Offensichtlichen. Noch nicht einmal Albrecht Dürer kann Karl V. die Frage beantworten, was denn Schönheit eigentlich sei. Geiger drückt das Geheimnis so aus:  »Da ist etwas, eine Kraft, und ich muss es nicht verstehen«. Er glaubt daran, dass jeder Mensch mit der Fähigkeit zu Staunen und Unbeschwertheit geboren wird. Sich fallen zu lassen,  gelinge dann oft besonders gut in der Krise. Sie ist die Chance zur Metamorphose. »Ich glaube, ich bin ein ein bisschen mit der Rückverzauberung der Welt beschäftigt.« Geigers Formulierung kommt leise, fast schüchtern, als ob er etwas völlig Abwegiges sagen würde.

»Das ist eine sehr gute Frage!«

Jan Ehlert, den ich sonst als unterhaltsamen und schlagfertigen Host von EatReadSleep erlebe, zeigt sich von seiner ernsthaften Seite und ist umfassend vorbereitet. Er versorgt das Publikum mit literaturgeschichtlichen Hintergrund-Infos und wartet mit der spanischen Vorlage für Hans-Christian Andersens »Des Kaisers neue Kleider« auf. Darin kann nur ein echter Sohn das Gewand des Vaters erkennen, was im Hinblick auf Geronimos Rolle spannend ist. Schon für seine perfekte Vorbereitung gönne ich Ehlert den magischen Moment im Autorengespräch, in dem sein Interviewpartner sagt: »Das ist eine sehr gute Frage!«

Ob er selbst auch noch einmal aussteigen wolle? Geiger überlegt: »Sehnsüchte wirken stabilisierend«. Es sei aber auch eine schöne Vorstellung, irgendwann alles gesagt zu haben, was man sagen wollte und gehen zu dürfen. Im Moment neigt der Schriftsteller offensichtlich dazu, den »letzten Pinselstrich« wegzulassen. Die Geschichte müsse nicht aus sein. »Vielleicht schreibt in 500 Jahren jemand einen Roman über mich?« Er setzt hinzu: »Eine Frau vielleicht?«

Kontor-Nostalgie im alten Pelikanwerk

Die Grenzen der Verzauberung

Mein Pelikan-Füller (dunkelgrüne Patrone) fliegt bis zum Ende der Veranstaltung übers Papier. Beim leisen Kratzen der Feder fühle ich mich wieder als Schulkind. Ich bin Teil der Klassengemeinschaft und arbeite schweigend in der Geborgenheit des Schulgebäudes, während es draußen windet und regnet.

Aber als es ans Einpacken geht, bekomme ich heftig geschimpft. Was mir einfiele, so laut zu kritzeln, empört sich meine Nebensitzerin. »Das nächste Mal nehmen Sie einen Bleistift!«, bestimmt sie und kann sich kaum beruhigen, wie jemand so stören könne.

Ich bitte natürlich sofort um Entschuldigung und frage sie dann das Offensichtliche. »Warum haben Sie denn nicht gleich etwas gesagt?« »Das geht doch nicht!« Doch, das geht. Wir sind nicht in der Kirche, sondern im Künstlerhaus. Zugegeben, die Stimmung ist etwas salbungsvoll und unlocker. Das liegt am Thema und auch ein bisschen an Geigers meditativem Bass. Aber, vor allem, an der deutschen Kulturehrfurcht.

Das Publikum gehört mehrheitlich der Altersklasse an, die Zeit hat, sich morgens um zehn schon Tickets zu sichern (weshalb der Abend schneller ausverkauft ist als ich auf Facebook einen Hinweis formulieren kann). Wie ergraute Schüler:innen starren wir gemeinsam aufs Podium und erinnern an einen stummen Hofstaat. Und der, der oben sitzt, wartet womöglich darauf, dass mal jemand ruft: »Du bist ja ganz nackig!« Dann würde das Märchen endlich wahr werden.

Isa Tschierschke

Rezension des Romans

Arno Geiger: Die Reise nach Laredo

Eine Rezension von Wolfgang Tischer zu »Die Reise nach Laredo« von Arno Geiger lesen hier im literaturcafe.de »

Arno Geiger: Reise nach Laredo: Roman. Gebundene Ausgabe. 2024. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG. ISBN/EAN: 9783446281189. 26,00 €  » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
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