Spanien im Jahre 1558: Arno Geiger lässt einen abgedankten König in dessen letzter Nacht noch einmal träumen. »Die Reise nach Laredo« verknüpft eine bewegende Todesmetapher mit einem netflixartigen Wirtshausaufenthalt.
König Karl, Vorbild für Geigers Hauptfigur, gab es wirklich. Streber kennen ihn aus dem Geschichtsunterricht, die andern können es googeln oder in Rezensionen wie dieser nachlesen. Karl oder Carlos (1500 – 1558) war Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und als Karl I. der König von Spanien. 1556 trat er von allen Ämtern zurück und verbrachte die zwei Jahre vor seinem Tod in einem Palast neben dem Kloster von Yuste in Spanien.
All diese Dinge muss man nicht wissen, um den Roman zu verstehen. Arno Geiger betreibt kein historisches Namedropping. Was wir wissen müssen, teilt uns der Autor en passant mit. Arno Geiger geht es in diesem nicht einmal 300 Seiten umfassenden Roman um etwas anderes: »Der Mensch ist das, was ihm bleibt, nachdem er alles verloren hat.« Wer oder was ist man dann? Diese Frage stellt sich Karl, und Geiger lädt die Lesenden ein, sie sich selbst zu stellen, denn »in jedem Menschen stecke ein zurückgetretener König«.
Zum Glück ist Arno Geiger nicht Paolo Coelho und »Die Reise nach Laredo« kein verkappter Lebenshilferatgeber.
Arno Geiger zeichnet einen König Karl a. D., der mürrisch, fett und hässlich ist. Ein Mensch, vom Laudanum zerfressen, der kaum mehr gehen kann und in Spanien auf seinen Tod wartet. Mit 58 war man damals ein »alter Sack«. In der fulminanten ersten Szene des Romans wird der dicke König mit einem Seilzug in einen Badezuber auf dem Hof abgesenkt, weil er allein keine Wanne mehr besteigen kann. Aber der König stinkt und muss gereinigt werden.
Nicht nur Karl wartet auf seinen Tod, sondern auch die vielen Angehörigen seines Hofstaates, die mit ihm nach Spanien ziehen mussten. Nicht selten drehen sich ihre Gespräche darum, was sie denn machen, wenn das hier vorbei ist. Gelegentlich klingt das, als unterhalten sich die Mitarbeiter eines insolventen Unternehmens.
»Die Nacht ist lang, das Leben ist kurz«, heißt es auf Seite 49 als Geiger den König nach dem Bad erzählerisch ins Bett bringt. Nun beginnt eine Traumsequenz, die bis Seite 250 geht und somit den Großteil des Buches einnimmt. Es ist die titelgebende »Reise nach Laredo« und, es ist für Karl die überträumte Reise in den Tod.
Karl kann im Traum wieder laufen und reiten. Zusammen mit seinem bei ihm lebenden unehelichen Sohn Gerónimo macht er sich auf den Weg. Der Elfjährige weiß nicht, dass Karl sein Vater ist. Auch Gerónimo gab es wirklich. Als »Juan de Austria« wird er später in die Geschichtsbücher eingehen und u. a. Befehlshaber der spanischen Flotte sein. Aber auch das braucht man beim Lesen nicht zu wissen.
Ohne zu viel vom Buch zu verraten, ist es das schriftstellerische Können Geigers, wie er Figuren, Dinge und Tiere der Rahmenhandlung im Traum auftauchen lässt – bis hin zum Todesmoment. All dies verleitet dazu, das Buch gleich ein zweites Mal zu lesen, um noch mehr dieser Verknüpfungen zu entdecken.
Nur dass die Reise etwas zu lange in einem Gasthof unterbrochen wird, mag seltsam erscheinen. Leider ist dieser Ort durch Serien und Filme zum Klischee verkommen und unweigerlich hat man Bilder wie das »Tänzelnde Pony« aus »Der Herr der Ringe« im Kopf. Geiger spielt nur bedingt mit diesen Klischees, und ob die aufgesagten Kalenderweisheiten einiger Figuren ironisch gemeint sein sollen, will man nicht so recht erkennen. Aber darüber kann man hinwegsehen.
Im Traum ist vieles möglich. Daher erstaunt es, dass einige Rezensenten gar nicht darauf eingehen oder dass Phillip Tingler im Literarischen Quartett bemängelt, dass der elfjährige Gerónimo spreche »wie ein 28-jähriger Beichtvater«. Warum sollte er das im Traum nicht können? Genauso werden dort Fabelwesen aus Teppichmotiven lebendig.
Gern folgt man der Reisegruppe, die bald etwas größer sein wird, und selbst wenn es eine Reise zum Tod wird, folgt man ihr mit einem guten Lesegefühl und vielen Fragen, die wir dem zurückgetretenen König in uns selbst stellen können.
Wolfgang Tischer
Am 25. September 2024 stellte Arno Geiger den Roman im Literaturhaus Hannover vor. Isa Tschierschke war dabei, und hier lesen Sie ihren Bericht »
Arno Geiger: Reise nach Laredo: Roman. Gebundene Ausgabe. 2024. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG. ISBN/EAN: 9783446281189. 26,00 € » Bestellen bei amazon.de Anzeige oder im Buchhandel
Arno Geiger: Reise nach Laredo: Roman. Kindle Ausgabe. 2024. Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG. 19,99 € » Herunterladen bei amazon.de Anzeige